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Inguschetien erschüttert

Ein schwerer Anschlag erschüttert die russische Kaukasusrepublik

Dort wurden am Montag mindestens 20 Polizisten getötet und über hundert weitere Menschen verletzt, darunter seien elf Kinder und zahlreiche Bewohner angrenzender Häuser. Ein Selbstmordattentäter hatte einen mit Sprengstoff beladenen Kleinlaster im Hof des Polizeihauptquartiers in der Gebietshauptstadt Nasran in die Luft gesprengt. Dort hatten sich die Beamten gerade zum morgendlichen Appell versammelt. Der Mann durchbrach mit dem Fahrzeug das Sicherheitstor der Polizeiwache, wie die Moskauer Staatsanwaltschaft mitteilte. Dann habe sich eine »gewaltige Explosion« ereignet. Die Bombe hatte demnach eine Sprengkraft von etwa 50 Kilogramm TNT.

Die Lage in der Kaukasusregion ist seit Monaten äußerst instabil. Im Juni war der inguschetische Präsident Junus-Bek Jewkurow selbst bei einem Anschlag schwer verletzt worden. Erst vor vier Tagen hatte der Kreml angekündigt, Jewkurow werde in sein Amt zurückkehren. In der vergangenen Woche war zudem der Bauminister Ruslan Amerchanow in seinem Büro erschossen worden. In den Republiken Dagestan und Tsche­tschenien waren in der vergangenen Woche bei mehreren Anschlägen zehn Polizisten sowie sieben Sauna-Besucherinnen getötet worden.

Für das schwere Attentat wurden islamistische Separatisten verantwortlich gemacht. Sie wollten die Herrschaft über den nördlichen Kaukasus erlangen, hieß es aus Moskau. Der russische Präsident Dmitri Medwedew entließ am Montag den inguschetischen Innenminister. »Dieser Terrorakt hätte verhindert werden können«, sagte Medwedew bei einem Besuch in der südrussischen Stadt Astrachan. Die Polizei müsse die Bevölkerung schützen können, aber auch in der Lage sein, sich zu verteidigen. Er forderte das Innenministerium auf, die Sicherheitsvorkehrungen in Inguschetien zu verschärfen. Jewkurow erklärte, die Islamisten versuchten, die Region zu destabilisieren. Die Behörden ordneten eine dreitägige Staatstrauer an.

Der Anschlag auf die Polizeiwache hinterließ schwere Zerstörungen: In angrenzenden Wohnhäusern gingen Fensterscheiben zu Bruch, Autos wurden umgeworfen, unter einer grauen Staubschicht lagen Trümmer und verkohlte Bäume.

* Aus: junge Welt, 18. August 2009


Nordkaukasus im Visier der Islamisten

Mindestens 19 Tote bei Selbstmordanschlag in Inguschetien

Von Ulrich Heyden, Moskau **


Beim blutigsten Selbstmordanschlag seit Jahren im Konfliktgebiet Nordkaukasus sind mindestens 19 Menschen getötet und über 70 verletzt worden. Und die die Zahl der Opfer werde nach dem Bombenattentat in der russischen Teilrepublik Inguschetien weiter steigen, teilten die Ermittlungsbehörden am Montag (17. Aug.) nach Angaben der Agentur Interfax mit. Die Gewalt in der Region hat in den vergangenen Wochen deutlich zugenommen. So terrorisieren radikale Islamisten auch Frauen, die sich »unsittlich« verhalten - bis hin zum Mord.

Etwa 50 Kilogramm TNT soll die Sprengkraft betragen haben. Der Täter hatte in der Stadt Nasran mit einem Kleinlaster voller Sprengstoff das Tor eines Polizeiquartiers gerammt und die Bombe gezündet. Dabei gerieten mehrere Gebäude in Brand. Menschenrechtler sprachen von einem »monströsen Mordanschlag« gegen Zivilisten. Der russische Präsident Dmitri Medwedjew verurteilte das jüngste Attentat und wies das Innenministerium an, die Sicherheitsvorkehrungen in Inguschetien zu verschärfen. Aber auch in den Teilrepubliken Tschetschenien und Dagestan sterben fast täglich Menschen.

Am vergangenen Donnerstagabend (13. Aug.) etwa wurden sieben Mitarbeiterinnen einer Sauna in der dagestanischen Stadt Bujnaksk von einer islamistischen Bande ermordet. Zuvor hatte diese einen nahe gelegenen Polizeiposten überfallen, vier Polizisten getötet und deren Kalaschnikows erbeutet. Wie der Leiter der zentralen russischen Ermittlungsbehörde, Aleksandr Bastyrkin, mitteilte, wurde die 15-köpfige Bande vom »Emir« (religiösen Führer) der Islamisten in der Region Bujnaksk, dem 48-jährigen Nabi Migitdinow, geleitet. Nach dem Überfall auf die Sauna verschwanden die Terroristen in einem Waldgelände.

Die Aktion kam nicht überraschend. Anfang August hatte eine »Initiativgruppe der Muslime von Schamilkala« (islamistische Bezeichnung für Dagestans Hauptstadt Machatschkala) auf der extremistischen Website »Kafkaz Center« alle »Zuhälter und Sauna-Besitzer« aufgefordert, ihre Einrichtungen zu schließen, sonst werde sie die strafende Hand Allahs treffen.

