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Anschlag auf Wasserkraftwerk im Nordkaukasus

Alarmglocken in Moskau: Kabardino-Balkarien droht zu neuer Basis des Terrorismus zu werden

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Gleich vier Sprengsätze detonierten am Mittwochmorgen (21. Juli) in einem Wasserkraftwerk nahe der Stadt Baksan in der nordkaukasischen Republik Kabardino-Balkarien. Die ersten drei wurden im Maschinensaal gezündet, der vierte ging beim Entschärfen in die Luft.

Ermittler gehen bei der Suche nach den Ursachen von Terrorismus aus. Gefahndet wird nach insgesamt vier Tätern, die gegen 4.30 Uhr Moskauer Zeit (2.30 Uhr MESZ) die örtliche Polizeistation aus Granatwerfern beschossen hatten und unmittelbar danach in das Kraftwerk eindrangen. Beim Handgemenge mit dem Wachschutz wurden zwei Mitarbeiter getötet, drei weitere krankenhausreif geschlagen. Zwei der insgesamt drei Generatoren mit einer Gesamtleistung von 25 Megawatt wurden durch die Explosionen und den Brand, der anschließend ausbrach, schwer beschädigt,

Am Mittwochvormittag wurden die Wachen an allen Wasserkraftwerken im Süden Russlands verstärkt. Denn Experten, die von einem sorgfältig geplanten und professionell realisierten Diversionsakt sprechen, befürchten, die Anschläge nahe Baksan könnten nicht die letzten gewesen sein. Grund zu derartigen Ängsten besteht in der Tat. Mitte August 2009 hatte eine Explosion in Russlands größtem Wasserkraftwerk am Jenissej bei Krasnojarsk in Sibirien den Maschinensaal verwüstet und die Wände zweier Wasserbecken schwer beschädigt. Damals starben insgesamt 75 Menschen, für die Schadensbeseitigung kalkulieren Experten mindestens drei Jahre.

Laut offizieller Darstellung war bei Krasnojarsk die Explosion eines Öltransformators Unglücksursache. Terrorismus schlossen die Ermittler damals aus. Doku Umarow, Chef der tschetschenischen Separatisten und Emir eines gewünschten nordkaukasischen Gottesstaates zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, hatte sich jedoch zu dem Anschlag bekannt und einen »Fortsetzungsroman« versprochen.

Der Anschlag vom Mittwoch lässt befürchten, dass die von der russischen Regierung und vom tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow bereits mehrfach für erledigt erklärte Guerilla nach wie vor ein Machtfaktor im Nordkaukasus ist. Aufhorchen lassen sowohl der Zeitpunkt als auch die Geografie der Tat. Erst am Vortag hatte der Föderationsrat in Moskau ein Gesetz bestätigt, das die Geheimdienste mit weiteren Vollmachten zur Extremismusbekämpfung ausstattet. Begründet wurde das Gesetz mit der Notwendigkeit des Kampfes gegen potenzielle Terroristen, die ihre Absichten noch nicht in die Tat umsetzen konnten. Dank der neuen Verordnung würden viele Verbrechen verhindert werden können.

Alarmglocken schrillen in Moskau auch, weil die Republik Kabardino-Balkarien drauf und dran ist, Unruheherden wie Inguschetien und Dagestan in der Terrorismusstatistik den Rang abzulaufen. Eine herausragende Rolle spielen dabei die Dschamaat. Das sind Gemeinschaften von Dörfern im Hochgebirge, in denen Anhänger eines rigiden, fundamentalistischen Islams den Ton angeben. Als besonders radikal gelten die Dschamaats der Balkaren, einer mit den Türken verwandten Volksgruppe, die mit den zum tscherkessischen Zweig der kaukasischen Völkerfamilie gehörenden Kabardinern eher schlecht als recht zusammenlebt und lieber mit den Stammesbrüdern im benachbarten Karatschai-Tscherkessien eine nationale Körperschaft bilden würde. Vor allem in den Dörfern der Balkaren hat auch Umarow nach seiner Vertreibung aus Tschetschenien eine neue Basis gefunden.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juli 2010


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