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Wie unruhig ist der Jemen?

Von Iris Glosemeyer*

Selbst unter Kennern der Region beschränkt sich das Interesse am Jemen meist auf drei Aspekte: die beeindruckenden touristischen Attraktionen des Landes, Terroranschläge (z.B. Flugzeugträger Cole 2000 und Öltanker Limburg 2003) und nicht näher benannte "Unruhen". Seit Sommer 2004 kommt es wieder vermehrt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Demonstranten oder bewaffneten Gruppen. Die unterschiedlichen Hintergründe der unter dem Begriff "Unruhen" subsumierten Vorfälle sollen im folgenden näher betrachtet werden. Sind sie Vorboten einer Destabilisierung des Landes oder wenig überraschende Folgen dramatischer wirtschaftlicher und politischer Veränderungen?



1990 entstand mit der Republik Jemen durch die Vereinigung der beiden jemenitischen Republiken ein auf der arabischen Halbinsel einzigartiges politisches Modell. (1) Die Staatsführungen der beiden Vorgängerstaaten hatten sich auf ein Mehrparteiensystem geeinigt, um dem nordjemenitischen Allgemeinen Volkskongreß (Kongreßpartei) und der südjemenitischen Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) das Überleben zu sichern. Im Mai 1991 wurde ein Verfassungsreferendum abgehalten, im April 1993 stellten sich über 20 Parteien den ersten Parlamentswahlen unter den Bedingungen eines allgemeinen Wahlrechts, die Presse erhielt bisher unbekannte Freiheiten und im Freedom House Index erhielt die Republik Jemen das Prädikat "partly free". Der durch Verteilungskonflikte innerhalb der Elitenkoalition ausgelöste innerstaatliche Krieg im Jahr 1994 war jedoch ein Einschnitt mit langfristigen Folgen, und die JSP verschwand fast völlig von der politischen Bühne. Heute läßt sich das politische System bestenfalls als defekte Demokratie bezeichnen, auch wenn Freedom House für 2003 die Republik Jemen wieder als "partly free" bewertete, und das Mehrparteiensystem inzwischen fester Bestandteil des politischen Lebens ist.(2)

Unruhepotential: wirtschaftliche Entwicklung

Die vorerst letzten Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten im Sommer 2005, bei denen Dutzende ums Leben kamen, waren vorhersehbar und – wie viele andere z.T. von Gewalt begleitete Demonstrationen seit Anfang der 1990er Jahre – vor allem wirtschaftlich motiviert.

Die wirtschaftliche Talfahrt begann 1990, als sich der Jemen weigerte, dem Einsatz internationaler Truppen für die Befreiung Kuwaits unter der Führung der USA zuzustimmen. Die darauf folgende Ausweisung von fast einer Million jemenitischer Arbeitsmigranten aus den Golfstaaten, vor allem aus Saudi-Arabien, und die fast völlige Einstellung der Entwicklungshilfe aus diesen Nachbarländern sowie den USA hatten nachhaltige Folgen. Die Wirtschaft stürzte in eine Inflation, aus der sie das Mitte der 1990er Jahre begonnene Strukturanpassungsprogramm (SAP) nur zeitweise retten konnte. Der jemenitische Staat zeigte sich außerstande, Reintegrationsmaßnahmen oder soziale Leistungen für die Rückkehrer bereitzustellen. Traditionelle Netzwerke wie Großfamilien und Stammesverbände konnten diese Lücke zumindest teilweise füllen, aber der Krieg von 1994 und das SAP verschärften die Situation weiter.

