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Japanisches Unterhaus sagt: Bye, bye Pazifismus

Zehntausende Japaner protestieren gegen Reform, die erstmals Kampfeinsätze im Ausland erlaubt / China droht *

Stoppt die Faschisten!» Tausende Japaner protestieren gegen eine Reform, die erstmals Militäreinsätze im Ausland erlaubt. Das geht gegen ihren Pazifismus und verletzt ihrer Ansicht nach die Verfassung. Auch China protestiert - und droht.

Tokio. Erstmals seit Ende des zweiten Weltkriegs will Japan wieder Soldaten zu Kampfeinsätzen ins Ausland schicken. Das Unterhaus in Tokio stimmte am Donnerstag trotz massiver öffentlicher Proteste und eines Boykotts der Opposition für die umstrittene Militärreform. Diese bedeutet eine Neuinterpretation der pazifistischen japanischen Nachkriegsverfassung. Zehntausende Menschen demonstrierten im ganzen Land dagegen. China warnte Japan, dass dessen «beispielloser Schritt» zu einer «bedeutenden Änderung der Militär- und Sicherheitspolitik des Landes führen kann».

Die neue Militärdoktrin gestattet den sogenannten japanischen Selbstverteidigungskräften Kampfeinsätze im Ausland zur Unterstützung von Verbündeten und zur Beilegung internationaler Konflikte. Japanische Soldaten beteiligten sich zwar auch schon bisher an internationalen Einsätzen, aber beschränkten sich dabei auf humanitäre und logistische Hilfe.

«Die Regierung ist dafür verantwortlich, das Leben der Menschen und ein friedliches Umfeld in dieser immer schwierigeren Sicherheitssituation um unser Land sicherzustellen», sagte Regierungssprecher Yoshihide Suga am Donnerstag.

Japans konservativer Regierungschef Shinzo Abe bezeichnete die neue Militärdoktrin als unvermeidliche Antwort auf eine wachsende Militärmacht Chinas und neue Gefahren, denen Japan ausgesetzt sei. So sind etwa die Senkaku-Inseln (chinesisch Diaoyu) im Ostchinesischen Meer ein Zankapfel zwischen China und Japan. Als weitere Gefahr betrachtet Japan das Atom- und Raketenprogramm Nordkoreas. Japans Regierung kommt außerdem Wünschen des Bündnispartners USA entgegen.

China protestierte gegen die neue Rolle für Japans Militär

China protestierte gegen die neue Rolle für Japans Militär. Das werfe die berechtigte Frage auf, ob Japan seine defensive Haltung aufgeben und vom friedlichen Entwicklungsweg abweichen wolle, den es seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgt habe, sagte die Sprecherin des Außenministeriums Hua Chunying. 70 Jahre danach erinnerten sich viele Menschen an die Geschichte und hofften auf Frieden. «Wir fordern Japan ernsthaft auf, Lehren aus der Geschichte zu ziehen», sagte Hua Chunying.

Die Reform gilt als Neuinterpretation von Artikel 9 der pazifistischen japanischen Nachkriegsverfassung. Artikel 9 verbietet den Einsatz von Gewalt, Ausnahme ist Selbstverteidigung bei einem direkten Angriff auf Japan.

Die Militärreform ist in der Bevölkerung umstritten: Der Pazifismus ist tief verwurzelt, viele Japaner identifizieren sich mit der nach 1945 von der Besatzungsmacht USA ausgearbeiteten Verfassung. Tausende Menschen protestierten allein in Tokio. Sie befürchten, in internationale Konflikte hineingezogen zu werden.

Wie aus einer vor wenigen Tagen vom Sender NHK veröffentlichten Umfrage hervorgeht, lehnen 61 Prozent der Bevölkerung Abes Kurs ab. Eine große Mehrheit von Verfassungsexperten ist zudem der Ansicht, dass die Gesetze die Verfassung verletzen, wie die Tageszeitung «Asahi Shimbun» berichtete. Die Bevölkerung habe die Gesetze noch nicht ausreichend verstanden, sagte Abe vor der Abstimmung.

Die Gesetzgebung wurde mit den Stimmen der regierenden Liberaldemokraten (LDP) und ihrem Koalitionspartner Komeito gebilligt. Die oppositionelle Demokratische Partei und vier andere kleine Parteien boykottierten die Abstimmung. Das japanische Oberhaus muss binnen 60 Tagen abstimmen, eine Ablehnung könnte Abe mit einer Zweidrittelmehrheit im Unterhaus aufheben.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 16. Juli 2015


Japan macht mobil

Parlament in Tokio erlaubt Auslandseinsatz. Proteste gegen Militarisierung

Von Roland Zschächner **


Es ist eine Zäsur in der jüngsten Geschichte Japans. Am Donnerstag hat das Unterhaus in Tokio beschlossen, das Verbot von Kampfeinsätzen japanischer Soldaten im Ausland abzuschaffen. Dies war nach dem Zweiten Weltkrieg und unter Vorgaben der USA in der Verfassung des Landes ausdrücklich ausgeschlossen worden. Den japanischen Selbstverteidigungskräften war es bisher nur gestattet, bei direkten Angriffen auf den Inselstaat Gewalt anzuwenden. Nun muss das Oberhaus innerhalb von 60 Tagen dem Gesetzespaket zustimmen.

Japans Premierminister Shinzo Abe begründete die neue Militärdoktrin mit der Bedrohung durch China und die Demokratische Volksrepublik Korea. So erheben sowohl Peking als auch Tokio Ansprüche auf Inseln im Ostchinesischen Meer. Unterstützung erhält Abe von den USA. Japan soll nicht mehr nur Standort für US-Truppen sein, sondern aktiv in die Einkreisungspolitik gegen China eingebunden werden.

Die chinesische Regierung nannte das Vorgehen Japans »einen beispiellosen Schritt« sowie eine »bedeutende Änderung der Militär- und Sicherheitspolitik«. Peking warf Tokio laut Nachrichtenagentur AFP vor, »den Frieden und die Sicherheit in der Region zu stören«. »Wir fordern Japan ernsthaft auf, Lehren aus der Geschichte zu ziehen«, zitierte dpa eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums.

Bereits am Mittwoch gab es in Japan Proteste gegen die neue Militärdoktrin. Rund 60.000 Menschen hatten sich vor dem Parlament in Tokio versammelt. Als Demonstranten versuchten, in das Gebäude zu gelangen, kam es zu Rangeleien mit der Polizei. Anschließend wurden laut dpa zwei Männer im Alter zwischen 60 und 70 Jahren festgenommen. Auch in anderen Städten gab es Kundgebungen. Laut einer Umfrage des öffentlich-rechtlichen Senders NHK lehnen 61 Prozent der Japaner eine weitere Militarisierung des Landes ab.

Die Parlamentsabstimmung am Donnerstag wurde von der Opposition boykottiert. Neben der Demokratischen Partei und der KP Japans verließen auch drei kleinere Parteien den Saal. Die Liberaldemokratische Partei von Abe und ihr Koalitionspartner, die buddhistische Komeito, verfügen im Unterhaus über eine Zweidrittelmehrheit.

** Aus: junge Welt, Freitag, 17. Juli 2015


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