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Kampf um Kaschmir: Indien möchte Gunst der Stunde nutzen

Im "Krieg gegen den Terror" verfolgt Indien eigene Ziele

Der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 15. November 2001 haben wir den folgenden Artikel entnommen, in dem die These vertreten wird, dass Indien den "Krieg gegen den Terror" nutzt, um in der Kaschmirfrage in die Vorhand zu kommen. Der Artikel erschien unter dem Titel "Drakonische Gesetze und neue Scharmützel in Kaschmir"; Autor ist Joseph Keve (Bombay).

Für eine wachsende Zahl von InderInnen ergibt der US-Krieg gegen Afghanistan wenig Sinn. Immer mehr kritische Stimmen interpretieren die Bombenangriffe auf das ohnehin schon zerstörte Land und die völlig verarmte Bevölkerung als Ausdruck einer närrischen Arroganz. Für sie sprach die preisgekrönte Schriftstellerin Arundhati Roy aus dem Herzen: «Die internationale Koalition gegen Terror ist im Wesentlichen eine Intrige der reichsten Länder der Welt», schrieb sie. «Sie fertigen und verkaufen fast alle Waffen der Welt und besitzen die grössten Arsenale an biologischen, chemischen und atomaren Massenvernichtungsmitteln. Sie haben die meisten Kriege geführt, sie waren für die meisten Völkermorde, Unterwerfungen, ethnischen Säuberungen und Menschenrechtsverletzungen der modernen Geschichte verantwortlich, und sie haben unzählige Diktatoren und Despoten gefördert, bewaffnet und finanziert.» Auch der angesehene Journalist Vinod Mehta, Chefredaktor des Magazins «Outlook», formulierte eine scharfe Kritik. «Die USA sollten so mutig sein, auch ihren eigenen Dämonen gegenüberzutreten.» Offensichtlich, so schreibt er weiter, habe sich die US-Gesellschaft «nie die Frage gestellt, warum die einzige Supermacht der Welt in Arabien, Teilen von Südasien, Afrika und Südamerika so verhasst ist». Genauso denken mittlerweile viele Menschen in Amritsar und Madurai, Bombay oder Kalkutta.

Dass nicht nur ein Usama Bin Laden zu terroristischen Mitteln greift, hat sich in Indien schon wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September herumgesprochen. «Amerikas selbst erklärter Krieg gegen den Terrorismus hat die ersten Opfer gefordert», schrieb die angesehene «Times of India» am 18. September. «Sie starben nicht in der gesetzlosen Wildnis des talibanisierten Afghanistan, sondern im hoch angesehenen zivilisierten Amerika.» Die ersten Opfer waren ein 52 Jahre alter indischer Geschäftsmann aus der Glaubensgemeinschaft der Sikhs und ein 40-jähriger Ladenbesitzer aus Pakistan. «Wie kann man denen, die sich für die zivilisiertesten Menschen halten, bloss beibringen, dass sie einen Turban vom nächsten unterscheiden können?», fragte in jenen Tagen Gurminder Singh, ein Hotelbesitzer in Bombay. Er kommt aus dem gleichen Bezirk im indischen Bundesstaat Punjab wie der Sikh, der in Arizona erschossen wurde. Eine in New York ansässige asiatisch-amerikanische Rechtshilfe- und Bildungsstiftung zählte in den ersten zwei Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon über 50 rassistische Angriffe auf AsiatInnen; ein amerikanisch-islamisches Komitee in Washington registrierte sogar über 400 Attacken.

Die fast zwei Millionen Mitglieder zählende Gemeinschaft der Indisch-AmerikanerInnen erlebte so eine doppelte Tragödie. Denn bei dem Anschlag auf das World Trade Center waren rund zweihundert aus Indien stammende Menschen umgekommen – wahrscheinlich die grösste ethnische Minderheit unter den Opfern. Es überrascht daher nicht, dass sich viele der im Ausland – vorwiegend in den USA und den Golfstaaten – lebenden InderInnen Sorgen machen. Die Geldüberweisungen der AuslandinderInnen in die Heimat sind im September und Oktober jedenfalls spürbar angestiegen. Zugenommen hat auch ihre Nachfrage nach Immobilien in indischen Städten.

Die Gunst der Stunde

Für die in Neu-Delhi regierende Bharatiya Janata Party (BJP) ist der Krieg jedoch so etwas wie ein Gottesgeschenk; die hinduistisch-nationalistische Volkspartei nutzt die Situation, um mit Pakistan und den Muslimen in aller Welt alte Rechnungen zu begleichen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, leben doch in Indien mehr Muslime (rund 120 Millionen) als in allen anderen Staaten, Indonesien ausgenommen. Schon am 27. September verbot die Zentralregierung die Islamische Studentenbewegung Indiens (Simi), ordnete Razzien in zehn Bundesstaaten an, liess überall deren Büros schliessen und 120 AktivistInnen verhaften. In den letzten Jahren hatte Simi immer wieder gegen die Angriffe auf die muslimische Minderheit, deren Einrichtungen und Moscheen protestiert. Bald darauf, am 17. Oktober, legte die von BJP geführte Koalition in Neu-Delhi den Entwurf eines neuen Antiterror-Gesetzes vor. Dieses Gesetz – es muss noch vom Parlament verabschiedet werden, das jetzt zu seiner Wintersession zusammentritt – sieht erhebliche Einschränkungen der Informations- und Meinungsfreiheit vor. Kommt es durch, darf die Polizei alle «Störenfriede» bis zu drei Monaten festhalten, ohne dass diese einem Haftrichter vorgeführt werden müssen. MenschenrechtlerInnen vergleichen dieses Gesetz mit den Notstandsverordnungen (1975–1977) von Indira Gandhi; damals wurden fast 35 000 Oppositionelle eingesperrt. Die scharfe Kritik, vor allem vorgetragen von der parlamentarischen Linken, nimmt die BJP gelassen hin – diese seien halt «terroristenfreundlich». Die regierenden Hindu-Chauvinisten polarisieren mit Absicht – Anfang nächsten Jahres stehen in zwei Staaten Wahlen an, darunter im bevölkerungsreichsten und hinduistisch dominierten Bundesstaat Uttar Pradesh.

