Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Japans Premier setzt aufs Militär

Neuauslegung der pazifistischen Verfassung soll Auslandseinsätze ermöglichen und stößt auf Kritik

Von Susanne Steffen, Tokio *

Tokios konservative Regierung will künftig Auslandseinsätze der japanischen Armee möglich machen. Die Bevölkerung ist gespalten, China kritisiert die Entscheidung.

Historischer Umschwung in Japans Verteidigungspolitik: Ministerpräsident Shinzo Abe hat per Kabinettsbeschluss die Interpretation der pazifistischen Nachkriegsverfassung geändert. Das Land soll künftig das Recht auf kollektive Selbstverteidigung ausüben dürfen. Damit werden auch international legitimierte Auslandseinsätze möglich. Während Bündnispartner USA jubelt, dürfte der Schritt das ohnehin sehr angespannte Verhältnis zum Nachbarn China weiter verschlechtern.

Diese Neuinterpretation ist die bislang tiefgreifendste Änderung der japanischen Sicherheitspolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Verfassung verbietet den Einsatz von militärischer Gewalt zur Lösung von Konflikten, außer im Falle der Selbstverteidigung. Seit Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg waren seine Truppen nicht mehr in Kampfhandlungen verwickelt. Die bisherige Verfassungsinterpretation ließ auch bei UNO-Friedenseinsätzen nicht viel mehr als Hilfseinsätze außerhalb der Kampfzonen zu.

Zum ersten Mal seit Gründung der Selbstverteidigungskräfte vor genau 60 Jahren soll die neue Sichtweise jetzt den Einsatz japanischer Truppen erlauben, um befreundete Staaten bei einem Angriff zu verteidigen. Japan werde sich aber »niemals in einen Krieg verwickeln lassen, nur um ein anderes Land zu beschützen«, betonte Abe am Dienstag auf einer Pressekonferenz im Anschluss an den Kabinettsbeschluss. Und die »Tatsache, dass wir uns bestmöglich wappnen, ist Abschreckung«.

Die USA, die Tokio schon seit längerem drängen, eine aktivere Rolle in der bilateralen Sicherheitsallianz einzunehmen, begrüßten Abes Schritt. Nachbar China verurteilte die Neuinterpretation dagegen. Wie die Regierung in Peking, die sich mit Japan einen erbitterten Territorialstreit um eine unbewohnte Inselkette in ressourcenreichen Gewässern liefert, erklärte, lasse Tokios neue Haltung am Bekenntnis zu friedlicher Entwicklung zweifeln. »Wir verurteilen Japans Versuch, die chinesische Bedrohung aufzubauschen, um seine innenpolitische Agenda voranzutreiben«, erklärte ein Sprecher des Pekinger Außenministeriums.

Seit seinem Amtsantritt 2012 macht sich Abe stark für eine Änderung des Pazifismus-Artikels. Japan müsse sich auf die veränderte Sicherheitslage in der Region einstellen. Die Bevölkerung ist aber gespalten. In einer Umfrage des öffentlich-rechtlichen Senders NHK Anfang Juni waren jeweils 26 Prozent entschieden für bzw. gegen das Recht auf kollektive Selbstverteidigung. 41 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten noch keine feste Meinung. In den vergangenen Tagen waren Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den geplanten Kabinettsentscheid zu protestieren. Am Sonntag hatte ein Mann im Tokioter Zentrum aus Protest versucht, sich zu verbrennen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 2. Juli 2014


Abschied vom Pazifismus

Olaf Standke über die angestrebte Remilitarisierung Japans **

Von einer historischen Zäsur ist die Rede. Schon lange war die »pazifistische« Nachkriegsverfassung seines Landes Shinzo Abe ein Dorn im Auge. Denn dort wurde der Verzicht auf jegliche »Androhung oder Anwendung von Gewalt zur Lösung internationaler Konflikte« festgeschrieben. Doch dieses Friedensgebot stört die nationalistisch grundierte Außenpolitik des rechtskonservativen japanischen Ministerpräsidenten. Vor einigen Monaten schon hat er das darauf fußende Verbot für Waffenexporte gekippt, nun soll mit dem Recht auf »kollektive Selbstverteidigung« der Remilitarisierung Nippons Tür und Tor geöffnet werden.

Wenn die längst hochmodernen Streitkräfte auch ohne Angriff gegen Japan künftig Verbündeten militärisch zur Hilfe eilen dürfen und so in internationale Konflikte hineingezogen werden könnten, ist das für Kritiker nur der Anfang – zumal angesichts diverser territorialer Streitigkeiten und wachsender Spannungen in Ostasien. Dabei umschifft Abe die im Volke nach wie vor unpopuläre Änderung des Verfassungsartikels 9 und lässt den Wortlaut einfach neu auslegen. Der Protest reicht bis hin zur versuchten Selbstverbrennung. Und Nachbarn wie China oder Südkorea reagieren mit größter Besorgnis. Dort sind die Gräueltaten japanischen Besatzer auch sieben Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 2. Juli 2014 (Kommentar)

Lesen Sie auch:

Der Kampf um Artikel 9 der japanischen Verfassung
Von Tadaaki Kawata




Zurück zur Japan-Seite

Zur Japan-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage