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Jemens Probleme nicht schicksalhaft

Sechster Tag der Proteste der Opposition

Von Martin Lejeune *

Bei Zusammenstößen von Anhängern und Gegnern des jemenischen Präsidenten Saleh sind am Mittwoch (16. Feb.) vier Menschen verletzt worden. Die Regierungskritiker waren auf ihrem Weg von der Universität in der Hauptstadt Sanaa zu einem Platz nahe des Präsidentenpalastes, als sie von Unterstützern Salehs mit Knüppeln und Messern angegriffen wurden.

Es war bereits der sechste Tag in Folge, an dem in Sanaa gegen Präsident Ali Abdullah Saleh protestiert wird. Die Aktionen gehen von Studenten aus, denen sich bei ihrem Marsch durchs Stadtzentrum stets weitere Regimegegner anschließen. Proteste in Jemen gibt es aber nicht erst seit den Aufständen in Tunesien und Ägypten.

Atiaf al-Wazir, eine 27-jährige Internetaktivistin, sagte gegenüber ND, dass es am Dienstag (15. Feb.) in den Städten Aden und Taizz zu weitaus schlimmeren Gewaltanwendungen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten gekommen sei als in Sanaa. »In Aden fielen Schüsse, und in Taizz gab es 23 Verletzte. In diesen Städten gehen auch insgesamt mehr Menschen auf die Straße als in Sanaa. Am Dienstag waren es allein in Taizz 20 000, von denen 40 verhaftet wurden.«

In Sanaa sei der Durchschnittsbürger noch nicht Teil der Protestbewegung geworden, berichtet Atiaf al-Wazir. Dies bleibe bisher einem Teil der gebildeten Oberschicht, vorwiegend Studenten, vorbehalten. Seit Montag sehe man auch Rechtsanwälte in ihren schwarzen Roben. In Taizz dagegen handele es sich bei den Demonstranten um eine Graswurzelbewegung. Taizz verfügt zwar über eine Textilindustrie und Gerbereien, doch den Menschen in der Hauptstadt geht es im Durchschnitt etwas besser als der Bevölkerung in der Provinz. Vor allem der Süden des Landes, so behaupten Südjemeniten, profitiere weniger als der Norden an den Erdöleinnahmen.

Bei Gesprächen zwischen der Opposition und der Regierung sei bisher nichts herausgekommen, meint gegenüber ND Christoph Wilcke, der für Human Rights Watch die Lage in Jemen beobachtet. »Der nationale Dialog stockt. Zwar versprach Präsident Saleh der Opposition einen konstruktiven Dialog, ließ dieser Ankündigung aber bisher keine Taten folgen.«

Eine Vereinigung, die sich »Demokratischer Block« nennt, hat zu Beginn der Woche die parlamentarische Opposition als Schergen des Auslands verunglimpft, die nichts für das Wohl Jemens tun und nur politisches Kapital aus dem sogenannten nationalen Dialog und den Protesten auf der Straße zu schlagen versuchen, berichtete Wilcke. Auch südjemenitische Separatisten haben die parlamentarische Opposition scharf verurteilt, weil sie sich zu Gesprächen mit dem »Tyrannen und Diktator Saleh« hinreißen lasse.

Laut Wilcke kommt es in jüngster Zeit vermehrt zu schweren Repressionen gegen die Presse. »Journalisten verschwinden in Sanaa von den Straßen. Auch wenn die Regierung dies leugnet – der Staat ist allein dafür verantwortlich. Seit Mai 2009 gibt es in Sanaa einen Sondergerichtshof, der einzig und allein darauf ziele, Dissidenten mundtot zu machen. Auch sei ein Paragraf des Strafgesetzes, mit dem Journalisten verfolgt werden, sehr fragwürdig formuliert.

Deshalb kritisiert Wilcke die Haltung von Außenminister Guido Westerwelle und Entwicklungsminister Dirk Niebel, die sich bei ihren Besuchen nicht deutlich genug zu Menschenrechtsverletzungen äußern. »Sie reden nicht Tacheles, um den vom Regime verursachten Menschenrechtskatastrophen Einhalt zu gebieten. Doch ohne und nachhaltigen politischen Druck von außen wird es keine Veränderungen in Jemen geben.« Die Bundesregierung tue so, als ob Jemen ein armes, unterentwickeltes Land mit sich daraus zwangsläufig ergebenden Problemen sei. »Aber es gibt konkrete Kräfte hinter diesen Konflikten, die man abstellen kann, wenn der politische Wille da wäre«, ist Wilcke überzeugt.

* Neues Deutschland, 17. Februar 2011


Verletzte bei neuen Protesten gegen Regierung im Jemen

Bei Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und -anhängern sind im Jemen mehrere Menschen verletzt worden, davon in der Hauptstadt Sanaa zwölf, als 2000 Menschen – überwiegend Studenten – den Rücktritt von Staatschef Ali Abdullah Saleh und seiner Regierung verlangten, wie ein Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP am Donnerstag berichtete. Anhänger der Regierung griffen die Demonstranten demnach mit Stöcken und Steinen an; einige Protestteilnehmer warfen darauf ihrerseits Steine. Die Polizei schoß in die Luft, um die beiden Gruppen zu trennen.

In Sanaa demonstrierten Regierungsgegner den fünften Tag in Folge gegen Staatschef Saleh, der das Land im Süden der Arabischen Halbinsel seit 32 Jahren regiert. Am Mittwoch waren zehn Studenten bei ähnlichen Zusammenstößen mit Regierungsanhängern verletzt worden. Hunderte Demonstranten hatten dabei versucht, bis zum Präsidentenpalast in Sanaa vorzudringen.
(AFP/jW)

** Aus: junge Welt, 18. Februar 2011


Wutentladung

Von Roland Etzel ***

Schüsse auf Demonstranten im mediterranen Benghasi, auf dem Perlenplatz Manamas am Persischen Golf, in den engen Gassen von Sanaa. Das alles passierte gestern in Libyen, Bahrain und Jemen, drei arabischen Staaten, aber dreien, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Jemen ist Republik, Bahrain Monarchie, die »Jamahiriya« Libyen nimmt gar für sich in Anspruch, gar kein Staat im herkömmlichen Sinne, sondern eine »Gemeinschaft der Volksmassen« zu sein. Sehr verschieden auch die Wirtschaftslage. In Bahrain liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 26 000 Dollar, in Jemen unter 1000.

Was alle genannten Länder dennoch eint und selbst auf die Proteste im bettelarmen Jemen zutrifft – es handelt sich nicht in erster Linie um Brotrevolten. Darum ging es auch zuvor nicht in Tunis und Kairo. Hier manifestiert sich das Fehlen von Lebensperspektiven für Millionen von einzelnen Menschen und damit ganze Gesellschaften. Und so werden wir Zeugen einer Wutentladung über die Ohnmacht, daran etwas ändern zu können.

Das hat viel mit Demokratiedefiziten zu tun. Was die Libyer oder Bahrainis vermissen, ist gewiss weniger der routinierte Parlamentarismusbetrieb westlicher Prägung, sondern greifbare politische Teilhabe. Daran mangelt es all den strukturell noch immer postkolonialen Regimes, und es eint wiederum ihre Führer – mögen sie sich nun Revolutionsführer nennen wie Gaddafi oder König wie der Herrscher von Bahrain.

*** Aus: Neues Deutschland, 18. Februar 2011 (Kommentar)


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