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Kanada im Trend

Reichtum in der Hand weniger: Regierungschef Harper setzt vor Wahlen auf weitere Steuersenkungen, Aufrüstung und Sozialabbau

Von Raoul Rigault *

Zum vierten Mal binnen knapp sieben Jahren werden die Wähler in Kanada am Montag Zur Abstimmung gerufen, um über die Zusammensetzung des Bundesparlaments und der Regierung zu entscheiden. Ende März waren der seit fünf Jahren amtierende Ministerpräsident Stephen Harper und seine konservative Minderheitsregierung mit dem Versuch gescheitert, den Haushalt rigoros zu beschneiden.

Opposition zögert

Allen drei Oppositionsparteien – Liberalen, Sozialdemokraten (NDP) und Regionalisten aus Quebec – waren diesmal die Einschnitte zu weit gegangen. Sie wollten die Pläne Harpers, in den kommenden fünf Jahren die Unternehmensteuern um weitere 60 Milliarden Kanadische Dollar (CAD; ca. 43 Milliarden Euro) abzusenken, nicht mittragen. Auch die Pläne für die Ausrüstung der Armee mit neuen F-35-Jagdbombern aus den USA (Kosten 30 Milliarden CAD) und der Bau zusätzlicher Gefängnisse (zehn Milliarden CAD) kamen bei der Opposition nicht gut an. Der liberale Gegenkandidat Michael Ignatieff, ein 63jähriger Historiker und Roman­autor, versucht nun im Wahlkampf, die sozialen Aspekte zu betonen und sich als Freund der Gewerkschaften sowie der sozial Benachteiligten zu präsentieren. Aussichten auf einen Politikwechsel bestehen indes nicht. Seit Gründung des Ahornstaates 1867 haben nur Konservative und Liberale regiert, die Unterschiede zwischen beiden waren nie allzu groß.

Laut aktuellen Umfragen kann Harper hoffen, daß seine Partei erneut stärkste Kraft wird. Eine absolute Mehrheit wird er wohl auch diesmal nicht erreichen. Der Unterstützung eines Großteils des einheimischen und ausländischen Kapitals darf er sich allerdings gewiß sein. An der Börse in der Wirtschaftsmetropole Toronto ist die Stimmung gut. Der Leitindex S&P-TSX verzeichnet den höchsten Stand seit zweieinhalb Jahren. In den zurückliegenden zwölf Monaten hatte er um 20 Prozent zugelegt. Nach einem Minus von 2,5 Prozent 2009 wuchs die Wirtschaft des G7-Mitglieds 2010 bereits wieder um 3,1 Prozent. Für das laufende Jahr werden 2,7 Prozent Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwartet – mehr als in vielen anderen westlichen Industriestaaten.

Verantwortlich dafür ist die anziehende Weltkonjunktur, von der Rohstofflieferant Kanada direkt profitiert. Rund die Hälfte des Aktienmarktes entfällt auf Unternehmen der Förderung, Weiterverarbeitung und des Handels mit Erdöl, Erdgas, Uran, Kohle, Kupfer, Gold, Nickel, Blei und Molybdän. Da wirken steigende Ölpreise und Rekordwerte für das gelbe Edelmetall wie ein warmer Regen. »Es gibt eine Menge Dividendenerhöhungen und eine Menge Zuversicht kanadischer Vorstandschefs«, so Barry Schwartz, Fondsmanager beim Broker Baskin Financial. Auch die Banken, die fast ein Drittel zum Börsenwert des Leitindex beitragen, sind deutlich besser durch die Krise gekommen als ihre Konkurrenten südlich der Grenze. Nun begibt man sich dort auf Einkaufstour. So übernimmt die Toronto Dominion Bank den US-Autofinanzierer Chrysler Financial, während die Bank of Montreal die Regionalbank Marshall & Isley aus Wisconsin schluckt.

Freude über diese Entwicklung kommt nur beim kleineren Teil der 34 Millionen Kanadier auf. In der Rezession erhöhte sich die Zahl der Erwerbslosen von Oktober 2008 bis November 2010 um ein Viertel auf 1,427 Millionen. Und während die allgemeine Quote von 6,2 auf 7,6 Prozent anstieg, nahm die Erwerbslosigkeit unter Jugendlichen von 12,1 auf 13,6 Prozent zu. Zugleich wies der Chef des Gewerkschaftsbundes CLC, Ken Georgetti, darauf hin, daß auch in Kanada viele der neuen Stellen Teilzeit- oder befristete Jobs sind und zudem oft schlecht bezahlt werden. Nach Angaben des Statistikamtes erreichte das Verhältnis zwischen Einkommen und Verschuldung im Dezember 2010 den Rekordwert von 148 Prozent und lag damit zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt über dem US-Wert. Laut der gemeinnützigen Organisation Food Banks Canada sind mittlerweile 900000 Einwohner von Nahrungsmittelspenden abhängig, 300000 Kanadier sind obdachlos. Insgesamt gelten drei Millionen Bürger auch offiziell als arm. 610000 von ihnen sind minderjährig. Bei der Kinderarmut rangiert das Land unter den 31 OECD-Staaten auf Platz 22.

Paradies für Reiche

Den Grund nennt das Canadian Centre for Policy Alternatives (CCPA): Noch nie in den letzten neunzig Jahren konzentrierte sich der vorhandene Reichtum in so wenigen Händen. Entfielen im Zeitraum 1920 bis 1928 siebzehn Prozent der Einkommenszuwächse auf das reichste Hundertstel der Bevölkerung, so waren es von 1987 bis 2007 knapp 33 Prozent. Diese Gutbetuchten bringen es auf ein jährliches Durchschnittseinkommen von 404000 Dollar. Und das reichste Promille – die oberen 34000 sozusagen – konnte seine Einnahmen in den vergangenen dreißig Jahren verdreifachen. Hilfreich waren dabei die vom Harper-Kabinett vorgenommenen Steuererleichterungen, deren Gesamtumfang sich von 2006 bis 2013 auf 220 Milliarden CAD beläuft. Auch die »verantwortungsbewußte« Lohnpolitik der Gewerkschaften in der Krise leistete dazu einen Beitrag. Einer weiteren CCPA-Studie zufolge verdienen die hundert am besten bezahlten Vorstandsvorsitzenden kanadischer Firmen durchschnittlich 6,6 Millionen Dollar pro Jahr, während normale Werktätige auf 42988 und Arbeiter mit Mindestvergütung auf 19877 CAD kommen. Nachdem die stets gegen spürbare Lohnerhöhungen wetternden Chefmanager 1998 im Schnitt »nur« das 104fache des Durchschnittsbeschäftigten erhielten, streichen sie heute das 155fache ein – nicht berücksichtigt sind dabei ihre Aktienoptionen im aktuellen Gegenwert von 1,3 Milliarden CAD, also dem doppelten des offiziellen Gehalts.

* Aus: junge Welt, 27. April 2011


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