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Wieder fällt Schwarzer Regen

Hiroshima und Fukushima verschmelzen in Japans Atomdebatte

Von Daniel Kestenholz *

Mit großen Augen blickten die Schulkinder von Yabuki zu Masamoto Nasu auf, dem Kinderbuchautor, der Hiroshima überlebte. Nasu, heute 69 Jahre alt, ist ein »Hibakusha«, einer der Überlebenden der Atombombe, die vor 66 Jahren auf Hiroshima abgeworfen wurde.

Am 6. August 1945 hatte der US-Bomber Enola Gay die Bombe in 9450 Meter Höhe ausgeklinkt. Um 8.16 Uhr detonierte sie in 580 Meter Höhe. 43 Sekunden später hatte die Druckwelle 80 Prozent der Innenstadtfläche dem Erdboden gleich gemacht. Binnen vier Monaten nach dem Angriff waren in Hiroshima 136 000 Menschen ums Leben gekommen; in Nagasaki, das drei Tage später von einer weiteren Bombe getroffen wurde, waren es 64 000. Und bis heute sterben Menschen an den Langzeitfolgen.

Masamoto Nasu blieb unverletzt. Er wurde zu einem Botschafter der internationalen Friedensstadt Hiroshima und zum Missionar der pazifistischen Verfassung Japans. Den Kindern der Nakahata-Grundschule in Yabuki sagte er unlängst: »Mich traf die Atombombe, als ich drei Jahre alt war. Doch ich bin noch immer am Leben und gesund.« Der Schriftsteller ist seit dem Atomunglück von Fukushima ein gefragter Redner im Land – weil er Hoffnung gibt. Die Schule von Yabuki liegt rund 50 Kilometer vom Unglückskraftwerk Fukushima Daiichi entfernt, in unmittelbarer Nachbarschaft der Evakuierungszone, wo Behörden jeweils oberste Erdschichten abtragen, wenn wieder zu hohe Strahlungswerte gemessen werden.

Gewiss, in ihrem Ausmaß und in ihrer Geschichte sind die Katastrophen von Hiroshima, Nagasaki und Fukushima unvergleichbar. Und doch werden sie gerade in diesen Tagen oft im gleichen Atemzug genannt.

Selbst viele der als verschwiegen und zurückhaltend geltenden Bewohner der Region um Fukushima schlossen sich am Sonntag vor dem Hiroshima-Jahrestag einer Demonstration an, zu der Japans Kongress gegen Atom- und Wasserstoffbomben aufgerufen hatte. In Fukushima, rund 50 Kilometer vom gleichnamigen Unglückskraftwerk entfernt gelegen, machten rund 1700 Japaner ihre Forderung deutlich: »Schafft alle Atomkraftwerke ab!« und »Gebt uns das nicht verstrahlte Fukushima zurück!« Darunter waren Menschen, die ihre Arbeit und ihren Lebensstandard den Reaktoren von Fukushima Daiichi zu verdanken hatten. Einige hatten allerdings eben wegen der Atomkatastrophe ihre Häuser in der Umgebung des Kraftwerks verlassen müssen.

Es war überhaupt das erste Mal, dass Hiroshima-Aktivisten einen Protest in dieser von der Nuklearindustrie einst geförderten Region wagten. »Wir haben uns immer auf die Forderung nach Abschaffung von Atomwaffen konzentriert und unsere Kampagne gegen Atomkraftwerke vernachlässigt«, sagte Koichi Kawano, der Vorsitzende des Kongresses, selbst ein Überlebender des Atombombenabwurfs auf Nagasaki. Spätestens jetzt sei es Zeit. sich von der Atomenergie abzuwenden.

Ein anderer »Hibakusha«, Keiji Nakazawa, hat sich als Autor von Manga-Comics einen Namen gemacht. Nakazawa war als Sechsjähriger auf dem Weg zur Schule in Hiroshima. Er duckte sich hinter einer Mauer, als die Bombe detonierte und tausende Leben auslöschte. Er sah Menschen, die wie Gespenster mit den Händen vor den Augen durch eine verbrannte Welt taumelten. Andere wälzten sich am Boden, um ihre versengten Körper abzukühlen. Seine Mutter gebar am gleichen Tag seine Schwester, die vier Monate später an Unterernährung starb.

