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Tschetschenien: Einigeln in Feindesland

Der Krieg ging auch im Jahr 2000 weiter - Und kein Ende in Sicht

Offiziell war am 14. April 2000 die großflächige Militäraktion gegen die tschetschenischen Separatisten beendet worden. Der zweite Tschetschenienkrieg (der erste hatte 1994 bis 1996 stattgefunden) war nicht minder grausam und opferreich geführt worden und hat tiefe Wunden in die tschetschenische Bevölkerung gerissen und wird eine Normalisierung der Beziehungen zum russischen Zentralstaat, der als Besatzungsmacht empfunden wird, auf lange Zeit unmöglich machen. Bis heute liegen nur unvollständige amtliche Zahlen über die getöteten Militärangehörigen, keine Zahlen über die Opfer unter der Zivilbevölkerung und keine Angaben über die erlittenen Schäden und Zerstörungen vor. Die Behauptung von Vizegeneralstabschef Manilow, 13.800 "Banditen" (also tschetschenische "Terroristen") seien getötet worden, dürfte mit Blick auf die bewaffneten Separatisten zu hoch gegriffen sein und enthält auch keinen Hinweis auf die tschetschenischen Zivilisten (es sei denn, jeder getötete Tschetschene ist automatisch ein "Bandit"). Die Bilder der weitgehend zerstörten Hauptstadt Grosny sprechen aber eine allzu deutliche Sprache. Offiziellen Angaben zufolge starben während des Krieges 2.472 russische Soldaten. Inoffizielle Schätzungen gehen vom Zwei- bis Dreifachen aus.

Mehr als 200.000 Menschen sind in die Nachbarrepubliken, insbesondere nach Inguschetien geflohen. Der Krieg tötet auch heute noch: durch liegen gebliebene Minen und Blindgänger. Russische Flugzeuge haben während des Krieges Tausende von handtellergroßen Tarnminen über den Bergen und Wäldern Tschetscheniens abgeworfen und Minenfelder um Städte und Dörfer angelegt, um die Bewegungsfreiheit der Separatisten einzuschränken. Die Rebellen selbst verminten Treppenaufgänge, Häuser und Straßenzüge. Dazu kommen hundert Tausende Blindgänger. Ausländische Minenexperten schätzen den Anteil der Blindgänger auf bis zu zwanzig Prozent (im Kosovo beträgt der Anteil der Blindgänger an den abgeschossenen NATO-Granaten und -Raketen schätzungsweise "nur" fünf Prozent; NATO-Munition ist eben moderner als die oft veraltete und schlecht gewartete Munition der russischen Streitkräfte).

Untersuchungen, die im Sommer 2000 von den beiden großen Tageszeitungen Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung in Auftrag gegeben wurden, belegen zudem, dass Menschenrechtsverletzungen und Plünderungen auch nach dem offiziellen Ende des Krieges weiter an der Tagesordnung sind. So beweisen Dokumente aus der von Moskau eingesetzten "Übergangsverwaltung für Tschetschenien", dass immer noch Zivilisten von russischen Soldaten und Polizeikräften willkürlich festgenommen, gefoltert und ermordet werden. Außerdem beteiligen sich russische Offiziere in großem Umfang an Raub und illegalem Handel mit tschetschenischem Erdöl und Metallen.

Selbst die russlandfreundliche tschetschenische Verwaltung befürchtet, dass die vom Krieg ohnehin schwer geschädigte Infrastruktur des Landes vollständig zusammenbrechen wird. Auf knapp zwei Milliarden US-Dollar belaufe sich beispielsweise der Schaden, der durch Plünderungen allein im Energiesektor entstanden sei, heißt es in einem Regierungsbericht "Über die Lage im Energiebereich".

Gleichzeitig gehen die Kampfhandlungen weiter. Russische Überfälle auf tschetschenische Ortschaften scheinen ebenso an der Tagesordnung zu sein wie tschetschenische Terrorkommandos und "Racheaktionen". So starben z.B. in einer einzigen Oktoberwoche nach Angaben aus Moskau 20 russische Soldaten, 48 wurden verletzt. Tschetschenische Rebellen kämpfen nicht nur in den Bergregionen, sondern halten sich sogar noch in Grosny auf. Deren Kampfkraft ist immer noch groß und deren Aktionen kalkulieren "Vergeltungsschläge" der russischen Truppen ein, die ihrerseits auf die Zivilbevölkerung wenig Rücksicht nehmen. Die leidtragende Bevölkerung wendet sich immer stärker nicht nur vom russischen "Besatzungsregime", sondern auch von den tschetschenischen Kämpfern ab. Deren Ziel, die Errichtung einer islamischen Ordnung nach afghanischem Vorbild wird von der Mehrheit der ansässigen Bevölkerung nicht geteilt. In der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und der Isolierung der bewaffneten Separatisten müssten denn auch die Ansatzpunkte für eine Entmilitarisierung des Konflikts zu suchen sein. Voraussetzung dafür ist aber erstens eine Änderung der russischen Besatzungspolitik, zweitens die Unterbrechung der Nachschublinien für die tschetschenischen Partisanen und drittens die internationale Unterstützung eines russisch-tschetschenischen Dialogs unter Einschluss der zivilen Akteure. Die OSZE könnte hierbei eine positive Rolle als Mediatorin übernehmen.
Aus: Friedens-Memorandum 2001, hrsg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag, Kassel 2001, S. 24-25

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