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Kompromiss oder endlose Fehde

Ist ein Ende in Sicht? / Stillschweigendes Einvernehmen über Unantastbarkeit der Grenzlinie

Von Hilmar König, Delhi *

Ein Kommandeur der Hisbul Mudschaheddin, zwei indische Soldaten, acht mutmaßliche Rebellen, neun Zivilisten – das ist die Bilanz an Todesopfern seit Anfang der Woche im indischen Jammu und Kaschmir. Sie zeigt die Dringlichkeit einer Lösung des Kaschmirkonflikts.

Während sich Indien und Pakistan auf ihren 60. Unabhängigkeitstag Mitte August vorbereiten, wird hinter den Kulissen die Suche nach einer Beilegung des Kaschmirkonflikts fortgesetzt. Indiens Premier Manmohan Singh erregte Mitte Juli Aufsehen, als er in einer Rede an der Universität von Jammu sagte, die Kontrolllinie, die beide Seiten nicht als Staatsgrenze anerkennen, sollte in eine »Linie des Friedens« umgewandelt werden. Separatistische muslimische Kreise und hindufundamentalistische Kräfte wiesen dies brüsk zurück. Die Öffentlichkeit verstand Singhs Bemerkung jedoch als Fingerzeig in die Richtung, in der eine Regelung des seit 60 Jahren schwelenden Kaschmirproblems zu finden ist.

Singh erklärte in Jammu: »Grenzen können nicht verändert werden, aber man kann sie irrelevant machen... Die Linie der Kontrolle kann eine Linie des Friedens mit freierem Austausch von Ideen, Gütern, Dienstleistungen und Menschen werden. Ich weiß, dass die Sehnsucht nach Frieden hier in Jammu und Kaschmir am intensivsten ist.« Er könne sich vorstellen, die natürlichen Reichtümer, zum Beispiel die Wasserkraft, auf beiden Seiten gemeinsam zu nutzen. Trotz etlicher Schwierigkeiten gebe es keine Alternative zur Arbeit für den Frieden.

Pakistans Präsident Pervez Musharraf hatte im Mai geäußert, die Umrisse einer Lösung der Kaschmirfrage seien von beiden Staaten bereits ausgearbeitet worden. Sie ähnelten seinem Plan, der Entmilitarisierung, Selbstregierung und gemeinsames Management der Angelegenheiten der Region vorsah. Doch müssten zunächst die Konflikte in Pakistan selbst beendet werden (die sich seit Mai jedoch zugespitzt haben). Kaschmir, so Musharraf, sei ein verzwicktes Problem, das nur durch Kompromisse gelöst werden könne. Sobald man aber über konkrete Zugeständnisse rede, gebe es in Pakistan und in Indien einen Aufschrei der Ablehnung. Musharraf und Singh gaben unabhängig voneinander auch zu, dass etliche internationale Modelle geprüft werden, etwa die österreichisch-italienischen Regelungen für Südtirol oder die für Nordirland und Andorra.

Vertrauensbildende Maßnahmen haben das zweiseitige Verhältnis bereits erheblich verändert. So nahm Sardar Abdul Qayum Khan im Frühjahr an einer Konferenz in Delhi teil. Khan war nicht nur Premier und Präsident des von Pakistan verwalteten Teils Kaschmirs, er führte auch die pakistanischen Truppen und Stammeskrieger, die dieses Gebiet 1947 unter dem Banner des »Heiligen Krieges« erobert hatten. Jetzt tritt er als Mann des Friedens auf. Jede Lösung, sagte er in einem Zeitungsinterview, sei ihm recht, »wenn sie das Leben von Kaschmiren rettet«.

Sardar Khan umriss das Problem genau: »Wir müssen die Realitäten akzeptieren. Wir können keine Unabhängigkeit erlangen. Es gab gute Gründe, dass die Resolutionen der Vereinten Nationen zu Kaschmir diese Möglichkeit ausschlossen. Indien wird unter keinen Umständen eine weitere Teilung hinnehmen. In der gegenwärtigen Weltlage würden die Hauptmächte das Entstehen eines neuen Staates mit Muslimmehrheit nicht akzeptieren. Ob mir diese drei Tatsachen gefallen oder nicht, ich muss in diesem Rahmen wirken. Deshalb frage ich jene, die Dialog und Kompromiss ablehnen, was ist eure Alternative? Wir können gute Nachbarn sein oder uns endlos befehden. Welche Zukunft wollen wir?« Sollten Indien und Pakistan ohne Ende über die Vergangenheit streiten, warnte Khan, könnten »Außenseiter über unsere Zukunft entscheiden«.