Die Folgen dieser Politik liessen nicht lange auf sich warten. Am 27. Oktober kam es in Malegaon (Bundesstaat Maharashtra) zu ersten Zusammenstössen zwischen Hindus und Muslimen. Einige Jugendliche verteilten Handzettel, in denen sie zum Boykott US-amerikanischer und britischer Waren aufriefen, die Polizei griff ein, am Ende lagen sieben Menschen tot am Boden und fünfzig verletzt im Krankenhaus.

Terroristen sind immer die anderen

Innenpolitisch nutzt die Regierung in Delhi die neue Situation, aussenpolitisch aber ist sie in eine heikle Lage geraten. In den letzten Jahren hatte sich das Verhältnis zwischen den Westmächten und Indien in dem Masse verbessert, wie Pakistan – Indiens ewiger Gegner – bei den USA in Ungnade fiel. Dass Pakistan nach der US-amerikanischen Kriegserklärung wieder zu Washingtons wichtigstem Frontstaat wurde, hat die Herrschenden in Neu-Delhi jedoch stark verunsichert. Daran änderten auch die vielen Besuche diverser US-Botschafter nichts. Tony Blair machte seine Aufwartung, der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder war da, der japanische Premier hatte vorbeigeschaut. Und jedes Mal wiederholte Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee, was er gleich nach den Attacken am 11. September gesagt hatte: Seine Regierung verurteile entschieden jede Form von Terrorismus und unterstütze die Bemühungen der Kriegsallianz vorbehaltslos.

Bei seinen wortstarken Erklärungen hatte Vajpayee freilich einen bestimmten Terrorismus besonders im Sinn. Nachdem nämlich am 1. Oktober ein Selbstmordkommando der aus Pakistan operierenden Jaish-e-Mohammad das Gebäude des Regionalparlaments in Srinagar (Kaschmir) stürmen wollte und dabei vierzig Menschen tötete, schrieb Vajpayee einen geharnischten Brief an den wieder mit Pakistan verbündeten US-Präsidenten George W. Bush. Indien habe jede Geduld verloren und werde nun mit allen Mitteln gegen den grenzüberschreitenden Terrorismus von Pakistan vorgehen. Kurz vor Colin Powells Besuch in Neu-Delhi Mitte Oktober brüskierte die BJP-Regierung den US-Aussenminister, indem indische Truppen erstmals den voriges Jahr mit Pakistan vereinbarten Waffenstillstand brachen: Sie feuerten über die Grenze. Rund dreissig pakistanisch-muslimische Kämpfer wurden dabei getötet. «Wenn US-Truppen zehntausend Kilometer entfernt Terroristen und die Taliban-Regierung angreifen dürfen, muss Indien ja wohl erlaubt sein, im Interesse der nationalen Sicherheit zu handeln», sagte ein ehemaliger Minister. Und Rajnath Singh, Chefminister von Uttar Pradesh, fügte hinzu: «Pakistan muss begreifen, dass wir den Terrorismus entschieden bekämpfen.»

Diese Art von Terrorismusbekämpfung hatten die Westmächte vermutlich nicht im Sinn, als sie Delhi für die Antiterror-Allianz anwarben. In Indien hingegen fand die Kriegsaktion in Kaschmir einigen Anklang – besonders bei fanatischen Gruppen wie Vishva Hindu Parishad, Bajrang Dal oder der im Bundesstaat Maharashtra (Hauptstadt: Bombay) mitregierenden Shiv Sena. Hardliner wie Verteidigungsminister George Fernandes oder Innenminister Shri Lal Krishna Advani fordern weitere Militärschläge. So fordert der Krieg der Westmächte gegen Afghanistan auch andernorts Opfer. Die Bevölkerung von Kaschmir – in dieser Region starben in den letzten zwanzig Jahren rund 30 000 Menschen, darunter viele ZivilistInnen, durch Gewaltakte von beiden Seiten – wird nun noch mehr drangsaliert und marginalisiert. Die von Friedens- und Menschenrechtsgruppen immer wieder initiierten Massnahmen zur Verständigung haben derzeit noch weniger Aussichten als zuvor. Aber wer will schon Vertrauensbildung in Zeiten des Krieges?
Joseph Keve, Bombay

Aus: WoZ, 15. November 2001

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