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"Zwei Wochen nach dem Beben demonstriert die Neue Weltordnung ihre Menschenfeindlichkeit"

Über 50.000 Todesopfer in Kaschmir - Auf die Naturkatastrophe folgt die Polittragödie

Naturkatastrophen bringen zuweilen Politiker und Regierungen aneinander näher, die sich zuvor noch spinnefeind waren. So hoffte man - wenn angesichts der über 50.000 Toten überhaupt von "Hoffnung" gesprochen werden darf - auch nach dem großen Erdbeben in der pakistanisch-indischen Grenzregion Kaschmir. Das es anders kam, dass die Politiker in Indien und Pakistan offenbar nicht über ihren Schatten springen können, ist Thema dieser Seite. Daneben rückt aber auch das Versagen der neuen Weltordnung, die wir zu Recht immer wieder als Weltunordnung kennzeichnen, in den Blick.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Hintergrundartikel, die sich dieser Problematik annehmen. Sie sind beide am selben Tag in der Zeitung "junge Welt" erschienen.


Polittragödie um Kaschmir

Das Erdbeben und die Folgen: Indien und Pakistan verpaßten die Chance für vertrauensbildende Maßnahmen

Von Hilmar König, Neu Delhi

In den ersten Tagen nach der Erdbebenkatastrophe vom 8. Oktober in der Kaschmirregion hatte es den Anschein, als ob Indien und Pakistan gemeinsames Leid auch gemeinsam tragen würden. Es schien, als würden sie die Chance nutzen, mit den erforderlichen humanitären Maßnahmen Vertrauen zu schaffen und so den Kaschmirkonflikt ein beträchtliches Stück einer politischen Lösung näher zu bringen. Inzwischen haben sich solche Hoffnungen zerschlagen. Neu-Delhi wie Islamabad tragen vor dem Hintergrund der Erdbeben-Tragödie politische Gefechte aus und rücken keinen Millimeter von ihren starren Positionen ab. Das Erdbeben und dessen fürchterlichen Folgen konnten nichts an dem Zustand – Spaltung Kaschmirs, bewaffneter Aufstand, Menschenrechtsverletzungen, Terroranschläge und Kompromißlosigkeit bei der Suche nach einer politischen Regelung des Problems – ändern, der seit mehr als einem halben Jahrhundert in der Kaschmirregion besteht.

Indien bot zwar schon gleich nach dem Beben an, daß pakistanische Rettungsteams über indisches Territorium in abgeschnittene Bergdörfer gelangen dürften. Zugleich wären indische Rettungsteams bereit, über die Grenze (offiziell Kontrollinie genannt) hinweg Notleidenden im pakistanischen Kaschmirteil zu Hilfe zu eilen. Doch Islamabad reagierte nicht. Angesichts des prekären Mangels an Hubschraubern auf der pakistanischen Seite offerierte Neu-Delhi dann ausgerechnet Armeehelikopter samt Besatzungen. Pakistan schwieg ziemlich lange, ehe Präsident Musharraf das Angebot aus sicherheitspolitischen Gründen verwarf. Gegenüber BBC erklärte er entrüstet, man würde zwar indische Hubschrauber, aber ohne Piloten akzeptieren. Hinter der Kontrollinie befänden sich immerhin militärische Anlagen, die man dem Feind nicht präsentieren will. Einen reziproken Vorschlag Pakistans, so gab sich Musharraf »200 Prozent« sicher, würden die Inder ebenfalls ablehnen. Damit war die Sache erledigt, denn die indischen Hubschrauber sind natürlich Militärgerät, das man laut dem indischen Verteidigungsminister nicht Feindeshand anvertrauen möchte.

Zehn Tage nach dem Erdbeben dann ergriff der General die Initiative und schlug vor, die Kontrollinie zu öffnen, damit die Kaschmiren sich gegenseitig beim Wiederaufbau helfen können. Indien begrüßte diesen Vorschlag, wartet jedoch bis heute auf eine offizielle Information aus Islamabad über praktische Durchführungsbestimmungen. Immerhin gab Neu-Delhi einem dringenden Wunsch der Kaschmiren nach, wenigstens Telefonate zwischen beiden Kaschmirteilen zu ermöglichen. Seit dem 17. Oktober ist das 14 Tage lang aus Srinagar, Uri, Jammu und Tanghdar möglich. Musharraf hakte nach und drängte nochmals – wiederum nicht offiziell, sondern über Medien –, die »Kontrollinie irrelevant zu machen, sie zu öffnen, damit sich die Menschen gegenseitig helfen können«. Um dem General den Wind aus den Segeln zu nehmen, kam aus Neu-Delhi der clevere Gegenvorschlag, drei Hilfs- und Medizinzentren um den 25. Oktober herum an der Kontrollinie für Erdbebengeschädigte von der pakistanischen Seite einzurichten. Zu diesen Camps, in denen Hilfesuchende übernachten können, haben auch indische Kaschmiren Zugang, die dort ihre Verwandten besuchen können. Damit ist für Indien eine Kontrolle des Personenverkehrs über die Grenze hinweg gesichert. Islamabads Reaktion steht noch aus.

