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Zu wenig zum Leben

Kambodscha hebt Mindestlohn in Textilbranche auf umgerechnet 75 Dollar an. Unzureichend, kritisieren Gewerkschaften und internationale Aktivisten

Von Thomas Berger *

Kambodschas Textilbranche boomt. Einer der wichtigsten Gründe für diese Entwicklung ist die lächerlich geringe Entlohnung der dort Beschäftigten – es sind vorwiegend Frauen. Nun sollen sie ab dem 1. Mai mehr Geld bekommen, sagt der Staat. Wie das zuständige Ministerium in der Hauptstadt Phnom Penh Ende März mitteilte, wird der bislang geltende Mindestlohn von umgerechnet 61 US-Dollar pro Monat auf 75 Dollar angehoben. Weitere fünf Dollar sollen die Arbeiterinnen für Gesundheitsausgaben erhalten. Die Entscheidung der Regierung markiert einen gewissen Fortschritt. Dennoch bleibt das Ergebnis deutlich hinter den Forderungen von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zurück, die für eine Anhebung der Vergütung auf umgerechnet 150 Dollar kämpfen.

»Der Anstieg reicht nicht aus. Angesichts der Inflation wird er die Lebensumstände der Arbeiter kaum verbessern«, zitierte die französische Nachrichtenagentur AFP den Präsidenten des kambodschanischen Gewerkschaftsverbandes Rong Chhun. Chhun ist nicht der einzige, der sich enttäuscht zeigte. Die 20prozentige Verbesserung wird von den stetig steigenden Lebenshaltungskosten in dem südostasiatischen Land sofort aufgefressen. Scharfe Kritik kommt auch von internationalen Nichtregierungsorganisationen zur gerechten Entlohnung von Näherinnen in den zahllosen Billigtextilfabriken der Staaten des Südens zwischen Pakistan, Bangladesch und Kambodscha. Unter anderem die Kampagne für Saubere Kleidung (CCC) will ihren Druck auf die internationalen Modekonzerne – die Hauptauftraggeber und Abnehmer der Produktionsfirmen sind – noch erhöhen.

Verwiesen wird von CCC auf Berechnungen der Asia Floor Wage Alliance (einer breiten asiatische Allianz von rund 70 NGOs, Gewerkschaften und Wissenschaftlern, die gemeinsam ein Berechnungsmodell für einen Existenzlohn erarbeitet haben), wonach das Existenzminimum einer Familie in Kambodscha derzeit bei umgerechnet sogar 274 Dollar liegt. Es ist demnach knapp das Vierfache dessen, was die Regierung als neuen Mindestlohn festgesetzt hat. Der jetzige Anstieg sei nur Augenwischerei, heißt es von der Kampagne. Außerdem geht es den CCC-Aktivisten wie vielen anderen nicht nur um die finanzielle Entlohnung der Näherinnen, sondern ebenfalls deren oftmals katastrophalen Arbeitsbedingungen.

Besonders im Visier steht eine aktuelle Werbeaktion des schwedischen Branchenriesen H&M mit dem Namen »Conscious Collection« (bewußte/selbstbewußte Auswahl). Eine deratig »bewußte« Kollektion sei eine gezielte Verschleierung der Arbeitsrealitäten bei den Herstellern, unterstreichen die Kritiker. »H&M betreibt hier Greenwashing und ignoriert die teilweise katastrophalen Zustände in seinen asiatischen Zulieferfabriken«, bringt es Gisela Burckhardt von FEMNET auf den Punkt. Auch Kirsten Clodius von der Christlichen Initiative Romero kommt in einer aktuellen Pressemeldung zu dem Schluß: »H&M kann nicht von einer bewußten Modelinie sprechen, wenn die Arbeiterinnen, die die Kleidung fertigen, in den Textilfabriken reihenweise bewußtlos (engl: unconscious) werden.« Gerade wenn der Branchenprimus, der im Vorjahr auf einen Umsatz von 16,3 Milliarden US-Dollar und einen Gewinn von zwei Milliarden Dollar kam, die Angestellten seiner Zulieferer angemessen entlohne, wäre dies ein Signal, das andere zum Nachziehen ermuntere, heißt es in dem gemeinsamen Appell von CCC.

Nach unterschiedlichen Angaben sind 400000 bis 650000 Kambodschaner in den Textilfabriken des Landes tätig, die neben Hennes&Mauritz auch beispielsweise die Modelabels Levi Strauss, Nike, Puma und weitere westliche Abnehmer beliefern. Viele Betriebe gehören zu Firmengeflechten, die in Taiwan oder Hongkong sitzen. Mit vier Milliarden Dollar Umsatz ist die Branche das wirtschaftliche Rückgrat Kambodschas. Zwar gibt es bereits seit 1997 ein Rahmengesetz, das in gewissem Maße Arbeitsbedingungen und einen Mindestlohn, der »ein menschenwürdiges Leben« garantieren soll, festschreibt. Seit 2009 hat sich der Arbeitskampf der Näherinnen und Näher intensiviert. Im September 2010 waren mehrere zehntausend Beschäftigte landesweit im Ausstand, Streiks in einzelnen Fabriken gab und gibt es nahezu jeden Monat. Nicht nur die Lobbyverbände der Firmen stellen sich bei wegweisenden Verbesserungen quer. Auch die Regierung in Phnom Penh zeigt sich nur widerwillig bereit, die Minimallöhne wenigstens in den bisherigen kleinen Stufen anzuheben – angeblich aus Sorge, Kambodschas Textilbranche wäre gegenüber anderen Billiglohnländern wie Pakistan und Bangladesch dann nicht mehr konkurrenzfähig. Deshalb kämpft die Asia Floor Wage Alliance für einen einheitlichen Mindestlohn, einen, der nicht in der Umrechnung identisch im Betrag ist, sondern sich an der nationalen Kaufkraft für den gleichen primär notwendigen Warenkorb orientiert. Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 3. April 2013


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