Volksbefragung - Eine Lösung des Kaschmir-Problems?
Völkerrechtliche Aspekte des indisch-pakistanischen Regionalkonfliktes
Im Herbst 2000 erschien im Verlag Duncker & Humblot Berlin eine Dissertation von Patrick Hönig über das Kaschmir-Problem - einem der brisantesten und explosivsten Regionalkonflikte der Welt, stehen sich doch im Kampf um Kaschmir zwei atomare Schwellenländer gegenüber. In der Neuen Zürcher Zeitung erschien auf der Basis des Buches ein interessanter Bericht, der sich mit der Frage auseinandersetzt, ob ein Referendum über das Schicksal der Region mit dem Völkerrecht vereinbar, politisch sinnvoll und praktisch umsetzbar wäre. Verfasser ist Martin Scheyli. Wir dokumentieren den Artikel leicht gekürzt.
...
Im vergangenen Dezember hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit wieder einmal
auf den Konflikt um die zwischen Indien und Pakistan umstrittene Region
Kaschmir gerichtet. Die Hoffnungen auf eine dauerhafte Befriedung der seitvielen
Jahrzehnten umkämpften Hochgebirgsregion erhielten neue Nahrung, nachdem
Indien für den islamischen Fastenmonat Ramadan einen Waffenstillstand
verkündet und auch Islamabad die Bereitschaft zu einem Dialog bekundet hatte.
Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen freilich, dass allzu optimistische
Prognosen äusserst rasch wieder durch neue Konfrontationen in Frage gestellt
werden können.
... Wegen des atomaren Eskalationspotenzials und der hohen Intensität der
gegenseitig zugeführten Nadelstiche handelt es sich weltweit um den zurzeit
potenziell wohl gefährlichsten Konflikt. Die immer wieder von neuem gestellte
Frage, wie eine dauerhafte friedliche Lösung beschaffen sein könnte, war
allerdings auch angesichts der vielfach verletzten Menschenrechte nie eine nur
dieunmittelbar beteiligten Parteien betreffende Frage. Gerade beim Schutz von
bestimmten absoluten Werten wie des Selbstbestimmungsrechts der Völker,
des Gewaltverbots und der zentralen Menschenrechte handelt es sich um
Anliegen des Völkerrechts, deren Wahrung im Allgemeininteresse der gesamten
Staatengemeinschaft liegt.
Von Bedeutung waren daher im Hinblick auf mögliche friedliche Lösungen immer
auch die völkerrechtlichen Aspekte des Konflikts über das bilaterale Verhältnis
hinaus, was sich nunmehr angesichts der möglichen Eskalation bis hin zu einem
atomaren Schlagabtausch zwischen den zwei Staaten noch akzentuiert hat.
... Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen kommt einer kürzlich
erschienenen völkerrechtlichen Dissertation* besonderes Interesse zu, die den
Kaschmirkonflikt in seinen völkerrechtlichen Aspekten, insbesondere hinsichtlich
des Selbstbestimmungsrechts der Völker, analysiert. Der Autor, Patrick Hönig,
unternimmt dabei den schwierigen Versuch, die vielfältigen, äusserst komplexen
politischen Hintergründe des unmittelbar nach der gleichzeitigen Unabhängigkeit
der beiden Nachbarstaaten von der britischen Krone im Jahre 1947 entbrannten
Zwists auf ihre völkerrechtliche Relevanz hin zu untersuchen, um auf dieser
Grundlage den völkerrechtlichen Rahmen für eine Lösung bestimmen zu können.
Bereits im ersten Teil der Arbeit, welcher die Entstehung und die fatale
Zuspitzung des Kaschmirkonflikts in den wesentlichen Grundzügen beschreibt,
wird dabei deutlich, dass der Mangel an Selbstbestimmung für die betroffene
Bevölkerung, die Kaschmiri, den Kern der Problematikbildet. So war es im Jahre
1947 der (hinduistische) Maharaja des Fürstenstaates Jammu undKaschmir, der,
gestützt auf seinen absolutistischen Machtanspruch, den Beitritt zu Indien wohl
letztlich mit der Zielsetzung erklärte, auf diesem Weg die Herrschaft über die
muslimische Bevölkerungsmehrheit beizubehalten. Von einem durch den Willen
der betroffenen Bevölkerung legitimierten Beitrittsakt konnte demnach keine
Rede sein. In der Folge stand denn auch sehr bald die Frage im Zentrum der
Debatte, ob dem Selbstbestimmungsrecht nachträglich, allenfalls unter der
Aufsicht der Vereinten Nationen, mit der Durchführung eines Plebiszits
Nachachtung zu verschaffen und damit zugleich der völkerrechtliche Status des
Gebiets zu klären sei. Eine in diese Richtung gehende Position vertrat Pakistan
über den gesamten Zeitraum des nun seit mehr als fünfzig Jahren andauernden
Konflikts.