In den letzten zehn Jahren sind dem Jemen zwar weitere dramatische Rückschläge erspart geblieben, aber die wirtschaftliche Entwicklung hält nicht Schritt mit dem enormen Bevölkerungswachstum. Mit etwa 20 Millionen Einwohnern stellt der Jemen schon heute etwa die Hälfte der Staatsbürger (nicht der Einwohner) der arabischen Halbinsel, und fast die Hälfte von ihnen ist jünger als 15 Jahre. Bei sieben Geburten pro Frau wird sich die Bevölkerungszahl bis 2015 noch einmal um die Hälfte erhöht haben.(3)

Bereits 1998 – als die letzte umfassende Untersuchung durchgeführt wurde – lebten über 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und mittlerweile scheinen auch die Kapazitäten vieler Großfamilien erschöpft. Offenbar entdecken die Behörden in Saudi-Arabien, wo derzeit im Rahmen der Terrorbekämpfung verstärkt nach illegalen Einwanderern gefahndet wird, monatlich etwa 3500 jemenitische Kinder, die von ihren Eltern zum Betteln oder Arbeiten illegal über die Grenze nach Saudi-Arabien geschickt wurden.(4) Diese Kinder sind jeder Art von Mißbrauch schutzlos ausgesetzt und ihre Zahl scheint zuzunehmen.

Die Renten aus den Mitte der 1980er Jahre entdeckten Ölvorkommen machen etwa ein Drittel des jemenitischen BIP und zwei Drittel der Staatseinnahmen aus. Die Hoffnung, der Jemen könne mit seinen ölreichen Nachbarn gleichziehen, hat sich jedoch nicht erfüllt. Die Reserven sind begrenzt, die Produktion ist bereits rückläufig und Raffineriekapazitäten sind so beschränkt, daß der Jemen Diesel importieren muß, der dann zu subventionierten Preisen an die Bevölkerung abgegeben wird. Obwohl ebenso ein Rentierstaat wie die sechs Golfmonarchien, liegt der Jemen daher auf dem Human Development Index der UNDP auf Platz 149, und damit weit hinter seinen Nachbarn zurück.

Während die Bevölkerung bereits mit einer rapiden Absenkung ihres Lebensstandards konfrontiert ist, drängen IWF und Weltbank nach wie vor auf den weiteren Abbau von Subventionen. Die gleichzeitig sehr ausgeprägte private Bautätigkeit in der Hauptstadt deutet darauf hin, daß die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Staatliche soziale Sicherungssysteme erreichen nur einen Bruchteil der Bevölkerung, während gleichzeitig die Verteidigungsausgaben seit 2000 wieder auf ein Niveau gestiegen sind, das sogar über dem Durchschnitt für den gesamten Mittleren Osten liegt.(5)

Zwar ist die offensichtliche Ungleichverteilung von Ressourcen und Chancen mindestens ebenso auf Siedlungsstruktur und den strukturellen Gegensatz zwischen urbanen Zentren und ländlicher Peripherie zurückzuführen wie auf Korruption. Aber es ist offensichtlich, daß öffentliche Gelder von der herrschenden Elite privatisiert und an ihre Klientel verteilt werden. Lukrative oder prestigeträchtige Positionen werden oft nach Kriterien wie der politischen oder verwandtschaftlichen Nähe zum Staatspräsidenten oder zu einem der großen tribalen Shaikhs vergeben, und Gerüchte zufolge verdienen hohe Militärs am Schmuggel von subventionierten Gütern, insbesondere durch die Verschiebung von Diesel in die Golfstaaten. Der Subventionsabbau trifft jedoch nicht nur Schmuggelbanden, sondern vor allem eine Bevölkerung, die auch geringe Preissteigerungen nicht mehr verkraften kann. Wem zuliebe das Parlament eine erneute Kürzung der Dieselsubventionen jahrelang blockierte, kann hier nicht geklärt werden, aber als sie schließlich für das Haushaltsjahr 2005 mit knapper Mehrheit beschlossen wurde, waren Proteste vorprogrammiert.

Trotz gegenteiliger offizieller Erklärungen ist das Thema Korruption noch immer tabu, wie Übergriffe auf Journalisten und Redakteure zeigen, die es wagen, in diesem Zusammenhang Namen zu nennen.(6) Lediglich das Parlament, das sich durchaus nicht immer regierungskonform verhält, hat einen gewissen Spielraum, der allerdings durch informelle Bündnisse zwischen den beiden großen Parteien begrenzt ist.

