Gefahr durch Kenias "Masse"
Schießerei mit der Mungiki-Sekte offenbart Krise des Landes
Von Anton Holberg *
Ein halbes Jahr vor Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ist in Kenia eine seit Jahren
schwelende Krise offen ausgebrochen. Das ostafrikanische Land, das 1963 seine Unabhängigkeit
von Großbritannien erhalten hatte, galt zeitweilig als politisch und ökonomisch stabilster Staat der
Region.
Am Morgen des 5. Juni wurden in Kenias Hauptstadt Nairobi 21 Personen von der Polizei
erschossen. Bei den Toten handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Mitglieder der Mungiki-
Sekte. Bereits in den letzten zwei Wochen waren über 400 Mitglieder der Sekte, die bis zu 2
Millionen Mitglieder für sich reklamiert, festgenommen worden.
Die Schießerei war ausgebrochen, als die Polizisten in der Nacht zum Dienstag (5. Juni) das Elendsviertel
Mathare nach Waffen durchsuchten. Anlass der Razzia war die vorangegangene Tötung von
Polizisten und die Enthauptung von vier Matatu-Fahrern. Matatu heißen die kenianischen
Sammeltaxen. Die Mungiki-Sekte, seit 2002 verboten, hatte in den letzten Jahren immer wieder
Schutzgelder zu erpressen versucht. Neben mutmaßlichen Abtrünnigen und angeblichen
Polizeispitzeln ermordete sie schon früher eine Reihe Zahlungsunwilliger.
»Mungiki« bedeutet in der Sprache des Kikuyu-Volkes »die Masse«. Die Organisation, vermutlich
1988 gegründet, sah ihre Aufgabe im Kampf für die Rückkehr zu den vorchristlichen Sitten der
Kikuyu, gegen die koloniale und neokoloniale westliche Zivilisation, wie sie von den einheimischen
Trägern des herrschenden Systems repräsentiert wird. Die selbsternannten »Söhne der Mau Mau«,
der antikolonialen Befreiungsbewegung der 50er Jahre, propagierten nicht nur das Tragen von
Rasta-Locken und die Vielehe, sondern versuchten auch, gewaltsam die Beschneidung junger
Frauen durchzusetzen und ihnen das Tragen von kurzen Röcken oder Hosen zu verbieten. Im Jahr
2002 traten jedoch 13 der ursprünglichen Sektenführer zum Islam über, darunter Nduru Waruinge,
Enkel eines berühmten »Generals« der Mau-Mau. Womöglich hinterließ dieser Aderlass bei den
überwiegend jugendlichen »prekarisierten« Mitgliedern eine Leere, die ihr Abdriften erleichterte.
Jedenfalls scheinen die Mungiki heute im Wesentlichen zu einer kriminellen Bande verkommen zu
sein.
Früher wurde vermutet, Mungiki sei gegründet worden, um das Regime Daniel arap Mois zu stürzen.
Von 1978 bis 2002 Präsident, war Moi zwar aus Kenias Afrikanischer Nationalunion (KANU)
hervorgegangen, die der »Vater der Nation« Jomo Kenyatta gegründet hatte. Doch während
Kenyatta, einst von den Briten als geistiger Führer der Mau-Mau-Bewegung vor Gericht gestellt,
selbst dem Volk der Kikuyu angehörte, der größten Ethnie Kenias, entstammte Daniel arap Moi dem
Volk der Kalenjin. In der Kolonialzeit war er als »gemäßigt« aufgetreten und hatte eine größere
Autonomie der Minderheitenvölker des Nordens mit Hilfe der Kolonialmacht angestrebt.
Als im Dezember 2002 wieder ein Kikuyu, nämlich Mwai Kibaki, an die Spitze des Staates gewählt
wurde (Moi hatte nicht mehr kandidiert), hätte das die Mungiki beschwichtigen können. Aber Kibaki
ist nicht nur Kikuyu, sondern in erster Linie ein typischer Vertreter der westlich orientierten
Bourgeoisie Kenias. Die Kikuyu leben im fruchtbarsten Teil Kenias und bildeten am frühesten eine
Bourgeoisie aus. Überdies wurden sie in Gestalt der Mau Mau zu Trägern des nationalen
Befreiungskampfes, weil sich gerade auf ihrem Land weiße Farmer breit gemacht und sie ihres
Bodens beraubt hatten. Daraus resultiert ihre Rolle als politisch führende Ethnie Kenias.
Auch wenn sich der Verdacht erhärten sollte, dass die Mungiki-Sekte von gewissen Kikuyu-Politikern
mitfinanziert wird, bleibt sie alleine wegen ihrer Zusammensetzung eine Gefahr für die Stabilität in
einem Land, in dem einer wachsenden bürgerlichen Klasse eine viel schneller wachsende Masse an
den Rand Gedrängter gegenübersteht. Seit Jahren ist die Polizei nicht in der Lage, die Sekte
unschädlich zu machen. Und die jüngsten »Erfolge« weisen eher auf die Krise hin als darauf, dass
der Versuch jetzt gelänge.
* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2007
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