Das Katastrophengebiet von Fukushima ist weder Hiroshima II noch eine versengte Kriegszone. Doch die alte, heile Welt der sanften Hügel und der üppigen Natur wurde zwangsevakuiert. Die Zeit scheint dort stillzustehen. Wilde Kühe streunen umher, Unkraut schluckt einst schmucke Gärten. Was der Mensch stets pflegte, verlottert. Und Schwarzer Regen fällt – Kuroi ame. Das Wort meint jenen Niederschlag, der nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki fiel. Zwar ist der Schwarze Regen von Fukushima durchsichtig, doch giftig, wie viele fürchten. Noch 70 Kilometer vom Unglückskraftwerk entfernt wurden in Heu Cäsiumwerte gemessen, die denen von Tschernobyl vergleichbar sind.

Nichts habe sich seit der Ära der Atombomben geändert, meint Keiji Nakazawa. Man dürfe sich nicht auf das Atom verlassen, das man nicht beherrschen könne. Das japanische Volk müsse sich entscheiden.

* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2011


Nippons Zweifel am »gebändigten Atom«

Der GAU bewirkt früher Unvorstellbares **

Japans Strategie, auf das »gebändigte Atom« zu setzen, das für rund ein Drittel der nationalen Stromproduktion sorgte, schien nie in Frage gestellt. Erst Fukushima hat die alte Ordnung auf den Kopf gestellt.

Bei der Vergabe eines Literaturpreises in Barcelona warnte Haruki Murakami, einer der einflussreichsten japanischen Autoren der Gegenwart: »Japaner sind äußerst geduldige Menschen und nicht gut im Wütendsein. Jetzt aber werden sie sehr wütend.« Murakami ging mit Japans »Technologiemythos« hart ins Gericht. Gerade das Japan von Hiroshima »hätte immer nein sagen müssen zu Atomenergie«.

Doch in der Verkleidung wirtschaftlichen Segens hatte das scheinbar gezähmte Atom seinen Schrecken verloren. Der GAU von Fukushima könnte ein Wendepunkt sein. Selbst die konservative Opposition der Liberaldemokraten geht auf Distanz zur Atomlobby, für die sie bislang so standhaft eintrat. Und Ministerpräsident Naoto Kan, so umstritten er sein mag, wagte es, Japans Abhängigkeit von Atomenergie in Frage zu stellen. Gerade erst platzte ihm wieder der Kragen, weil die Behörde für Nukleare Sicherheit NISA öffentlich für Atomkraftwerke werben ließ – eben jene Kontrollbehörde, die die Sicherheit der Anlagen zu verbürgen hat.

Früher unvorstellbare Umwälzungen sind in Gang. Japaner organisieren sich mittels Facebook gegen Atomkraft. Zulauf erhalten die Gruppen durch verängstigte Konsumenten, die Lebensmittel wie Gemüse, Fleisch und Fisch meiden – aus Angst vor Verstrahlung. Bürger kaufen eigene Geigerzähler, weil sie den offiziellen Messwerten nicht trauen. Und die Japaner zeigen sich bereit, auf Komfort zu verzichten: Stromsparen ist zur nationalen Bewegung geworden, und dies während der schwülen Sommermonate, wenn Klimaanlagen sonst für Rekordverbrauch sorgen. Tokio hat diesen Sommer bisher 23 Prozent weniger Strom verbraucht als im Vorjahr. Selbst der Kaiser und die Kaiserin, hieß es aus dem Palast, hätten schon einen Abend bei Kerzenlicht und mit der Taschenlampe verbracht.

Eröffnet Fukushima gar eine neue Zukunft? Panasonic und Sharp wollen gemeinsam Häuser mit Solarzellen entwickeln, die ausreichend Energie produzieren und überschüssigen Strom ins Netz einspeisen. Wirtschaftsführer investieren in erneuerbare Energien.

Derweil ergaben jüngste Messungen in den Reaktorgebäuden des Katastrophen-AKW Rekordwerte. Betreiber Tepco aber beschwichtigt: Die Umgebungswerte seien stabil, die Sicherung der Anlagen gehe planmäßig voran. D.K.

** Aus: Neues Deutschland, 6. August 2011


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