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Angriff auf Dialog

Kaschmir: An der Grenze zu Pakistan sterben fünf indische Soldaten bei einem Überfall

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Ein schwerer Zwischenfall an der indisch-pakistanischen Grenze hat das ohnehin angespannte Nachbarschaftsverhältnis der beiden Länder erneut belastet. Gegen zwei Uhr morgens geriet eine indische Grenzpatrouille am Dienstag im Poonch-Sektor an der »Linie der Kontrolle« (LoC), wie der Grenzverlauf in der Region Kaschmir offiziell heißt, in einen Hinterhalt. Ein Offizier und vier Soldaten wurden bei dem Überfall getötet. Im seit Montag tagenden Parlament in Neu-Delhi kam es daraufhin am Dienstag zu Tumulten. Sitzungen mußten mehrmals verschoben werden. Der Tenor oppositioneller Abgeordneter war eindeutig: Sie erwarten von der Regierung eine »starke Erwiderung«. Allem Anschein nach will Neu-Delhi eine solche Antwort dem Militär überlassen.

Nach indischer Darstellung ereignete sich der Zwischenfall 450 Meter hinter der Grenze auf indischem Gebiet. Etwa 20 pakistanische Soldaten sollen über die mit Stacheldrahtverhauen gesicherte LoC eingedrungen sein und die indische Patrouille überfallen haben. Laut der Zeitung ­Hindustan Times handelte es sich um eine »gemeinsame Operation der pakistanischen Armee und Militanter«. In den vergangenen Wochen hatten indische Medien wiederholt von pakistanischen Grenzverletzungen in Kaschmir berichtet. Beide Atommächte führten bereits zweimal Krieg um die seit 1947 in einen indischen und einen pakistanischen Teil gespaltene Region.

Die indische Reaktion auf das »unverschämte und provokative« Vorgehen pakistanischer Grenzer, so das Nachrichtenmagazin Outlook auf seiner Website, war unmißverständlich. Der Ministerpräsident des Bundesstaates Jammu und Kaschmir, Omar Abdullah, erklärte: »Solche Zwischenfälle helfen nicht, die Beziehungen zu Pakistan zu normalisieren oder gar zu verbessern. Sie stellen die jüngsten Angebote der pakistanischen Regierung in Frage.« Seit dem Regierungswechsel im Mai in Islamabad hatte der neue Premier Nawaz Sharif verschiedene Anläufe genommen, seinen Amtskollegen Manmohan Singh zu einem Pakistan-Besuch zu bewegen, und versucht, damit ein Zeichen zur Wiederaufnahme des Aussöhnungsdialogs zu setzen. Singh ist in einem Dorf geboren, das heute in Pakistan liegt. Bisher hielt sich Neu-Delhi mit einer klaren Antwort auf Sharifs Werben zurück. Immerhin stellte Singh ein Treffen am Rande der UN-Vollversammlung im September in New York in Aussicht.

Outlook kommentiert nun jedoch, mit der Tötung der fünf Grenzsoldaten seien die Erfolgschancen für auf ein solches Treffen gesunken. Der Parlamentsabgeordnete Arun Jaitley von der oppositionellen Indischen Volkspartei (BJP) sprach in einer ersten Stellungnahme von »ernsten verteidigungs-, sicherheits- und außenpolitischen Konsequenzen«. Die Regierung kündigte eine Erklärung des Verteidigungsministers an. Die Zeichen stehen offensichtlich auf Sturm. Der Zwischenfall vom Dienstag wirkte jedenfalls wie ein Torpedo gegen den Normalisierungs- und Friedensprozeß. Es ist schwer vorstellbar, daß der Befehl dafür von der Regierung aus Islamabad kam. Bekannt ist, daß die pakistanischen Generäle die Bemühungen Sharifs, mit den Indern ins Gespräch zu kommen, höchst argwöhnisch verfolgen. Ein Querschläger aus ihrem Lager wäre keine Überraschung.

Ebenfalls am Dienstag hatten sich das indisch-pakistanische Dialogforum Chaophraya in der indischen Zeitung The Hindu und in der pakistanischen Dawn für eine Wiederaufnahme der Gespräche zwischen den Regierungen ausgesprochen – um »ein Signal für wirkliche Aussöhnung« zwischen den Erzfeinden zu setzen. Der Dialoggruppe gehören Parlamentarier, Akademiker und Journalisten sowie einstige Regierungsbeamte, Generäle und Diplomaten an. In der Erklärung schrieben die beiden Ko-Vorsitzenden: »Wir glauben, daß für die politische Klasse in beiden Ländern die Zeit gekommen ist, wichtige Entscheidungen zu treffen, die beide, Indien und Pakistan, zum Frieden anspornt.« Die tödlichen Schüsse im Poonch-Sektor bewirken das genaue Gegenteil. Sie ermutigen die Hardliner auf beiden Seiten, weiterhin in ihren Zwangsjacken aus der Zeit des Kalten Krieges zu posieren.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 7. August 2013


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