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Japans Dilemma

Gigantische Staatsverschuldung zum Wohle der Konzerne provoziert Yen-Aufwertung. Drittgrößte Volkswirtschaft der Welt bleibt ein Dauerpatient

Von Raoul Rigault *

Einige Monate lang schien Japan seine lange Rezession überwunden zu haben. Nach einer Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 1,2 Prozent 2008 und 5,2 im letzten Jahr hatte die Wirtschaft im ersten Quartal ein Plus von 4,4 Prozent verzeichnet. Noch Ende Juli prognostizierten die Analysten der Investmentbank Nomura für 2010 ein Wachstum von 3,3 Prozent. Doch das war Wunschdenken. Im zweiten Quartal herrschte mit nur noch 0,4 Prozent Zuwachs im 12-Monatsvergleich bereits wieder die alte Malaise. Am Montag zog man – wieder einmal – die Notbremse: Die japanische Zentralbank will durch eine weitere Lockerung der Geldpolitik die Stärke des Yen mindern und damit der exportorientierten Wirtschaft aufhelfen.

Hauptgründe für die wirtschaftliche Stagnation waren neben dem Rückgang der öffentlichen Investitionen um 3,4 Prozent sowie der Stagnation des Privatkonsums ein Einbruch der Exportwirtschaft.

Der private Verbrauch leidet unter der anhaltend schlechten Arbeitsmarktlage, sinkenden Realeinkommen, ungebremster Deflation. Zudem laufen die Konjunkturprogramme der Regierung aus. Die Verbraucherpreise (frische Nahrungsmittel ausgenommen) sanken im Juni erneut um ein Prozent. Die Regierung hatte versucht, dem mit »Öko-Punkten«, das heißt einer Abwrackprämie für Fernseher, Kühlschränke und Klimaanlagen, entgegenzuwirken. Doch die so ausgelöste relative Belebung ist mittlerweile verebbt.

Noch problematischer ist die Lage der Exportindustrie. Die sollte eigentlich als Rettungsanker fungieren, denn fast die Hälfte der Ausfuhren gehen ins boomende China und die asiatischen Tigerstaaten. Nach einem kurzen Zwischenhoch mit einer Steigerung um 27 Prozent im Juni gerät auch dieser Stützpfeiler unter Druck. Gegenüber dem US-Dollar hat Japans Währung den höchsten Stand seit 15 Jahren erreicht. In Europa ist sie mit 105 Yen für einen Euro so kostspielig wie seit 2001 nicht mehr. Das verteuert nicht nur Ausfuhren, sondern schmälert auch die Gewinne bei der Rückführung ins Mutterland.

Verantwortlich ist das Staatsdefizit des größten Schuldners der Welt. Vorsichtigen Schätzungen zufolge beläuft es sich auf gut 200 Prozent des BIP und lockt zunehmend ausländische Investoren als Käufer der Staatsanleihen an. Trotz gewaltiger Schulden gilt Nippon in Krisenzeiten als »sicherer Hafen«, da das Land nach China auch weltweit zweitgrößter Gläubiger ist, über Devisenreserven von 990,5 Milliarden Dollar verfügt und wegen seiner Exportüberschüsse (in den ersten sechs Monaten: 31,5 Milliarden Euro) »weniger abhängig von ausländischem Kapital ist«, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung anerkennend vermerkte. Bislang befinden sich nämlich 90 bis 95 Prozent der Schuldverschreibungen in inländischer Hand. Rund die Hälfte davon werden von der Regierung kontrolliert, so daß Erpressungen und Spekulationsattacken wie in Griechenland bislang ausgeschlossen sind.

Auch hier droht sich das Blatt zu wenden. 2009 mußten die Pensionsfonds, um die Renten zahlen zu können, erstmals netto mehr Staatsanleihen verkaufen, als sie erwarben. Ausländische Kapitalgeber füllten die Lücke. Knapp ein Viertel der 130 Millionen Bürger sind älter als 65, und in zwei Jahren gehen auch die acht Millionen Japaner der geburtenstarken Jahrgänge 1947 bis 1949 in Rente. Obendrein ist die private Sparquote seit 1992 von 14,7 auf 2,4 Prozent gefallen. Zwei bis drei Jahre sei die jetzige Schuldenpolitik noch durchzuhalten, meinen viele Ökonomen, dann würde die Abschottung vom globalen Finanzmarkt fallen.

Mit gut 70 Prozent ist die Kapazitätsauslastung in der Industrie noch immer gering. Die Erwerbslosenrate nahm saisonbereinigt um 0,1 auf für Japan unerträgliche 5,3 Prozent zu. Vor Krisenbeginn 2007 waren es 3,9 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 11,1 Prozent gar die schlimmste der Geschichte. Trotzdem sehen, laut einer Umfrage des Finanzministeriums, viele Unternehmen noch einen »Personalüberhang«, und Konzerne lagern Produktion in Billiglohnstaaten aus.

Bei den Arbeitern und Angestellten löst sich die Sicherheit der »lebenslangen Betriebszugehörigkeit« schrittweise in Luft auf. Beliebteste Methode des Lohn- und Sozialabbaus ist der Weg über den Generationswechsel in den Betrieben. Mehr als ein Drittel der jüngeren Beschäftigten arbeitet, laut einer Untersuchung des zuständigen Ministeriums, inzwischen in prekären Verhältnissen. Der nationale Mindestlohn, den viele von ihnen beziehen, wurde soeben um armselige 15 auf 728 Yen (6,73 Euro) pro Stunde angehoben. Der KP-nahe Gewerkschaftsbund Zenroren hatte 1000 Yen (9,25 Euro) gefordert. Da die Untergrenze damit in zwölf Präfekturen (darunter Tokio, Osaka, Kyoto und Hokkaido) noch unter der kurzfristig gezahlten Arbeitslosenhilfe liegt, soll es dort nun zehn Yen mehr geben. Einer Zenroren-Studie zufolge benötigt ein Arbeiter in der Hauptstadt jedoch mindestens 230000 Yen (2127,80 Euro) im Monat, um den Mindestlebensstandard zu halten. Statt dessen müssen nun jedoch auch die Älteren den Gürtel enger schnallen. Am 10. August empfahl die Nationale Personalbehörde dem Kabinett das zweite Jahr in Folge eine Senkung der Gehälter der Regierungsangestellten ab 55 Jahren um 1,5 Prozent, da Gleichaltrige in der Privatwirtschaft weniger verdienten.

Beide Trends sind – wie die Staatsverschuldung – Teil der massiven Umverteilung des vorhandenen Reichtums. Allein in den zehn Jahren von 1997 bis 2007 wuchsen die internen Reserven der wichtigsten Konzerne laut einer Erhebung der KP-Tageszeitung Akahata von 142 auf 229 Billionen Yen (von 1314 auf 2118,5 Milliarden Euro), während die Einkommen der Beschäftigten im selben Zeitraum von 279 auf 253 Billionen Yen (2581 auf 2340,6 Milliarden Euro) sanken. Nach Angaben der Japan Times schütteten die 1300 größten an der Tokioter Börse notierten Gesellschaften für das im März 2010 endende zweite (Krisen-)Geschäftshalbjahr 2009 drei Billionen Yen (27,75 Milliarden Euro) an Dividenden aus.

* Aus: junge Welt, 31. August 2010


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