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Ausnahmezustand

Seit mehr als drei Monaten streiken die Studenten im kanadischen Québec

Von Jean-Rémi Carbonneau, Mélissa Desrochers und Marc-André Marquis, Montréal *

Fast täglich finden derzeit in Montréal Kundgebungen statt. Am Samstag gingen mindestens 10000 Menschen auf die Straße, um gegen das kürzlich erlassene Sondergesetz zu protestieren, das Demonstrations- und Versammlungsrecht massiv einschränkt. Kurz davor, am Dienstag vergangener Woche, fand die größte Demonstration in der Geschichte der kanadischen Provinz Québec statt. 250000 Menschen protestierten in Montréal gegen die Bildungspolitik der Provinzregierung und gegen das Sondergesetz. Die Kundgebung stellte den bisherigen Höhepukt der seit mehr als drei Monaten andauerenden Studentenproteste dar.

2007 hatte der Premierminister der Provinz und Parteichef der Liberalen Partei Québecs (PLQ), Jean Charest, eine auf fünf Jahre angelegte Erhöhung der Studiengebühren um 30 Prozent beschlossen. 2011 betrugen diese schließlich 2168 Dollar (1680 Euro) jährlich. Kaum war dies abkassiert, verkündete die liberale Regierung eine weitere auf fünf Jahre verteilte Erhöhung. 2017 sollen die Studierenden schließlich 3793 Dollar (2940 Euro) im Jahr bezahlen. Dazu kommen noch einmal Gebühren der jeweiligen Universitäten, die zwischen 600 und 800 Dollar jährlich betragen. Daraufhin riefen am 13. Februar 2012 die in vier Verbänden organisierten Studenten der Kollegs und Universitäten Québecs einen Generalstreik aus.

Die meisten der bisher 200 Demonstrationen sind friedlich verlaufen. Bei einigen kam es allerdings zu massiven Angriffen durch die Polizei, was wiederum zur Diskreditierung der Studentenbewegung genutzt wurde. Liberale Politiker und Polizei behaupteten etwa, die Demonstranten trügen die Verantwortung für die eigenen Verletzungen und die erlittene Gewalt. Nach den Auseinandersetzungen in Victoriaville anläßlich des PLQ-Parteitags am 4. Mai hat sich der Polizeileiter trotz einer Bilanz von mehreren teilweise schwer und einem lebensgefährlich verletzten Demonstranten mit dem Einsatz zufrieden gezeigt.

Die Regierungssicht der Dinge wurde von den meisten Medien eifrig reproduziert, insbesondere von den Zeitungen und Fernsehsendern, die zur Power Corporation und zu Quebecor gehören. Die beiden Medienkonzerne kontrollieren mehr als 90 Prozent aller Tageszeitungen der Provinz.

Am 14. Mai trat die Bildungsministerin und stellvertretende Premierministerin Line Beauchamp zurück. Die ehemalige Bildungsministerin Michelle Courchesne übernahm ihr Amt und versprach, den Dialog wieder aufzunehmen. Bereits drei Tage später präsentierte die Regierung jedoch den Entwurf für das Ausnahmegesetz. Dieses wurde unter anderem von Amnesty International und der Anwaltskammer Québecs sofort kritisiert. Mehrere Bestimmungen widersprechen grundlegenden Rechten wie jenem auf Versammlungs-, Rede- und Verkehrsfreiheit, dem Schutz vor harten Haftbedingungen und willkürlicher Verhaftung oder der Unschuldsvermutung. Darüber hinaus ermächtigt ein Artikel das Bildungsministerium, jede schon existierende rechtliche Bestimmung zu verändern, wenn diese mit dem Ausnahmegesetz nicht übereinstimmt.

Außerdem sind Hochschulen und Lehrkräfte ab sofort dazu gezwungen, für die nicht am Streik Beteiligten Kurse abzuhalten, auch wenn nur ein einziger Student im Klassenraum anwesend ist. Ferner verbietet das Sondergesetz jede Form abgesprochener Protestaktion von seiten der Professoren gegen dessen Bestimmungen, andernfalls unterliegen sie Geldstrafen, die bis zu 27000 Euro für Einzelpersonen und 97000 Euro für Institutionen betragen. Ähnliche Sanktionen sind für Personen und Organisationen vorgesehen, die physisch »das Recht eines Studenten beeinträchtigen, den durch eine Hochschule vermittelten Unterricht zu bekommen« oder jemanden dazu ermuntern.

Spontane Demonstrationen sind ab sofort faktisch unmöglich gemacht, da Organisatoren dazu verpflichtet sind, mindestens acht Stunden im voraus der Polizei Datum, Uhrzeit, Dauer, Marschroute und Verkehrsmittel der Demonstranten anzugeben.

Die Studentenverbände haben sofort angekündigt, gerichtlich gegen das Ausnahmegesetz vorzugehen. Mit der Unterstützung von 70 Gewerkschafts-, Sozial- und Umweltorganisationen haben sie am 25. Mai einen Nichtigkeitsantrag vorgelegt. Dafür haben ihnen mehr als 500 Anwälte ihre Arbeit umsonst angeboten. Für die Anwendung wird das aber nichts mehr ändern. Das Gesetz ist vorerst nur bis zum 1. Juli 2013 gültig, Einspruchsverfahren hingegen dauern in der Regel mehrere Jahre.

Das Ausnahmegesetz ist ein herber Rückschlag für die sozialen und demokratischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Eine Woche nach seinem Inkrafttreten wurden etwa 1200 Personen festgenommen, darunter 700 allein am 23. Mai, dem Tag nach der Großdemo. Als Beruhigungsmittel für bestehende Spannungen konzipiert, wurde das Gesetz von den Studierenden als Kriegserklärung wahrgenommen. Nach mehr als 100 Tagen und trotz der zunehmenden Repression der Polizei sind sie noch lange nicht dazu bereit, den Kampf aufzugeben.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 31. Mai 2012


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