Dieses Hin und Her zeigt, daß beide Nachbarn bemüht sind, politisch Kapital aus der miserablen Situation zu schlagen, in der sich noch immer Hunderttausende befinden, die mit Schrecken dem nahenden Winter entgegenblicken. Wie in Sri Lanka nach dem Tsunami die tamilischen Befreiungstiger und die Regierung nicht auf einen Nenner kommen konnten, verpaßten auch Pakistan und Indien die wohl einmalige Gelegenheit, mit dem Erdbeben einen Durchbruch im bilateralen Verhältnis zu erzielen und einen seit langem schwelenden Krisenherd zu löschen. Der von der Natur verursachten Tragödie fügten die Politiker eine von ihnen verschuldete hinzu.


Zwei Wochen danach

Zeltmangel im Erdbebengebiet von Kaschmir

Von Raoul Wilsterer


Zwei Wochen nach dem Beben, das die Region Kaschmir erschütterte, herrscht weiterhin nacktes Chaos. Die so oft zitierte »internationale Gemeinschaft« vermochte es bisher nicht, ausreichend Hilfe zu organisieren. Deren oberster Repräsentant Kofi Annan präsentierte das katastrophale Ausmaß seiner Hilflosigkeit, als er sich am Samstag erneut, diesmal mit einem schriftlichen Appell, an die UN-Mitgliedsstaaten wandte, doch bitte »globale Solidarität« zu zeigen. Noch immer fehle es im pakistanisch-indischen Erdbebengebiet an den notwendigsten Dingen. Die US-Streitkräfte setzten daraufhin von Ramstein aus ein mobiles Feldlazarett in Marsch und kündigten die Bereitstellung von 20 Hubschraubern an.

Zwei Wochen nach dem Beben befinden sich diverse NATO-Truppen vor Ort – allein: Es fehlt an einfachem Equipment, so daß Ärzte im Freien operieren müssen. Markus Kristen, medizinischer Koordinator der Johanniter-Unfallhilfe im Krisengebiet, antwortet auf die Frage von tagesschau.de, welche Hilfsgüter heute am dringendsten gebraucht werden, erschreckend unverblümt: »Es fehlen Zelte, Zelte und noch mal Zelte. Es sind die Bergregionen, die am schlimmsten betroffen sind. Hier kündigt sich der Winter an. Nachts wird es bitterkalt, und die Menschen müssen im Freien übernachten. Das größte Problem ist im Moment, daß viele Menschen obdachlos sind.«

Zwei Wochen nach dem Beben steigt die Zahl der Opfer immer noch an. Der Chef des pakistanischen Katastrophenschutzes, Generalmajor Farooq Ahmad Khan, sprach am Samstag von mehr als 53 000 Toten und 75 000 Verletzten; im indischen Teil Kaschmirs starben nach Behördenangaben über 1300 Menschen. Andere Quellen gehen von 79 000 Toten und 3,3 Millionen Menschen ohne Dach über dem Kopf aus. Diejenigen, die fliehen können, machen sich auf den Weg. So haben angesichts der fürchterlichen Versorgungslage bislang Zehntausende die fast völlig zerstörte Region um die Stadt Balakot verlassen. Seit dem Beben seien rund 35 000 Menschen aus dem Gebiet geflohen, sagte ein Arzt des Krankenhauses der nahe gelegenen Stadt Mansera am Samstag. Viele von ihnen hätten gebrochene Knochen und schwere Wunden. Die Mediziner seien von dem Ansturm überfordert.

Zwei Wochen nach dem Beben kursieren Gerüchte über Krisengewinnler und Korruption. Pakistanische Beamte hätten – so die US-Organisation »Human Rights Watch« – Zelte und andere Versorgungsgüter gehortet, anstatt sie sofort den Erdbebenopfern zu übergeben. Demzufolge sind für die Lagerung von Hilfsgütern Zivilbeamte verantwortlich, die unter Aufsicht der Militärbehörden arbeiten. Diese hätten angelieferte Waren in ein Depot in Muzaffarabad gebracht und zur Begründung angeführt, sie wollten Probleme für den Fall vermeiden, daß ranghöhere Beamte die knappen Vorräte plötzlich gezielt anforderten. Wenn sie die Zelte einfach ausgäben, könnten sie ihren Job verlieren, sollen die Untergebenen laut »Human Rights Watch« gesagt haben. Der Sprecher der pakistanischen Streitkräfte, General Shaukat Sultan, widersprach. Der Bericht entbehre jeglicher jeglicher Grundlage. Weder sei es notwendig, Hilfsgüter zu lagern, noch gebe es ein Depot dafür.

Zwei Wochen nach dem Beben warnte der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Pakistan, Jan van de Moortele, davor, daß für eine angemessene Versorgung der Erdbebenopfer kaum noch Zeit bleibe. Mit sinkenden Temperaturen sänken auch die Überlebenschancen vieler Obdachloser.

Zwei Wochen nach dem Beben demonstriert die Neue Weltordnung ihre Menschenfeindlichkeit.

Aus: junge Welt, 24. Oktober 2005


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