Parallel zum indo-pakistanischen Dialog debattiert die indische Regierung mit den politischen Kräften, Strömungen und Parteien im indischen Jammu und Kaschmir am Runden Tisch. Die dritte Runde, an der die Separatisten der kaschmirischen Hurriyat-Konferenz nicht teilnahmen, fand im April statt. Arbeitsgruppen für ökonomische Entwicklung, gutes Regieren, vertrauensbildende Maßnahmen und Beziehungen über die Kontrolllinie hinweg legten ihre Berichte vor. Die fünfte Gruppe, die das entscheidende Thema der konstitutionellen Zukunft Jammus und Kaschmirs behandelt, musste einen Offenbarungseid leisten. Sie kam zu keinem Ergebnis. Fundamentalisten im hinduistischen wie im islamischen Lager betrachten den Runden Tisch ohnehin als zwecklos. Die einen meinen, er bringe das Gebiet nicht näher zu Indien, sondern fördere die Abspaltung, die anderen sprechen der Regierung Ernsthaftigkeit und guten Willen ab.

Premierminister Singh erläuterte dagegen an der Jammu-Universität seine »Vision«: Das neue Jammu und Kaschmir solle Frieden, Prosperität und Macht des Volkes symbolisieren und die Bestrebungen der Bevölkerung in den Regionen Jammu, Kaschmir und Ladakh berücksichtigen.

Zahlen und Fakten

Die dreigeteilte »Krone Indiens«

Kaschmir, von 1846 bis 1947 ein Fürstentum im Norden des südasiatischen Subkontinents, wegen seiner Lage und der reizvollen Landschaft als »Krone Indiens« bezeichnet, ist derzeit dreigeteilt.
  • Der indische Unionsstaat Jammu und Kaschmir nimmt eine Fläche von 101 387 Quadratkilometern ein und umfasst drei Regionen: Kaschmir mit mehrheitlich muslimischer, Jammu mit mehrheitlich hinduistischer und Ladakh mit mehrheitlich buddhistischer Bevölkerung. Die etwa acht Millionen Bewohner gehören den ethnischen Hautpgruppen der Dogras, Punjabis, Kaschmiren, Gujjars, Bakarwals, Ladakhis und Baltis an. Sommerhauptstadt ist Srinagar, Winterhauptstadt Jammu. Der Unionsstaat hat eine eigene Verfassung, die Verfassung der Union räumt ihm besondere Rechte ein. Ein Chefminister steht der Regierung vor, ein Gouverneur repräsentiert Indiens Staatsoberhaupt.
  • Das von Pakistan verwaltete sogenannte Azad Kashmir (Freies Kaschmir) mit etwa vier Millionen Bewohnern ist auch als PAK (von Pakistan verwaltetes Kaschmir) bekannt und wird von Indien als POK (von Pakistan okkupiertes Kaschmir) bezeichnet. Es besteht aus dem eigentlichen 13 300 Quadratkilometer großen PAK mit der Hauptstadt Muzaffarabad sowie den nördlichen Gebieten Gilgit und Baltistan, die unter direkter Verwaltung und Kontrolle Islamabads stehen und 72 496 Quadratkilometer messen. Die ethnischen Hauptgruppen, nahezu 100 Prozent muslimisch, sind Abbasi, Ansari, Gujjar, Jat, Malik, Mughal, Pashtunen, Rajputen, Rehmani, Sudhan und Kaschmiren. PAK hat einen eigenen Präsidenten und einen Premier, ist aber finanziell völlig von Pakistan abhängig, das auch über Verteidigung, Außenpolitik und Währung entscheidet.
    Diese beiden Teile werden größtenteils durch die »Linie der Kontrolle« (LOC) getrennt, auf die sich beide Seiten 1972 im Suchetgarh-Abkommen einigten, die offiziell jedoch nicht als Staatsgrenze gilt.
  • Das dritte Kaschmirgebiet befindet sich unter chinesischer Kontrolle. Es handelt sich um etwa 40 000 Quadratkilometer in Ladakh, die 1962 im Krieg von China erobert wurden und als Aksaichin bekannt sind. Dazu kommt der 5000 Quadratkilometer messende Transkarakorum-Trakt (Raksam und Shaksgam-Tal), den Pakistan 1963 ohne Konsultation mit Indien an China abtrat. H.K.


* Aus: Neues Deutschland, 3. August 2007


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