Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Weichenstellung für bewaffnete Interventionen? Kurswechsel in der japanischen Sicherheitspolitik

Ein Beitrag von Jürgen Hanefeld in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Joachim Hagen (Moderator):
Einen ähnlichen Traum wie der türkische Noch-Ministerpräsident Erdogan hegt auch sein japanischer Kollege Abe. Auch er will den Rüstungsexport seines Landes ausbauen. Allerdings hat Abe dabei ein Problem: In Japan hat der Pazifismus, also das Gebot auf militärische Gewalt zu verzichten, Verfassungsrang. Aber davon will sich Abe nicht länger behindern lassen. Die Hintergründe beleuchtet Jürgen Hanefeld.


Jürgen Hanefeld

Auch in diesem Jahr war die Pariser Waffenschau "Eurosatory" ein voller Erfolg. "Mission completed" meldeten die Veranstalter der Messe für Militärtechnik, Mission erfüllt. Zu den mehr als 1.500 Ausstellern gehörten erstmals auch zwölf japanische Firmen. Im Werbevideo, das mit martialischen Klängen unterlegt ist, prangt nach wenigen Sekunden der Schriftzug "Mitsubishi Heavy Industries" - wahrlich ein Schwergewicht.

Zehn Wochen vor der Ausstellung im Juni hatte die Regierung in Tokio das fast 40 Jahre geltende Verbot von Waffenexporten aufgehoben, zwei Wochen danach das historische Pazifismusgebot in der Verfassung außer Kraft gesetzt. Artikel 9 erlaubt den Einsatz militärischer Gewalt nur für den Fall, dass Japan direkt angegriffen wird. Dies hatte die Siegermacht USA den Japanern nach dem Zweiten Weltkrieg in die Feder diktiert. Gegen das Versprechen, ihr Land im Konfliktfall unter den Schutz der USA zu stellen, wurden den Japanern nur so genannte "Selbstverteidigungskräfte" zugebilligt. In andere Konflikte einzugreifen, war nicht erlaubt. Aber das gilt nun nicht mehr. Kein Grund zur Unruhe, beteuert der prominente Militäranalyst Professor Kazuhisa Ogawa. Fast 70 Jahre nach der Kapitulation sei Japan nun endlich auf dem Weg, ein ganz "normales Land" zu werden.

O-Ton Ogawa (overvoice)
„Japans Pazifismus ist ja nur oberflächlich. Wenn man den Geist der Verfassung richtig versteht, dann weiß man, dass Japan zum Frieden in der Welt beitragen sollte. Dazu gehört das Recht auf kollektive Selbstverteidigung, also Verbündeten auch dann zu Hilfe kommen zu dürfen, wenn man selbst nicht angegriffen wird. Das ist ähnlich wie bei der deutschen Bundeswehr, die ja auch im Bündnis mit den USA handelt. Premierminister Abe will Japan nur in ein ganz normales Land mit einer ganz normalen Armee verwandeln.“

So normal das alles klingt, es regt sich heftiger Widerstand gegen die Politik des Regierungschefs. Umfragen zufolge lehnt eine klare Mehrheit der Japaner den Kurswechsel der Regierung ab. In der öffentlichen Debatte gibt es zwei Argumentationsketten, die ineinandergreifen. Der pragmatische Ansatz lautet: Soll Japans Militär auch in Konflikte eingreifen, von denen Japan selbst nicht betroffen ist, aber vielleicht ein Verbündeter? Statt individueller Selbstverteidigung, die schon immer erlaubt war, künftig also auch kollektive Selbstverteidigung. Die zweite Argumentationskette betrifft die Rechtsgrundlage. Darf der berühmte Artikel 9, in dem Japan - so wörtlich - für alle Zeiten auf Krieg und Gewalt verzichtet, um internationale Konflikte zu lösen - darf dieser Artikel politischer Opportunität geopfert werden? Professor Jiro Yamaguchi, Politologe und Jurist, ist empört:

O-Ton Yamaguchi (overvoice)
„Abe hat Artikel 9 praktisch in die Mülltonne geworfen. Das Pazifismusgebot, also das Versprechen Japans, nie wieder Krieg zu führen, war ja die Voraussetzung dafür, dass Japan in die internationale Gemeinschaft zurückkehren durfte. Und dieses Versprechen ist jetzt aufgehoben!“