Es ist nicht das erste Mal, dass der radikal-islamistische Untergrund im Nordkaukasus versucht, mit Strafaktionen eine fundamentalistische Lebensweise in der Region durchzusetzen. Im Februar 2006 starben in der nordossetischen Stadt Wladikawkas bei einem Anschlag auf eine Spielhölle zwei Menschen. November 2008 wurden in den tschetschenischen Städten Grosny und Gudermes sieben junge Frauen mit gezielten Kopfschüssen getötet. Damals erklärte der tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte Nurdi Nuchaschiew, derartige Morde kämen gelegentlich vor, wenn Verwandte sich durch das Verhalten der Frauen beleidigt fühlten.

Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow präsentiert sich gerne als der starke Mann. Doch im Grund steht auch er unter dem Druck islamistischer Extremisten und gibt ihnen nach. So verbot Kadyrow 2005 das Glücksspiel in Tschetschenien. Außerdem forderte er von den Frauen eine sittliche Kleidung. Sie sollen lange Röcke und Kopftücher tragen und die Arme bedeckt halten. Wenn eine Frau »über die Stränge schlägt«, werde sie von den Verwandten getötet - »so sind unsere Sitten«. Gleichzeitig forderte Kadyrow das Recht der Männer, mehrere Frauen zu haben, was nach russischen Gesetzen verboten ist.

Wie der dagestanische Innenminister Ali Magomedow erklärte, werde die Situation »aus dem Ausland angeheizt«. Andrej Grosin vom GUS-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften wies darauf hin, dass die Terroristen im Nordkaukasus für einen »breit angelegten terroristischen Krieg« nicht genug Kraft hätten. Zu groß aufgezogenen Militäroperationen wie die des Feldkommandeurs Schamil Bassajew vor zehn Jahren seien sie längst nicht mehr in der Lage. Doch tatsächlich gelangen den Islamisten auch nach 1999 mehrere große terroristische Aktionen. Im Juni 2004 etwa fielen 200 in das Verwaltungszentrum Inguschetiens, die Stadt Nasran, ein. Dabei wurden 98 Menschen - vor allem Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter und Staatsanwälte - auf offener Straße erschossen. Am 1. September 2004 überfielen 32 Terroristen eine Schule im nordossetischen Beslan und nahmen 1100 Schüler, Lehrer und Eltern als Geiseln. Bei der Befreiungsaktion starben 310 Menschen. Im Oktober 2005 überfielen 60 Bewaffnete die Stadt Naltschik, das Verwaltungszentrum der Teilrepublik Kabardino-Balkarien. Dabei wurden neun Zivilisten und 36 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet.

In diesem Sommer erreichte der Terror im Nordkaukasus mit frechen Anschlägen auf Minister und Präsidenten einen neuen Höhepunkt. Am 5. Juni wurde der Innenminister von Dagestan, Adilgerej Magomedtagirow, am Rande einer Hochzeitsfeier erschossen. Am 22. Juni wurde der Präsident von Inguschetien, Junus-Bek Jewkurow, bei einem Sprengstoffanschlag auf seinen gepanzerten Mercedes schwer verletzt. Der erst im Oktober letzten Jahres von Kremlchef Dmitri Medwedjew ernannte Jewkurow hatte versucht, die Clans der Inguschen zu versöhnen. Außerdem wollte er offenbar willkürliche Säuberungsaktionen der Sicherheitskräfte stoppen. Doch der Terror ging weiter. Am selben Tag, an dem Jewkurow aus einem Moskauer Krankenhaus entlassen wurde, drangen Unbekannte in Tarnkleidung in das Arbeitszimmer seines Bauministers Ruslan Amerchanow ein und erschossen ihn am Schreibtisch.

Diese Mordwelle im Nordkaukasus hat mehrere Ursachen. So hat der Tschetschenienkrieg mit seinen Tausenden Toten das feine Netz der sozialen Strukturen und Sitten in der Region zerstört. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als 50 Prozent. Zudem übertrug der Kreml die Macht in den nordkaukasischen Teilrepubliken korrupten und oft autoritär regierenden Verwaltern. Im Kampf der Tschetschenen um Unabhängigkeit von Moskau spielten radikale Islamisten in den 1990er Jahren noch eine Nebenrolle. Inzwischen sind sie - die Wahhabiten, wie sie im Nordkaukasus genannt werden - eine treibende politische Kraft im Nordkaukasus. Sie nutzen die soziale Notlage und das moralische Vakuum und versuchen, mit gewaltsamen Strafaktionen ihre Lebensregeln durchzusetzen.

Der radikale Islamismus im Nordkaukasus ist keine Erfindung des Kreml, mit dem man Säuberungsaktionen rechtfertigen will. Tatsache ist aber auch, dass das einseitige Setzen auf Polizeiaktionen die Probleme nicht löst. Um die Region zu befrieden, müsste Moskau vor allem die sozialen Strukturen, die der Tschetschenienkrieg zerstört hat, neu aufbauen.

** Aus: Neues Deutschland, 18. August 2009


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