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Baufälliges Armenhaus

Schwindende Rohstoffe, Schulden, Korruption und Wassermangel: Im Jemen bereichert sich eine kleine Oberschicht nach Kräften. Das Land indes steht vor dem Zerfall

Von Raoul Rigault *

Jahrelang lag der Jemen politisch in einem toten Winkel der Welt. Im Rahmen des von den USA ausgerufenen »Krieges gegen den Terror« ist das Land unversehens ins Rampenlicht geraten. Wichtige Stützpunkte der Al-Qaida wollen Washington und seine Verbündeten im Südwesten der arabischen Halbinsel ausgemacht haben und sie bringen ihre Militärmaschine in Stellung, um das Problem zu »lösen«.

Daß die Islamische Präsidialrepublik Jemen ein »politisches Sorgenkind« geworden ist, hat in erster Linie soziale Ursachen. Laut UNO zählt das Land mit einem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2300 US-Dollar (1600 Euro) pro Kopf zu den dreißig ärmsten Staaten der Welt. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, das heißt, von weniger als umgerechnet zwei Dollar am Tag. Die Kindersterblichkeit ist mit zehn Prozent extrem hoch, und die allgemeine Lebenserwartung beträgt 60 Jahre. Kein Wunder: Letzten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge kommen auf zehntausend Einwohner lediglich drei Ärzte und sechs Krankenhausbetten. Impfstoffe kann sich kaum jemand leisten. Ähnlich ist die Situation im Bildungswesen. Trotz formeller Schulpflicht lag die Analphabetenrate 2005 bei knapp 50 Prozent. Nur ein Drittel der Kinder besucht mehr als die Grundschule. Gebühren von umgerechnet zehn Dollar pro Jahr und der Zwangs zum Einkommenserwerb sind die Hauptgründe dafür.

Das mäßige Wirtschaftswachstum von durchschnittlich vier Prozent pro Jahr seit 2000 reicht angesichts der steigenden Bevölkerung (plus drei Prozent pro Jahr) nur zu einer Stagnation des allgemeinen Lebensstandards. Dabei lebt das Land sogar noch über seine Verhältnisse. Zwischen 4,3 und 7,0 Prozent des BIP schwankte das Leistungsbilanzdefizit in den zurückliegenden drei Jahren.

Prekäre Wirtschaftslage

Größtes Problem des Jemen ist seine rückständige Ökonomie, verbunden mit der Rohstoffabhängigkeit. Die Förderung von Bodenschätzen trägt 43,4 Prozent zum BIP bei, Agrarsektor und verarbeitendes Gewerbe hingegen nur 7,2 beziehungsweise 7,5 Prozent. Doch die bescheidenen Ölvorräte gehen zu Neige. Lag die Produktion zu Beginn des Jahrzehnts noch bei 430000 Barrel (Faß, 159 Liter) am Tag, so sind es heute nur noch 280000. Zwar hat die Fertigstellung der Erdgasverflüssigungsanlage in Balhaf im November einen kleinen Ausgleich zum Rückgang der Ölförderung geschaffen, doch werden auch die Gasvorkommen in zehn bis fünfzehn Jahren erschöpft sein. Zudem ist das prowestliche Regime von Staatspräsident Ali Abdullah Saleh gegenüber der französischen Total und der südkoreanischen KNPC langfristige Lieferverpflichtungen zu niedrigen Gaspreisen eingegangen.

Desaströs auch die Lage in der Landwirtschaft: Obwohl dort sechs von zehn Jemeniten arbeiten und 80 Prozent des Wassers verbrauchen, müssen drei Viertel der Lebensmittel importiert werden. Vor einigen Jahrzehnten war das Land noch Selbstversorger. Ursache dieser dramatischen Veränderung ist der immer weiter um sich greifende Anbau der Volksdroge Qat. Die stellt zwar einen Großteil der 24 Millionen Einwohner ruhig, bringt aber keine Devisen und verdrägt Kaffee, Weizen und Hirse zunehmend von den Anbauflächen. Ähnlich unproduktiv ist der Fischfang. Einheimische Fischer verfügen nur über kleine Boote, und das Arabische Meer wird derweil illegal von ausländischen Flotten leergefegt.

Das war nicht immer so. Nur wenige Länder der Welt verfügen über eine so glänzende Vergangenheit. Die Stadt Aden wird bereits im Alten Testament erwähnt. Sie war eines der Zentren des westarabischen Gewürzhandels. Etwa 900 vor Christus lebte mit den Sabäern ein technisch hochentwickeltes Volk im Jemen, das es durch die Produktion von Weihrauch und Myrrhe zu legendärem Reichtum brachte.

170 Luxusvillen

Reiche gibt es auch heute im Jemen, allerdings nur wenige. Die Immobiliengesellschaft Diar aus dem Golfstaat Katar investiert derzeit 600 Millionen Dollar in den Bau von 170 Luxusvillen auf den Rayyan Hills in der Hauptstadt Sanaa. Bezeichnenderweise ist dies aktuell das größte Infrastrukturvorhaben im Land und die frappierende Ähnlichkeit zum Kabuler Villenquartier Sherpur, in dem die neue afghanische Elite ihren Reichtum zur Schau stellt, kein Zufall. Zwei Milliarden Dollar »Handgeld« hatte das saudische Königshaus Staatschef Saleh im Herbst zukommen lassen, um den Aufstand der Houthi-Rebellen an der gemeinsamen Grenze zu ersticken. Auch beim Ergasdeal mit Total und KNPC kam die herrschende Oberschicht auf ihre Kosten. Die Konzession der texanischen Ölfirma Hunt Oil für den »Block 18« wurde annulliert und einer Ölgesellschaft übertragen, die dem Saleh-Clan gehört.

Der Präsident verfolge eine miserable Wirtschaftspolitik, erklärte kürzlich Professor Mohammed Jubran von der Universität Sanaa im Gespräch mit dem Schweizer Radio DRS. Er und seine Getreuen bildeten eine Lobby, mit dem Zweck sich zu bereichern -- zum Beispiel, indem sie subventionierten Diesel in Jemen billig auf- und im Ausland teurer verkauften.

Die Chefredakteurin der Yemen Times, Nadja al-Saqqaf, spricht gar von einer Machtmafia: Ein und dieselbe Person sei oftmals Politiker, Stammeschef, religiöser Führer und Geschäftsmann zugleich. Solche Potentaten könnten sich fast alles erlauben. Es sei riskant, diese Leute zu kritisieren.

Formal wurde zwar 2006 ein Antikorruptionsgesetz verabschiedet und 2007 gar eine Antikorruptionsbehörde geschaffen. Mehr als 500 Anzeigen von Bürgern soll diese bisher bearbeitet haben. Ein Täter wurde allerdings noch nicht verurteilt. Das sei eben ein langer Prozeß, ließ die stellvertretende Behördenchefin Bilkis Ahmed Abuosba verlauten.

* Aus: junge Welt, 14. Januar 2010


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