Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Jemen: Sieben Jahre nach dem Bürgerkrieg - Der Süden bleibt weitgehend sich selbst überlassen

Ein Bericht aus Aden

Nachfolgenden Bericht über die Situation in der südjemenitischen Hafenstadt Aden haben wir der Neuen Zürcher Zeitung entnommen. Wir dokumentieren daraus einige Abschnitte.

Aden - die südjemenitische Hafenstadt im Hintertreffen

Zögerlich wachsende Freizone als Magnet für nationale und internationale Unternehmen
Von Victor Kocher

...
... Mein Freund ist ein echter, umgänglicher Adeni, der Sohn einer Familie von Händlern und politischen Aktivisten. «So wird das nicht endlos weitergehen», wettert er eben, die Zunge durch den Spaziergang in der kühlenden Meerbrise und das erfolgreiche Feilschen beim Fischhändler gelöst. «Was nützt uns die Erhaltung der jemenitischen Einheit im Krieg von 1994, wenn die sogenannte Dimugratia (Demokratie) von Präsident Saleh uns keine Möglichkeit bietet, die Interessen des Südens in Sanaa zu verteidigen?» Die Anklage erfolgt leichten Herzens, und wie die erwünschte Änderung kommen soll, bleibt offen: eine echte demokratische Öffnung oder ein gewaltsamer Umsturz - oder eben gar nicht. Immerhin verhehlt der junge Mann nicht, dass er im Bürgerkrieg unter der Führung von Ali Salem al-Beidh gegen die Nordisten gekämpft - und verloren hat. Doch die tiefere Wahrheit ist, dass er sich auch heute noch als Mitglied der jemenitischen Sicherheitskräfte ausweisen kann, allerdings in einer völlig marginalisierten Einheit. Und weil die Dinge in Jemen immer vielschichtiger sind, als sie erscheinen, könnten die Missstände von Aden noch geraume Zeit weiter in sich ruhen.

... Die Briten hatten Crater seit 1839 in den 120 Jahren ihrer Besetzung als schmuckes Geschäftszentrum der Kronkolonie aufgebaut. Aden diente ihnen als Bunkerstation auf halbem Weg ihrer Schifffahrtsrouten nach Ostafrika und Indien. In zweiter Linie förderten sie den Handelshafen für den lokalen und regionalen Austausch. Zum Schutz und Betrieb dieser Niederlassung importierten die Briten Garnisonen aus Indien. Und zur Verhinderung einer jemenitischen Bevölkerungsmehrheit, welche eine politische Vereinigung der Hafenkolonie mit dem Rest Jemens befördert hätte, betrieben sie die Ansiedlung von Kadern und Geschäftsleuten aus Indien, Afrika und anderen Erdteilen. So waren 1881 unter den 34.000 Einwohnern Adens lediglich 13.000 Araber, dafür 9.100 Somalier, 7.200 Inder sowie je 2.000 Juden und Europäer. Das grösste Unternehmen war seit der Einführung von Schiffsmotoren mit flüssigem Brennstoff die Raffinerie von Little Aden, vis-ŕ- vis der Halbinsel Crater. Hier bildeten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch jene Gewerkschaften, die den Grundstock der politischen Militanz für den Befreiungskrieg stellten.

An der gediegensten Strassenecke sind heute die Geschäftssitze der Chartered Bank und von Lloyd's Versicherungen noch gut zu erkennen, doch ihren Platz haben jemenitische Folgeunternehmen mit deutlich geringeren Umsätzen eingenommen. Big Business macht man im wiedervereinigten Jemen in der Hauptstadt Sanaa und in Taiz. Wer den Zerfall nicht aus Schutt und Schmutz lesen will, kann ihn sogar riechen. Die seit Jahrzehnten fällige Generalüberholung der Abwasserversorgung ist nun mit deutscher Hilfe im Gang, wovon offene Gruben und Leitungen mitten im Zentrum künden. ... Vor dem Abzug der Briten im Jahr 1967 zog mit den anderen Auswanderern auch die Judengemeinde aus, ein Teil davon nach Israel.

