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Noch kein Gerichtstag in Kantok

Der lange Weg zu Frieden und Gerechtigkeit in Kambodscha / Warum es fast 30 Jahre dauert, bis Hauptverantwortliche des Pol-Pot-Regimes vor Gericht stehen

Von Detlef D. Pries *

Kang Kek Ieu, der ehemalige Chef des Foltergefängnisses S-21 in Phnom Penh, ist bisher der einzige Häftling im Untersuchungsgefängnis des Kambodscha-Tribunals in Kantok vor den Toren der kambodschanischen Hauptstadt. Warum dauert es fast drei Jahrzehnte, bis Hauptverantwortliche des 1979 verjagten Pol-Pot-Regimes vor ein Gericht gestellt werden?

»Ich war ein Idiot«, schrieb Kambodschas ehemaliger König Norodom Sihanouk erst kürzlich an den Rand einer Buchseite und veröffentlichte dieses Bekenntnis im Internet. 1973, damals Staatschef im Exil, hatte er in jenem Werk versichert: »Bei unseren jungen Fortschrittlern ist Kambodscha in sicheren Händen.«

Mit den »jungen Fortschrittlern«, die er einst als »Rote Khmer« bezeichnet hatte, verbündete sich Sihanouk, nachdem er am 18. März 1970 von seiner eigenen »rechten Hand«, Premierminister Lon Nol, während einer Auslandsreise gestürzt worden war. Kambodscha, von den Putschisten zur »Republik Khmer« umbenannt, war danach vollends ins Feuer der US-amerikanischen Indochina-Aggression geraten. Durch Bombenangriffe und Bürgerkrieg kam bis 1975 eine halbe Million Landsleute Sihanouks ums Leben.

Das wird wohlweislich nicht Gegenstand des Kambodscha-Tribunals sein, wenn – wahrscheinlich Anfang kommenden Jahres – die ersten Prozesse in Kantok beginnen. Obwohl ohne diese Vorgeschichte undenkbar ist, was nach dem 17. April 1975, dem Sturz Lon Nols durch die »jungen Fortschrittler«, begann.

In den drei Jahren, acht Monaten und 20 Tagen ihrer Herrschaft wurden rund 2 Millionen Menschen – ein Viertel der Bevölkerung – erschlagen oder erschossen, sie verhungerten, starben an Krankheiten oder einfach an Erschöpfung. Die »Befreier« unter Saloth Sar alias Pol Pot entvölkerten die Städte und verwandelten das Land in ein einziges Zwangsarbeitslager, um – wie es hieß – Größe und Stärke des alten Angkor-Reiches zurückzugewinnen. Sihanouk verkündete noch im Oktober 1975 vor der UNO, in seinem Land seien eine »wirkliche Volksdemokratie und eine neue Gesellschaft geschaffen worden, die auf ihre eigenen Kräfte zählt«. Ein halbes Jahr später trat er als Staatsoberhaupt – tatsächlich Marionette der »jungen Fortschrittlichen« – zurück und wurde in seinem Palast unter Hausarrest gestellt. Fortan nannte sich das Land »Demokratisches Kampuchea«.

Zehntausende Khmer flohen vor der Todesgefahr nach Vietnam, das selbst über Angriffe der Polpotisten auf seine Grenzen im Süden klagte. Der Gegenschlag blieb nicht aus: Am 7. Januar 1979 vertrieb eine in Vietnam formierte und von dessen Armee unterstützte Nationale Einheitsfront zur Rettung Kampucheas das Schreckensregime in den Dschungel.

Allerdings war dies die Zeit des Kalten Krieges, westliche Regierungen werteten Vietnams Eingreifen nicht als »humanitäre Intervention«, sondern als »Aggression«, die alljährlich in der UNO mit großer Mehrheit verurteilt wurde. Kein einziger westlicher Staat stimmte im folgenden Jahrzehnt dagegen, dass Kambodscha in der Weltorganisation von Pol Pots Diplomaten vertreten wurde. Nur die Verbündeten Vietnams – die Sowjetunion und andere sozialistische Staaten sowie Indien – erkannten die neue Volksrepublik Kampuchea an.

Die politische und finanzielle Unterstützung der abermals mit Sihanouk verbündeten Dschungelkämpfer durch westliche Staaten, China und Thailand bewirkte, dass bis in die 90er Jahre kein Frieden einzog. Als nach dem Abzug der Vietnamesen 1991 das Pariser Abkommen über nationale Aussöhnung abgeschlossen wurde, war die Partei des Demokratischen Kampuchea dessen gleichberechtigter Partner. Erst durch die Fortsetzung des Dschungelkampfes nach UNO-überwachten Wahlen 1993 entzogen sich die verbliebenen, längst nicht mehr »roten« Khmer selbst den diplomatischen Boden unter den Füßen. Als sich Pol Pots ehemaliger Außenminister Ieng Sary 1996 den Behörden stellte, war dies der Beginn vom Ende der Guerilla – und wurde von Sihanouk, der inzwischen wieder auf den Thron gestiegen war, durch eine königliche Amnestie belohnt.

Ieng Sary war ebenso wie Pol Pot von einem Volkstribunal in Phnom Penh im August 1979 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Im Westen galt das als »Schauprozess«. Nun aber mehrten sich die Forderungen nach einem internationalen Tribunal. Angesichts der Vorgeschichte bestand Kambodschas Ministerpräsident Hun Sen, faktisch seit 1985 im Amt und seither ebenso selbst- wie machtbewusst geworden, jedoch bemerkenswert hartnäckig darauf, dass Verbrechen am kambodschanischen Volk auf kambodschanischem Boden von kambodschanischen Richtern nach kambodschanischem Recht geahndet werden, nicht irgendwo in Europa von Richtern, die keine Ahnung von der kambodschanischen Gesellschaft haben.