Dennoch richten sich Demonstrationen wie zuletzt im Sommer 2005 noch immer gegen einzelne Maßnahmen, wie die Kürzung von Subventionen für Kraftstoffe (1998, 2000 und 2005) und die Einführung einer Mehrwertsteuer (von der u.a. Nahrungsmittel ausgenommen sind) und nicht gegen das Regime an sich. Bisher ist es niemandem gelungen, eine für die Mehrheit der Bürger akzeptable Alternative zum derzeitigen Regime anzubieten, und auch die Führung der oppositionellen konservativ-islamistischen Jemenitischen Versammlung für Reform (Reformpartei) kooperiert im Ernstfall mit der Regierung.(7) Damit drückt sich einerseits die Zufriedenheit der herrschenden Elitenkoalition mit dem Status quo aus; hinter solchen durchaus stabilisierend wirkenden Elitenpakten stehen andererseits aber auch Erfahrungen damit, wohin ein echter Konkurrenzkampf führen könnte. Angesichts der Folgen der Verteilungskämpfe zwischen der nord- und der südjemenitischen Elite in den Jahren 1990 bis 1994 scheuen die beiden großen Parteien das Risiko einer politischen Polarisierung der Bevölkerung.

Unruhepotential: internationaler Terrorismus

Nicht genug damit, daß der Jemen mit dem Problem knapper Ressourcen, den negativen Begleiterscheinungen der staatlichen Vereinigung und den Konsequenzen seiner eigenen Außen- und Wirtschaftspolitik zu kämpfen hat, geriet er auch noch in den Mahlstrom internationaler Politik. Ende der 1980er Jahre begann die Rückkehr tausender ursprünglich von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien gegen die sowjetische Besetzung Afghanistans instrumentalisierten Jemeniten. Eine vermutlich noch größere Zahl nichtjemenitischer Afghanistankämpfer kam in den Jemen, da ihnen die mangelnde Kontrolle der Regierung über Teile des Staatsgebietes und die Religiosität der Bevölkerung wie eine offene Einladung zum Aufbau eines islamischen Staatswesens erschien. Die Aktivitäten sunnitischer Extremisten, wie "al-Qa'ida auf der Arabischen Halbinsel", die sich die Befreiung der Halbinsel von "Ungläubigen" auf die Fahnen geschrieben haben, haben sie allerdings nicht einem wie auch immer gearteten islamischen Staat nähergebracht. Statt dessen beschleunigen sie unfreiwillig die Annäherung der Republik Jemen an die "Ungläubigen", weil das Interesse des Auslands an der Stabilisierung des Landes zunimmt, während die Bevölkerung eine bemerkenswerte Resistenz gegenüber der Propaganda radikaler Organisationen zeigt. Dafür sorgen unter anderem die Verwurzelung in den eigenen Traditionen – mit Ausnahme von Aden kam der Jemen nie unter direkte Kolonialherrschaft - und der Widerspruch zwischen islamistischer Propaganda und den positiven eigenen Erfahrungen mit dem Westen, nicht zuletzt mit Deutschland.

Auch das Mehrparteiensystem entschärfte die Situation, denn zumindest viele jemenitische Afghanistankämpfer konnten mit Hilfe der Reformpartei in das politische System integriert werden. Wie Dutzende andere Parteien wurde sie 1990 gegründet und etablierte sich spätestens 1994 als zweitwichtigste Partei des Landes. Sie wird von konservativen tribalen Führern und Islamisten unterschiedlicher Coleur geführt, von denen einige persönliche Kontakte zu militanten Gruppen unterhalten. Gleichzeitig finden sich in der Partei, die seit 1993 im Parlament vertreten ist, viele demokratische Kräfte, die auch eine Koalition mit der seit 1994 marginalisierten JSP eingehen würden, um der inzwischen wieder allein regierenden Kongreßpartei Paroli bieten zu können. Die Tatsache, daß sich die Reformpartei 1997 nach ihrer vierjährigen Regierungsbeteiligung zumindest formell in die Rolle einer Oppositionspartei gefügt hat, spricht für sich.