Und zwar per Dekret. Denn in Japan gibt es kein Verfassungsgericht, das die Verfassung vor der Regierung schützen könnte. Also steht es dem Premierminister frei, Artikel 9 ungestraft neu zu interpretieren, nach dem Motto: Schwarz ist jetzt Weiß! Der Zweck heiligt die Mittel, denn die regelgerechte Änderung der Verfassung hätte eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments erfordert und danach auch noch eine Volksabstimmung. Das hat Abe gar nicht erst versucht, weil er weiß, dass er auf diesem Wege scheitern würde, meint der Politikwissenschaftler Ken Jimbo:

O-Ton Jimbo (overvoice)
„Es ist sehr schwierig, die japanische Verfassung auf parlamentarische Weise zu ändern. Wir haben keine Zeit, darüber zehn Jahre zu diskutieren, denn die Sicherheitslage ändert sich von Tag zu Tag. China wird immer stärker, und der Schutz Japans durch die USA nimmt im Vergleich dazu ab. Das bedeutet, Abe muss die militärstrategischen Beziehungen neu knüpfen - nicht nur mit den USA, auch mit Australien, Indien und Südostasien, mit der NATO und der EU und sogar mit Russland.“

"Proaktiven Pazifismus" nennt der Regierungschef diese Politik. Doch nicht alle Fachleute halten die Bedrohung durch China für den eigentlichen Grund Japans, militärische Bündnisse einzugehen. Eher für einen willkommenen Vorwand, meint der Analyst Ogawa.

O-Ton Ogawa (overvoice)
„Ich bin seit 27 Jahren mit den militärischen Führern Chinas in Kontakt und kann sagen: Sie wollen keinen Weltkrieg. Sie wissen, dass ein ernster Konflikt mit Japan und den USA etwa um die Senkaku-Inseln einen Krieg auslösen könnte. Dann würde das internationale Kapital sofort aus China abziehen. Das werden sie nicht riskieren. Deswegen sind die chinesischen Boote und Flugzeuge in dieser Region nicht bewaffnet. Sie sollen dem eigenen Publikum Stärke demonstrieren, aber keinen Krieg auslösen.“

Wenn es also nicht die akute Bedrohungslage ist, die Japans Regierung zur Abkehr vom Pazifismus treibt, was ist es dann? Ein Motiv ist der lukrative Markt für Kriegswaffen. Japanische U-Boote gelten als die modernsten, konventionell angetriebenen der Welt, dasselbe gilt für Flugzeugträger und Luftabwehrraketen. Weil der eigene Markt klein ist, sind die Stückzahlen niedrig und die Waffensysteme entsprechend teuer. Das wird sich ändern, wenn Japan jetzt ins weltweite Waffengeschäft einsteigt. Japans eigenes Militärbudget, das übrigens - ebenso wie das deutsche - regelmäßig unter den ersten zehn in der Weltstatistik rangiert - würde entlastet und könnte für weitere Waffensysteme verwendet werden. Eine schleichende Aufrüstung, die auch am aktuellen Fünfjahresplan ablesbar ist. Gemessen an den exorbitanten Rüstungsausgaben Chinas mögen Zuwächse von 5 Prozent bescheiden aussehen. Aber über China, der Nummer 2 in der Welt, thronen noch immer mit weitem Abstand die USA. Sie können allerdings für den Schutz ihrer pazifischen Alliierten nicht mehr alleine aufkommen. Deswegen unterstützen die Amerikaner die japanische Regierung dabei, die von ihnen selbst geschriebene Friedensverfassung aus den Angeln zu heben.

Da Artikel 9 nicht geändert, sondern nur ignoriert wird, beschließt das Kabinett künftig allein, ob der Bündnisfall eingetreten ist. Nicht einmal das Parlament muss gefragt werden. Das bedeutet einen bedeutenden Machtzuwachs für Regierungschef Shinzo Abe. Der ist bekanntermaßen ein Nationalist, der Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg noch heute als Schande empfindet und von einem wieder erstarkten Japan träumt. Jiro Yamaguchi macht sich ernste Sorgen:

O-Ton Yamaguchi (overvoice)
„Die politische Konstellation in Japan ähnelt der Deutschlands am Ende der Weimarer Republik. Der Premierminister versucht, alle Macht in seine Hände zu bekommen. Das läuft auf die Zerstörung der Demokratie hinaus. Ich glaube, Japans Demokratie ist zum ersten Mal seit dem Krieg in einer ernsten Krise. Dass wir Shinzo Abe zum Premierminister haben, ist ein großes Unglück.“

Den neuesten Flugzeugträger, der offiziell als "Hubschrauber-Zerstörer" bezeichnet wird, taufte Abe auf den Namen "Izumo". Genau so hieß ein japanischer Panzerkreuzer, den die Amerikaner 1945 versenkten.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 9. August 2014; www.ndr.de/info


Zurück zur Japan-Seite

Zur Japan-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage