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Japan havariert

16 Konjunkturprogramme in 17 Jahren: Wirtschaft des Landes versinkt in Strudel aus Rezession, Massenentlassungen, Pleiten und extremer Staatsverschuldung

Von Raoul Rigault *

In Japan glaubte man bis vor kurzem, zu den Gewinnern der globalen Finanzkrise zu gehören. Waren doch einheimische Banken relativ gering in die Spekulationsgeschäfte von Wall Street und Londoner City verwickelt. Nachdem der Abschwung dann nicht mehr zu leugnen war, versprach Ministerpräsident Taro Aso umgehend, ausgerechnet das exportabhängige Japan als erstes Land aus der weltweiten Rezession zu führen. Nicht sein einziger Trugschluß, wie die Fakten der zurückliegenden Tage zeigen.

Da mußte die immer noch zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt für das letzten Quartal des vergangenen Jahres einen Konjunktureinbruch von 3,2 Prozent eingestehen – so stark war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 1974 nicht mehr gesunken. Entscheidenden Anteil daran hat der dramatische Rückgang der Exporte um 46,3 Prozent – ein seit mehr als 40 Jahren nicht mehr erreichter Wert. Obwohl, bedingt durch die schwache Binnennachfrage und den niedrigen Ölpreis, auch die Importe um 31,7 Prozent schrumpften, stieg das Handelsbilanzdefizit. Am härtesten betroffen waren die wichtigsten Industriezweige. So gaben die Ausfuhren der Autobauer um 66,1 und die der Halbleiterindustrie um 52,8 Prozent nach. Auch die Einkünfte aus dem Kapitalexport sanken um 31,5 Prozent auf umgerechnet acht Milliarden Euro. Gründe dafür sind die niedrigeren Zinsen im Ausland sowie der stark aufgewertete Yen. Das bescherte dem Land der aufgehenden Sonne erstmals seit 13 Jahren eine negative Leistungsbilanz von umgerechnet 1,4 Milliarden Euro.

»Dies ist die größte Wirtschaftskrise seit dem Krieg«, gestand Wirtschafts- und Finanzminister Kaoru Yosano inzwischen ein. Die führende englischsprachige Tageszeitung The Japan Times sprach sogar von »der schlimmsten Krise seit einem Jahrhundert«. v Längst sehen Riesenkonzerne wie Sony, Toyota oder Toshiba im internationalen Vergleich nicht mehr wie Sieger aus. Toshiba erwartet im Ende März ablaufenden Geschäftsjahr einen Verlust von 280 Milliarden Yen (2,4 Milliarden Euro), die ersten roten Zahlen seit 2002. Konkurrent Sony hat ein Minus von etwa 150 Milliarden Yen (rund 1,3 Milliarden Euro) angekündigt. Panasonic sagen Analysten einen Jahresverlust von 100 Milliarden Yen voraus. Die Elektronikriesen sind von der Krise in doppelter Hinsicht betroffen. Einerseits verzeichnen sie einen massiven Absatzeinbruch, und andererseits leiden sie unter der Stärke des Yen, die ihre Exporte in den Dollarraum im zurückliegenden Quartal um 18 und in die Eurozone binnen zwölf Monaten um 30 Prozent verteuert hatte. Sony will daher bis April 2010 die Produktionskosten um nicht weniger als 250 Milliarden Yen drücken. Dazu sollen 16000 Arbeitsplätze vernichtet werden. Toshiba plant gar ein Kürzungsprogramm im Volumen von 300 Milliarden Yen, wobei in Forschung und Entwicklung 20 und für Investitionen 50 Prozent weniger ausgegeben werden sollen. Daß dies die Stellung auf dem Weltmarkt langfristig verbessert, darf bezweifelt werden.

Nicht zu unterschätzen sind die sozialen Auswirkungen der erneuten Verwerfungen. Bereits im Dezember erhöhte sich die offizielle Arbeitslosenrate um 0,5 auf 4,4 Prozent. Betroffen sind davon vor allem prekär Beschäftigte. Dem Arbeitsministerium zufolge wird bis Ende März die Zahl der seit Oktober infolge der einsetzenden Rezession entlassenen »nicht regulären« Arbeitskräfte auf 125000 steigen. Der Verband der privaten Arbeitsvermittler rechnet sogar mit gut 400000. Dem offiziellen Weißbuch Arbeit und Wirtschaft ist zu entnehmen, daß es keineswegs um ein Randphänomen geht. Der Anteil der Prekären stieg im Dienstleistungssektor von 1992 bis 2007 von 24,6 auf 39,3 Prozent und im produzierenden Gewerbe von 17,7 auf 22,9 Prozent.

Die Japan Times wies am 23. Februar darauf hin, daß das gegenwärtige Sozialsystem »diesen nicht regulären Arbeitern keine adäquate soziale Sicherheit liefert. Für diejenigen, die weniger als dreiviertel der regulären Arbeitzeit arbeiten, ist keine Mitgliedschaft in einer Kranken- oder Rentenversicherung vorgeschrieben«. Auch die Arbeitslosenversicherung erstreckt sich nicht auf jene, die weniger als 20 Stunden die Woche arbeiten oder bei denen die Beschäftigung weniger als ein Jahr dauert. Bereits jetzt nehmen die Zeltstädte der wohnungslosen »working poor« im Tokioter Hibiya-Park und anderswo beunruhigende Ausmaße an.

Die Regierung agiert hilflos. Derzeit wird am 16. Konjunkturprogramm in 17 Jahren gearbeitet. Nach Medienberichten will Premier Aso bis zu 20 Billionen Yen (160 Milliarden Euro) zusätzlich ausgeben und durch neue Schulden finanzieren. Dabei ist das Land mit einer Staatsverschuldung von mindestens 170 Prozent des BIP unter den Industrienationen einsamer Spitzenreiter ist.

Allein seit dem Herbst hat Tokio zusätzliche Staatsausgaben von zwölf Billionen Yen sowie Kreditgarantien von gut 63 Billionen Yen beschlossen, um der Krise zu begegnen. Das »Highlight« sind dabei unbestritten die 12000 Yen (97 Euro) für Erwerbsfähige bzw. 20000 Yen (161 Euro) für Kinder und Alte, die in den kommenden Wochen pro Kopf auf Antrag hin ausgezahlt werden sollen – um den Binnenkonsum anzukurbeln. Zwei Billionen Yen (rund 16 Milliarden Euro) oder 0,4 Prozent des BIP wird die Aktion kosten, in der die Opposition ein plumpes Wahlgeschenk sieht, um die ewige Regierungspartei LDP aus dem Umfragentief zu hieven.

* Aus: junge Welt, 28. März 2009


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