Dennoch wurde der Jemen im Laufe der neunziger Jahre zunehmend zu einem Faktor in der Planung ausländischer radikal-islamistischer Gruppen und es kam zu Anschlägen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit militanten Aktivisten und Stämmen, die ihnen gemäß dem tribalen Kodex Schutz vor der Zentralgewalt gewährt hatten. Um einer Dominanz der sunnitischen Salafis entgegenzuarbeiten, soll die Regierung in den 1990er Jahren zaiditische Islamisten wie den Sayyid (Nachkomme des Propheten) Husain Badr al-Din al-Huthi ermutigt haben, eigene Organisationen zu gründen. Dies ist insofern auffällig, als die zaiditischen Sayyids im Nordjemen den Imam (das geistige und weltliche Oberhaupt bis zur Revolution von 1962) gestellt haben. Daher wird ihr politisches Engagement seither mißtrauisch beobachtet. Die zur Schia gerechnete zaidische Lehre steht zwar den sunnitischen Richtungen nahe, aber den Salafis gelten Schiiten – und damit auch Zaiditen – als Häretiker. Manchen Zaiditen wiederum gilt die Verbreitung insbesondere der wahhabitisch geprägten Salafiyya als "kultureller Imperialismus". Zusammenstöße zwischen Anhängern der beiden Richtungen im an Saudi-Arabien angrenzenden Gouvernorat Sa'da Anfang der 1990er Jahre ließen die Regierung offenbar hoffen, daß sie sich gegenseitig neutralisieren würden.

Als im Herbst 2001 der Krieg in Afghanistan begann, floh eine zweite Welle Afghanistankämpfer in den Jemen. Ohnehin durch den Anschlag auf die "USS Cole" 2000 in Mißkredit gebracht, geriet das Land nun sogar in das Fadenkreuz des amerikanischen Verteidigungsministeriums, und der jemenitische Präsident beeilte sich, seine Kooperation bei der Terrorbekämpfung anzubieten. Dieser Kurs verbesserte zwar die Beziehungen zur US-Regierung, erleichterte Waffenkäufe und das Vorgehen gegen widerspenstige Bürger im Namen der Terrorbekämpfung. Er machte die jemenitische Regierung aber innenpolitisch angreifbar und stärkte die Position der Opposition, unabhängig von deren ideologischer Ausrichtung. Schließlich prägen die per Satelliten- oder Staatsfernsehen gelieferten Bilder aus den palästinensischen Gebieten und dem Irak trotz der geographischen Entfernung die Weltsicht vieler Jemeniten.

Unruhepotential: gewaltsame Durchsetzung des staatlichen Machtanspruchs

Auch wenn das – möglichst bunt blinkende – Mobiltelefon zunehmend die Waffe als Statussymbol ablöst, ist eine Schußwaffe im Jemen ein normaler Haushaltsgegenstand, und der Waffenbesitz, der in der Vergangenheit durch tribale Regeln kontrolliert wurde, entwickelt sich zunehmend zum Problem. Auch Proteste gegen die Regierung äußern sich relativ schnell durch den Einsatz von Waffen und Sprengstoff. Die Bemühungen der Zentralregierung, das Gewaltmonopol allerorts durchzusetzen und den Waffenbesitz landesweit zu kontrollieren, sind nicht nur oft erfolglos, sondern auch unbeholfen. Allerdings drohen die wirtschaftliche Entwicklung und die Versuche der Zentralregierung, ländliche Gebiete stärker zu kontrollieren, die Autonomie der Stämme zu unterminieren. Der direkte Kontakt zwischen Bürgern und Staat wäre langfristig vorteilhaft, kurzfristig ist diese Entwicklung jedoch riskant: Auf dem Land bieten die Stämme – als lokal und funktional begrenzte – alternative Organisationsformen in Notfällen Schutz. Angesichts des Mangels an effizienten "modernen" staatlichen Institutionen und der Schwäche der Zivilgesellschaft tragen die Shaikhs auf nationaler Ebene außerdem dazu bei, die Macht der Exekutive im Zaum zu halten. Ein despotisches Regime nach dem Vorbild des Irak konnte sich im Jemen jedenfalls bisher nicht entwickeln, auch wenn viele Voraussetzungen gegeben sind.