So litt das südjemenitische Nachfolgeregime nach dem Erlangen der Unabhängigkeit nicht nur an seinen ideologischen Monopolneigungen; es fehlte ihm auch eine ganze Schicht von Kadern, welche die Kolonialverwaltung betrieben hatten. Dazu kam im gleichen Jahr die Schliessung des Suezkanals, womit die Anzahl der Aden anlaufenden Schiffe - jährlich 7.000 in den besten Zeiten - auf einen Bruchteil schrumpfte. Die Wirtschaft musste grundlegend neu ausgerichtet werden, das Hauptgewicht verlegte sich von einer Dienstleistungsgesellschaft auf landwirtschaftliche Produktion und verarbeitende Industrie. Darauf folgte ein Vierteljahrhundert revolutionärer oder sozialistischer Experimente, der Nationalisierung von Handel und Produktion und der Arbeitsbeschaffung in nur teilweise sinnvollen Industrieprojekten und Kollektivfarmen.

... Nordöstlich von Crater, jenseits des Flughafens von Khormaksar, liegt ... modernes weisses Palais... Es ist der ehemalige Hauptsitz der Sozialistischen Partei Jemens, der Staatspartei des Südens: ein Geschenk von fünf osteuropäischen Bruderparteien aus der Mitte der achtziger Jahre. Die Umnutzung durch die Universität Aden erlaubt uns einen Rundgang im Allerheiligsten des real existierenden Sozialismus am Golf von Aden. Der Park ist ein Paradies von Palmen, Oleandersträuchern und Bougainvilleen. Treppen, Böden und die Wände der Repräsentationsräume sind in elegantem hellgrauem Marmor gehalten, die Funktionärsbüros in lichtbraunem Holztäfer. ... Im Obergeschoss findet sich ein Sitzungssaal für das Zentralkomitee, der mit seinen roten Plüschsitzen, Lüstern und Glasmalereien in den Fenstern an das Staatsratsgebäude in Ostberlin gemahnt. Hier setzte Präsident Ali Nasser Mohammed die Rehabilitierung der Privatwirtschaft und die Eröffnung des Tourismus durch, bevor er 1986 in seinem eigenen Präventivputsch blutig gestürzt wurde. Die Ansiedlung der Internet- und Computerabteilung der Universität im früheren Büro des Generalsekretärs ist zweifellos eine Absichtserklärung.

Der Küstenstreifen vor dem Parteigebäude wird jetzt Schritt für Schritt durch Neubauten besetzt: Luxuswohnungen, Aparthotels und Villen für Vermögende. Mein Freund aus Aden besteht darauf, dass nur Leute mit engen Beziehungen zum Regime in Sanaa Land und Bewilligungen für solche Unternehmungen der neuen Privatwirtschaft erhalten. Auch in Crater stechen einige renovierte Geschäftshäuser aus den abblätternden Reihen heraus. Mitten unter ihnen steht das Hotel Rambow; es erinnert in zeitgenössischer Verballhornung an das kurze Zwischenspiel des Dichters Rimbaud, der 1880 in der kosmopolitischen Kolonie bei einem Handelshaus für Kaffee und Felle angelernt wurde, bevor er für einige Jahre in Abessinien verschwand. ...

Das Verwaltungszentrum des sozialistischen Staats und die Konzentration der Staatsbetriebe hatten grosse Bevölkerungsteile angezogen und Heere von Angestellten geschaffen. Diese gingen zwar nach der Vereinigung mit dem Norden von 1990 in die fusionierte Verwaltung über, doch verlor Aden immer mehr an Bedeutung. Während der Präsident anfangs noch zwei Monate in der zur «Winterhauptstadt» beförderten Hafenkapitale verbrachte, wurden es nach dem Sündenfall des Bürgerkriegs von 1994 nur noch wenige Wochen. Trotzdem zählte 1995 die Bevölkerung Adens wieder 560.000 Personen, konzentriert vor allem im Expansionsviertel von Scheich Uthman, nördlich von Khormaksar. Der Sonderstatus von Aden liegt nach bösen Zungen heute nur noch darin, dass die Hotels hier Alkohol ausschenken und dass die Prostituierten des ganzen Landes sich zur Arbeit einfinden.