Vor zehn Jahren begannen die Verhandlungen, die schließlich zur Bildung eines »Hybrid-Gerichts« mit kambodschanischem und internationalem Personal führten. Mal war es eine Regierungskrise in Phnom Penh, mal waren es Finanzierungsfragen, mal Misstrauen in Fähigkeit und Unabhängigkeit kambodschanischer Juristen, die den Prozess verzögerten. Mal warf man Hun Sen vor, er verschleppe das Tribunal, weil er selbst bis 1977 »Roter Khmer« war, worauf der so Beschuldigte forderte, auch die Geschichte vor 1975 und nach 1979 zum Gegenstand der Verfahren zu machen.

Über das Tauziehen starb sowohl Pol Pot selbst (1998) als auch dessen Nachfolger, der »Schlächter« Ta Mok (2006). Allenfalls ein Dutzend »höchste Führer« und »Hauptverantwortliche«, wie es in den Abkommen über das Tribunal heißt, wird während dessen voraussichtlich dreijähriger Dauer vor den Richtern stehen, darunter sicherlich »Bruder Nummer 2« Nuon Chea (82), das nominelle Staatsoberhaupt des »Demokratischen Kampuchea« Khieu Samphan (78) und – trotz der königlichen Amnestie – Ieng Sary (77).

Chronik

  • 21. Juni 1997: Kambodschas Ko-Ministerpräsidenten Hun Sen und Norodom Ranariddh bitten die UNO um Unterstützung bei der Organisation eines Tribunals.
  • 15. März 1999: Eine von UNO-Generalsekretär Kofi Annan mit einer Durchführbarkeitsstudie beauftragte Expertengruppe empfiehlt ein komplett internationales Tribunal.
  • 9. Mai 1999: Hun Sen und UN-Sondervertreter Thomas Hammarberg vereinbaren als Kompromiss »nationale Verfahren mit internationalen Charakteristika«.
  • August 1999: Kambodscha und eine UNO-Delegation präsentieren zwei verschiedene Projekte: Der UNO-Entwurf sieht eine Mehrheit ausländischer Richter vor, der kambodschanische beansprucht die Mehrheit für kambodschanische Richter.
  • 10. August 2001: Kambodschas König Norodom Sihanouk unterzeichnet abschließend ein Gesetz, das die in langwierigen Verhandlungen gefundenen Kompromisse in kambodschanisches Recht umsetzt und die Einrichtung des Tribunals ermöglicht.
  • 10. Oktober 2001: Das UNO-Sekretariat fordert, dass ein künftiges Abkommen zwischen der UNO und Kambodscha gegenüber dem kambodschanischen Gesetz Vorrang hat.
  • 8. Februar 2002: Die UNO unterbricht die Verhandlungen, weil sie Unabhängigkeit und Objektivität des Tribunals gefährdet sieht.
  • 6. Januar 2003: Wiederaufnahme der Verhandlungen nach diplomatischen Bemühungen einer »Gruppe Interessierter Staaten«.
  • 6. Juni 2003: Feierliche Unterzeichnung eines Abkommens durch den stellvertretenden UNO-Generalsekretär Hans Corell und den kambodschanischen Verhandlungsführer Sok An in Phnom Penh.
  • 4. Oktober 2004: Kambodschas Nationalversammlung, nach Neuwahlen fast ein Jahr lang handlungsunfähig, billigt die Vereinbarung. Inzwischen haben Finanzierungsverhandlungen und erste Schulungskurse für Richter und Anwälte stattgefunden.
  • 29. April 2005: Das Abkommen, von allen Seiten ratifiziert, tritt in Kraft.
  • 6. Mai 2006: Norodom Sihamoni, Sohn und Nachfolger Sihanouks, ernennt durch königliches Dekret das juristische Personal der Kammern.
  • 18. Juli 2007: Die Ankläger übergeben den Untersuchungsrichtern die erste Liste mit fünf möglichen Angeklagten. Namen bleiben ungenannt.

Richter und Regeln

Der offizielle Name des Tribunals lautet Außerordentliche Kammern an den Gerichten Kambodschas für die Verfolgung von Verbrechen während der Periode des Demokratischen Kampuchea (englische Abkürzung ECCC).

Die Hauptverfahrenskammer besteht aus fünf Richtern (drei Kambodschanern, einem Neuseeländer und einem Franzosen).
Die Kammer des Obersten Gerichts als letzte Instanz besteht aus sieben Richtern (vier aus Kambodscha, drei aus Japan, Polen und Sri Lanka).
Ko-Ankläger sind die Kambodschanerin Chea Lang und der Kanadier Robert Petit. Ko-Untersuchungsrichter sind der Kambodschaner You Bun Leng und der Franzose Marcel Lemonde.

Können sich Ankläger oder Untersuchungsrichter nicht einigen, entscheidet eine Vorverfahrenskammer aus fünf Richtern (drei aus Kambodscha, je einer aus Australien und den Niederlanden).
Urteile aller Kammern erfordern eine »Supermehrheit« (4 von 5 bzw. 5 von 7 Stimmen). So kann weder die kambodschanische noch die internationale Seite allein entscheiden. Der Strafrahmen reicht von fünf Jahren bis zu lebenslanger Haft, die Todesstrafe ist ausgeschlossen. Die Regierung Kambodschas wird die Verurteilten weder amnestieren noch begnadigen.



* Aus: Neues Deutschland, 13. August 2007


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