Im Sommer 2004 nahm die Regierung die anti-amerikanische und anti-israelische Propaganda – und damit die Kritik an der Außenpolitik des Salih-Regimes – des zaiditischen Gelehrten Husain al-Huthi zum Anlaß, der überwiegend tribalen Bevölkerung im Gouvernorat Sa‘da im Namen der Terrorbekämpfung ihren Anspruch auf das Gewaltmonopol zu demonstrieren. Hunderte von toten und verletzten Soldaten und Zivilisten waren der Preis dafür.(8) Als al-Huthi schließlich nach fast dreimonatigen Kämpfen ums Leben kam, übernahm – tribaler Logik folgend – ein Verwandter (in diesem Fall der Vater) die Führung der Aufständischen. Die Eskalation des Konflikts war vermutlich unbeabsichtigt, wird aber langfristige Folgen haben, denn die Kontrahenten zogen benachbarte Stämme in den Konflikt hinein. Damit ist sichergestellt, daß die Region auch nach dem Ende des eigentlichen Konflikts nicht zur Ruhe kommt.

Husain al-Huthi und seine Gefolgschaft verfolgten anfangs eine Reform der Außenbeziehungen, während sie dem Präsidenten ihre Loyalität zusicherten. Nach den Kämpfen und Verhaftungen bezeichnen die Gefolgsleute al-Huthis jedoch inzwischen das Regime als illegitim, und die Unterscheidung zwischen einem zaiditischen und einem sunnitischen Extremisten fällt zunehmend schwerer. Die zaiditische Lehre, die die (auch gewaltsame) Absetzung eines unqualifizierten Staatsoberhaupts für legitim erklärt, ist jedoch indigen und für die Legitimität der Regierung mindestens so bedrohlich wie salafitische Proteste gegen die jemenitische Außenpolitik.

Begriffe wie Staat und Regierung oder Legitimität und Gerechtigkeit sind für die meisten Jemeniten austauschbar. Zentral bleibt daher die Frage nach der Legitimität der Regierung, personifiziert in Ali Abdallah Salih. Als wie gerecht ein Herrscher bzw. eine Regierung beurteilt wird, ist in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung von weniger als zwei US $ pro Tag lebt, zuallererst an der Verteilung materieller Güter meßbar.

Nicht zuletzt deshalb dürfte sich Präsident Salih vorsichtshalber von der Entscheidung über die Kürzung der Dieselsubventionen distanziert haben, indem er ankündigte, bei den Präsidialwahlen 2006 nicht mehr zu kandidieren. "Der unglücklichste Mann ist der, der einen Löwen reiten oder den Jemen regieren muß" lautet ein bekanntes Sprichwort. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern, die innerhalb kürzester Zeit ermordet wurden, regiert Staatspräsident Ali Abdallah Salih seit nunmehr 27 Jahren. Da nicht einmal sein eigener Sohn von der Bevölkerung als echte Alternative betrachtet wird, dürfte es sich um eine leere Drohung handeln, auch wenn eine gewisse Amtsmüdigkeit verständlich wäre.

Fazit

Angesichts dieser komplexen Lage stellt sich die Frage, ob die "Unruhen" Vorboten eines Bürgerkriegs oder vereinzelte, unterschiedlich motivierte Proteste sind, wie sie andernorts unter ähnlichen Bedingungen ebenfalls vorkommen.

