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Gefeuert wegen Arztbesuchs

Menschenrechtler prangern Arbeitsbedingungen in Kambodschas Textilsektor an. Appell an Staat und ausländische Handelsketten

Von Thomas Berger *

Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat Kambodschas Textilbranche ein vernichtendes Urteil in Sachen Beschäftigtenrechte ausgestellt. Zwar gibt es in dem südostasiatischen Land gesetzliche Schutzbestimmungen. Diese werden von den Fabrikeigentümern aber unterlaufen oder negiert. Staatliche Kontrollen gibt es immer weniger. Und die Auftraggeber – internationale Modehandelsfirmen – achten kaum auf deren Umsetzung. Zu diesem Ergebnis gelangt der vergangene Woche vorgestellte Report.

Die Studie erfasst nicht nur einige wenige Skandalfälle. Für die Erhebung wurden 340 Interviews geführt, die meisten davon (270) mit Beschäftigten in 73 Bekleidungs- und Schuhfabriken der Hauptstadt Phnom Penh und der benachbarten Provinzen. Befragt wurden zudem Gewerkschaftsführer, Arbeitsrechtsanwälte, Aktivisten und Vertreter des Branchenverbandes sowie Repräsentanten der ausländischen Konzerne.

Der Industriezweig bildet seit Jahren das Rückgrat der kambodschanischen Wirtschaft. Von den rund 700.000 Beschäftigten ist die übergroße Mehrheit (90 bis 92 Prozent) weiblich. Die Bedeutung der Branche unterstreichen Zahlen wie der Gesamtwert der ausgeführten Textilien, der sich 2014 auf umgerechnet 5,7 Milliarden US-Dollar belief. Das sind gut drei Viertel aller Exporte des Landes, die 350 bis 400 Millionen Dollar für die Ausfuhr von Schuhen nicht eingerechnet.

Die jüngste Anhebung des Mindestlohnes für die Textilarbeiterinnen auf umgerechnet 128 Dollar monatlich hatte positive Schlagzeilen geliefert – obwohl die Gewerkschaften 160 Dollar gefordert hatten. Was am Ende in der Lohntüte steckt, ist nur ein Puzzleteil der Realität. Denn viele Beschäftigte leben in ständiger Angst, bereits bei kleinsten Verfehlungen mit drakonischen Strafen bis hin zu sofortiger Kündigung belegt zu werden, so die HRW-Studie. Beispiel: eine junge Frau, die entgegen der Anordnung, an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben, mit schwerem Nasenbluten einen Arzt aufsuchte. Als sie am nächsten Tag das Attest brachte, wurde ihr beschieden, dass sie nicht wiederzukommen brauche.

Eine Näherin, kurz zuvor wegen hoher Leistungen zur Vorarbeiterin befördert, wurde zurückgestuft und wieder geringer bezahlt, als ihre Schwangerschaft bekannt wurde. Nachdem sie mit Unterstützung von Kolleginnen und Gewerkschaftern dagegen protestiert hatte, wurden alle entlassen. Mutiger Einsatz für die eigenen Rechte und gewerkschaftliches Engagement sind für die Fabrikbesitzer willkommener Anlass für willkürliche Kündigungen oder Strafmaßnahmen.

Der Staat tut wenig dagegen. Dabei lobt HRW das 1997 eingeführte Arbeitsgesetz mit seinen Rahmenbedingungen als gut und fortschrittlich. Schon in Sachen Überstunden gebe es aber so gut wie keine Kontrollen – und in der Praxis werden eingehende Beschwerden ignoriert. Von den 73 untersuchten Fabriken fielen den Interviewern 48 auf, in denen Überstunden nicht freiwillig geleistet werden, wie es das Gesetz vorschreibt, sondern unter Zwang. Gerade die hohe Anzahl von Frauen führt zu geschlechtsspezifischer Ausbeutung: Schwangere werden entweder nicht eingestellt, oder ihre ausgelaufenen Verträge werden nicht erneuert, wie in rund der Hälfte der Betriebe nachweisbar war. Auch Krankheitsausfälle können schnell mit dem Rauswurf enden.

2014, so HRW, habe das zuständige Ministerium zwar gewisse Kontrollmechanismen auf den Weg gebracht. So stieg die Zahl der verhängten Geldstrafen gegen Betriebe von Januar bis November auf 25 – eine Verdopplung gegenüber dem Vergleichszeitraum. Bei landesweit rund 1.200 Betrieben der Branche und der Regelmäßigkeit von Verstößen in den überprüften Firmen ist die Zahl dennoch lächerlich. Der Staat müsse sein Monitoring dringend ausweiten, forderte HRW. Auch die Auftraggeber müssten auf die Einhaltung der Gesetze bei ihren Zulieferern achten. Von den sechs untersuchten Marken kam Adidas noch am besten weg – dort gebe es inzwischen auch expliziten Schutz für sogenannte Whistleblower, die Verstöße anzeigen und sonst oft von sofortiger Entlassung bedroht sind. Bei Adidas wie H&M würde auch die Liste der Zulieferunternehmen regelmäßig überprüft und publik gemacht. Marks and Spencer will erstmals 2016 seine Lieferanten offenlegen. Allen dreien sowie dem Label Gap gesteht HRW ein gewisses Bemühen zu, Problemfällen auf den Grund zu gehen. Schlechter sehe es bei den beiden übrigen untersuchten Firmen, Joe Spencer und Armani, aus.

* Aus: junge Welt, Montag, 23. März 2015


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