Anfänglich sprach sich auch die indische Regierung unter Nehru zugunsten einer
Volksentscheidung aus, um dann aber im Laufe der fünfziger Jahre eine
Kehrtwendung vorzunehmen. Hönig legt jedoch dar, dass den wiederholten
Erklärungen höchster Repräsentanten des indischen Staates zugunsten der
Abhaltung eines Plebiszits aus völkerrechtlicher Sicht nach Treu und Glauben
eine bindende Wirkung zukam.
Nachdem Indien den Konflikt schon am 1. 1. 1948 vor den Uno-Sicherheitsrat
gebracht hatte, waren auch die Vereinten Nationen beständig, wenn auch
letztlich erfolglos mit der Auseinandersetzung um Kaschmir befasst.
PrimäresResultat der Bemühungen der Vereinten Nationen waren - neben
verschiedenen durch denSicherheitsrat angestossenen Vermittlungsmissionen -
zwei Resolutionen einer besonderen Uno-Kommission für Indien und Pakistan
(Uncip) aus den Jahren 1948/49, nach welchen die Frage der Zugehörigkeit von
Jammu und Kaschmir durch ein Plebiszit der betroffenen Bevölkerung zu
entscheiden sei; beide Dokumente wurden sowohl von Indien als auch von
Pakistan ausdrücklich angenommen. Nach Hönig kommt den
Uncip-Resolutionen noch heute die Funktion einer potenziellen rechtlichen
Grundlage für eine Beilegung des Konflikts zu, dies trotz der Tatsache, dass sie
in der Folge nicht umgesetzt wurden und zudem Indien mehrfach versuchte, ihre
Rechtswirksamkeit mit dem Hinweis auf spätere pakistanische Aggressionen zu
bestreiten.
... Im weiteren Verlauf der Untersuchung fächert der Autor die zentrale Frage nach
der Rolle des Selbstbestimmungsrechts für eine Lösung des Konflikts weiter auf.
Auffallend ist dabei durchgehend die fundierte Weise, in der im Rahmen dieser
juristischen Untersuchung die teilweise sehr komplexen ethnischen, religiösen
und sozialen Hintergründe der politischen Auseinandersetzungen dargelegt
werden. Zunächst wird im zweiten Teil eingehend analysiert, inwiefern die
Kriterien, die aus völkerrechtlicher Sicht eine Berufung auf das
Selbstbestimmungsrecht überhaupt erst zulassen, auf die faktischen
Gegebenheiten des Kaschmirkonfliktes übertragbar sind. Im folgenden dritten Teil
wird das Selbstbestimmungsrecht bestimmten weiteren (und allenfalls mit
diesem konkurrierenden) völkerrechtlichen Grundsätzen gegenüberstellt. Dabei
zeigt sich, dass das Recht der Bevölkerung Kaschmirs auf Selbstbestimmung
weder von Indien noch von Pakistan durchdie Berufung auf eine Verletzung
nationaler territorialer Integrität beschränkt werden darf. Andererseits weist der
Autor aber darauf hin, dass dasvölkerrechtliche Gebot der Friedenssicherung
angesichts der enormen Gefahren, die mit einerEskalation verbunden sind, einen
äusserst vorsichtigen Umgang mit dem Konflikt verlangt: Da der plebiszitär noch
festzustellende Wille der Bevölkerung grundsätzlich ... eine der Konfliktparteien zu desavouieren droht, wäre auch dessen allfällige politische Umsetzung nur in sehr langsamen Schritten und unter internationaler Überwachung möglich.
Im abschliessenden vierten Teil der Untersuchung geht der Autor der Frage nach,
wie die verschiedenen Bemühungen zur Lösung des Konflikts zu beurteilen sind,
dies auf der Grundlagedes Selbstbestimmungsrechts und unter Berücksichtigung
der Besonderheiten des politischen Kontexts. Der Schwerpunkt liegt hier auf
Erörterungen zu den Voraussetzungen der Abhaltung eines (unter dem
Blickwinkel des Selbstbestimmungsrechts unumgänglichen) Plebiszits. Geboten
wären insbesondere die Rückkehr der Vertriebenen, die Vereinbarung eines
nachhaltigen Waffenstillstands und einer Demilitarisierung der Region sowie die
Einbeziehung der kaschmirischen Bevölkerung bereits in der Phase der
Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien.
... Der Beitrag, den das Völkerrecht zur Beilegung des Kaschmirkonflikts leisten
kann, ist bisher noch von beschränkter Wirkung geblieben. Dieses Fazit zieht
auch Hönig. Dessen ungeachtet bietet seine Arbeit dank der ausgedehnten
Verarbeitung der politischen Hintergründe und Entwicklungen bis in die jüngste
Zeit auch über die primär völkerrechtlichen Bezugspunkte hinaus eine Fülle von
ausführlich dokumentierten Informationen. Ein Anhang enthält eine detaillierte
chronologische Auflistung der Entwicklungen des Kaschmirkonflikts zwischen
1846 und 1999 sowie die wichtigsten zeitgeschichtlichen Dokumente.
* Patrick Hönig: Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf
Selbstbestimmung. Verlag Duncker &Humblot, Berlin 2000. 405 Seiten.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 9. Januar 2001
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