Zunächst ist festzuhalten, daß keine Hinweise darauf zu erkennen sind, daß die diversen Vorfälle in einem engeren Zusammenhang stehen. Erstens sind die Akteure und ihre Motivation völlig unterschiedlich, und zweitens haben Regierung und Opposition kein Interesse an einer Konfrontation. Dennoch ist Aufmerksamkeit geboten. Die Bevölkerung ist derzeit einem extremen Anpassungsdruck ausgesetzt, und die jemenitische Regierung kann sich seit Jahren weder wirtschafts- noch außenpolitisch profilieren. Der Jemen ist zwar seit jeher ein armes Land, aber angesichts des relativen Reichtums in den benachbarten Golfstaaten – dem bevorzugten Ziel jemenitischer Arbeitsmigranten – nimmt die Bevölkerung die mangelnde Leistungsfähigkeit des Staates zunehmend als solche wahr und bewertet die staatliche Output-Leistung entsprechend kritisch. Auch die Außenpolitik der Regierung wird zwar von den meisten Jemeniten zähneknirschend geduldet, bietet aber immer wieder Anlaß zur Kritik.

Insbesondere der Präsident begegnet der Problematik bisher in althergebrachter Weise. So verfolgt er eine inklusive Strategie, um möglichst viele potentielle politische Gegner zu integrieren. Anzeichen dafür sind beispielsweise die Ausweitung der Amnestie von 1994 auf die Anführer des Sezessionsversuches und Einladung zur Rückkehr in den Jemen oder Einladungen zu Verhandlungen mit al-Huthi senior. Selbst eine Amnestie und Entschädigungen für die in den 1960er Jahren vertriebenen Angehörigen des letzten Imams aus der Familie Hamid ad-Din gab Präsident Salih im September 2005 bekannt.

Auch seine schon gelegentlich in früheren Jahren geäußerte Drohung, für die nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2006 nicht mehr zur Verfügung zu stehen, sollte wohl eher als Appell an die Bevölkerung betrachtet werden, ihm ihre Loyalität zu versichern. Ob die Regierung den strukturellen Problemen des Landes mit solchen Maßnahmen gerecht wird, darf allerdings bezweifelt werden.

Fußnoten
  1. Die Republik Jemen entstand aus der Vereinigung der in den 1960er Jahren gegründeten Arabischen Republik Jemen (ARJ/Nordjemen) und Demokratischen Volksrepublik Jemen (DVRJ/Südjemen). Die Bezeichnungen Nord- und Südjemen sind geographisch nicht korrekt, aber gängig.
  2. Zu defekten Demokratien siehe Wolfgang Merkel/Aurel Croissant: Formale und informale Institutionen in defekten Demokratien, in: PVS 41.1 (2000), S. 3-30.
  3. Quelle: www.worldbank.org
  4. Siehe z.B. Lucy Ashton: Where the streets are golden: Yemeni families traffic their boys to Saudi Arabia hoping for a better life. http://www.unicef.org/protection/index_27525.html.
  5. Siehe SIPRI http://www.sipri.org/ und CIA world factbook www.cia.gov/cia/publication/factbook.
  6. Für einen aktuellen Fall siehe amnesty international, Public Statement, 26 August 2005, http://web.amnesty.org/library/Index/ENGMDE310142005.
  7. Iris Glosemeyer, Erste Direktwahl des jemenitischen Staatspräsidenten, in: INAMO, 5 (Winter 1999) 20, S. 40f.
  8. Iris Glosemeyer, Local Conflict, Global Spin: An Uprising in the Yemeni Highlands, in: Middle East Report, (Herbst 2004) 232, S. 44–46. Sarah Philipps, Cracks in the Yemeni System, in: Middle East Report Online, www.merip.org/mero/mero072805.html.
* Iris Glosemeyer ist Lehrbeauftragte am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin.


Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 44, Winter 2005/06

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