... «Aden ist auf dem besten Weg, wieder unter die grössten Welthäfen wie Rotterdam, New York und Singapur aufzurücken», prophezeit ganz im Gegenteil der Leiter des lokalen Freizone-Projekts, Derham Noman. Das Ziel dieses Regierungsunternehmens ist der Aufbau eines modernen Container-Umschlaghafens, flankiert durch eine grosszügige Industriezone entlang der Adener Küste, wo sich dank Sondergesetzen für Kapitalsicherheit und leichtere Besteuerung nationale und internationale Unternehmen ansiedeln sollen. Noman räumt ein, dass die Not der Schaffung von Arbeitsplätzen dem Projekt mit Pate gestanden hat; er sieht allein im Bereich des ausgebauten Hafens, der Lagerhäuser und des sogenannten Cargo Village viele Tausende von Arbeitsstellen. Dazu kämen die Fabriken, ein massiv vergrössertes Geschäftsvolumen, Reiseverkehr, Tourismus und der ganze Schneeballeffekt der damit verbundenen Dienstleistungen. Präsident Saleh hat schon 1993 die entsprechenden Gesetze erlassen, die Regierung hat das Gelände zugeeignet, und bis Mitte 2001 soll die Infrastruktur eines ersten Industriegeländes von 70 Hektaren fertiggestellt sein. Noman macht per Ende 2000 insgesamt 410 Millionen Dollar an zugesicherten Fremdinvestitionen in der Freizone geltend, was zur Einrichtung von rund 12.000 neuen Arbeitsplätzen führte.

Der Grundgedanke ist bestechend: Aden liegt nach wie vor nur 20 Kilometer abseits der strategischen Schifffahrtsroute durch den Suezkanal. Die Super-Containerschiffe machen zwecks Zeitersparnis in jedem Kontinent nur noch einmal Halt, und wenn man ihnen ein leistungsfähiges und preisgünstiges Verteilzentrum so direkt am Weg anbietet, so müssen sie Aden vor allen anderen Konkurrenzanlagen den Vorzug geben. Damit könnte Aden den etablierten Grosshäfen wie Jebel Ali in Dubai, Djibouti oder Mombasa den Rang ablaufen und überdies als Knotenpunkt der regionalen Zulieferschiffe dienen. Das setzt allerdings einen guten Ruf in Schifffahrtskreisen voraus, was für ein notorisch instabiles Land wie Jemen nicht selbstverständlich ist.

... Die Anlage, die zwei grosse oder vier mittlere Containerschiffe zugleich bedienen kann, wurde von einer Privatfirma aufgebaut und wird von ihr betrieben. Sechzig Prozent des Aktienkapitals, und mithin die Verfügungsgewalt, liegt in Händen der Hafengesellschaft von Singapur. Entsprechend betritt man hier eine völlig andere Welt von peinlicher Sauberkeit, Pünktlichkeit und Effizienz, in der das zersetzende jemenitische Chaos keinen Raum hat. Sogar ein Abgesandter des Vorsitzenden der Freizone muss sich hier kujonieren lassen, weil er die Zutrittsformalitäten nicht respektiert hat. Im März 1999 begann der Betrieb, und im letzten Jahr wurden hier 250.000 Container umgeladen; für 2001 rechnet Noman mit 500.000. Drei Viertel davon sind nur im Transit. Neun internationale Schifffahrtslinien legen hier wöchentlich an, das bedeutet jeden Tag ein bis zwei Schiffe. Rotterdam oder Hongkong bedienen vergleichsweise sechs bis acht Grossfrachter täglich. Eine Verdoppelung der Anlegestellen und Ladekapazitäten ist in Aden geplant.
...
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 14. Mai 2001

Zurück zur "Jemen"-Seite

Zurück zur Homepage