Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kenia – Muslime im politischen Wandel

Von Rüdiger Seesemann*

Die ostafrikanische Küste zählt zu den Gebieten, die nach dem 11. September 2001 stärker in das Blickfeld amerikanischer Militärstrategen rückten. Das plötzliche Interesse auswärtiger Mächte hatte die Region zum einen ihrer geographischen Lage am Indischen Ozean zu verdanken, und zum anderen wurde das seit mehr als einem Jahrzehnt von Staatszerfall betroffene Somalia als potenzieller Rückzugsraum für al-Qa’ida-Mitglieder gehandelt. Vorübergehend machten Spekulationen die Runde, daß die Bush-Administration ein militärisches Eingreifen in Somalia planen könnte, um nach afghanischem Vorbild die dort vermuteten Terroristenhöhlen „auszuräuchern“. Allerdings ließ die unübersichtliche Situation in Somalia ein solches Unterfangen nicht als aussichtsreich erscheinen, und die „Allianz gegen den Terror“ begnügte sich mit der Überwachung des Schiffsverkehrs im Indischen Ozean, an der sich auch die Bundeswehr beteiligt. Auf dem ostafrikanischen Festland geriet unterdessen Kenia in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – eine Entwicklung mit Folgen für die dort lebenden Muslime.

Die Angaben zum prozentualen Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung Kenias variieren sehr stark. Zuverlässige statistische Erhebungen fehlen, und während Vertreter der christlichen Kirchen die Zahl der Muslime herunterspielen, neigen Quellen muslimischer Provenienz dazu, den muslimischen Bevölkerungsanteil zu hoch anzusetzen. Legt man einen „Mittelwert“ zugrunde, so bekennt sich etwa ein Viertel der rund dreißig Millionen Kenianerinnen und Kenianer zum Islam. Die muslimische Bevölkerung des Landes konzentriert sich insbesondere an der Küste, der Region, die historisch eng mit Südarabien und dem Sultanat Oman verbunden war. Seit der Unabhängigkeit Kenias 1963 hat sich die Bevölkerungsstruktur an der Küste jedoch deutlich zu Ungunsten der Muslime verändert. Die Hafenmetropole Mombasa zog zahlreiche Zuwanderer aus dem vorwiegend von Christen bewohnten Hochland an. An der Grenze zu Somalia stellen Muslime weiterhin die überwiegende Mehrheit. In Nairobi selbst und in manchen Regionen des Hochlandes (Nyanza-Provinz oder am Viktoria-See), gibt es bedeutende muslimische Enklaven.

Soziale Unterschiede

Die divergierenden Angaben des muslimischen Bevölkerungsanteils verdeutlichen nicht nur die starke Polarisierung der konfessionellen Landschaft in Kenia, sondern werfen auch ein Schlaglicht darauf, wie die meisten kenianischen Muslime ihre Situation wahrnehmen: Sie fühlen sich als marginalisierte Minderheit, die von der Partizipation am politischen Prozeß ausgeschlossen ist und keinen angemessenen Anteil an der ökonomischen Entwicklung des Landes hat. Vertreter muslimischer Organisationen werden nicht müde, die vermeintliche Benachteiligung der Muslime zu beklagen: Nirgends im Land seien die Straßen so schlecht wie an der Küste, nirgends investiere der Staat so wenig in das Schulwesen – und dies, obwohl die Küstenprovinz durch den Tourismus sowie den Hafen in Mombasa einen erheblichen Beitrag zum Staatseinkommen leiste. Zu einem gewissen Grad haben die Muslime ihren Entwicklungsrückstand und die damit einhergehende politische Marginalisierung mit zu verantworten: Als die britische Protektoratsverwaltung (1895-1963) ein modernes Schulwesen aufbaute, reagierten die muslimischen Küstenbewohner – von wenigen Ausnahmen abgesehen – mit Ablehnung. Während die mehrheitlich zum Christentum übergetretene Bevölkerung des Hochlandes die neuen Bildungschancen wahrnahm und noch dazu von den Bildungsangeboten der zahlreichen christlichen Missionsgesellschaften profitierte, sahen Muslime in den neuen Schulen nicht mehr als ein Instrument zur Unterwanderung ihres Glaubens und schickten ihre Kinder weiter in die Koranschulen. Folglich waren es Christen, die das Land in die Unabhängigkeit führten und die Bildungselite des jungen Staates stellten.

L’état c’est Moi

Allerdings kamen konfessionelle Fragen erst später auf die politische Tagsordnung, nachdem Daniel arap Moi 1978 die Nachfolge des legendären Jomo Kenyatta als Staatspräsident und als Führer der Einheitspartei Kenyan African National Union (KANU) angetreten hatte. Anders als sein Vorgänger pflegte Moi ein Image als frommer Christ und sorgte dafür, daß seine sonntäglichen Gottesdienstbesuche in den nationalen Medien ausführlich dokumentiert wurden. Muslimische Kreise beobachteten die „Christianisierung“ des kenianischen Staates mit großem Argwohn und wurden darin durch Mois gelegentliche Ausfälle gegen den Islam bestärkt, etwa wenn er die Muslime, wie wiederholt geschehen, bei öffentlichen Auftritten als Sklavenhändler bezeichnete. Manche Analysten sind der Ansicht, daß Moi gegenüber der muslimischen Minderheit eine deutlich restriktivere Politik der Ausgrenzung betrieben hätte, wenn es nicht ein ethnischer Somali und Muslim gewesen wäre, der 1982 die entscheidende Rolle bei der Verhinderung eines Putschversuches gegen das Moi-Regime spielte.[1]

Zu Beginn der 1990er Jahre wurde die Unzufriedenheit mit dem korrupten KANU-Regime immer lauter artikuliert. Selbst einflußreiche Kirchenvertreter sparten nicht mit Kritik an der Politik des autokratischen Präsidenten, dessen Regierungsstil sich auf Französisch mit dem prägnanten und doppeldeutigen Satz „L’état, c’est moi“ („Der Staat, das bin ich“, oder: „Der Staat, das ist Moi“) auf den Punkt bringen läßt. Angesichts des wachsenden Drucks sah Moi sich schließlich zum Einlenken gezwungen und stimmte 1992 dem Aufbau eines Mehrparteiensystems zu. Die Aufbruchsstimmung jener Jahre hatte auch an der Küste einen großen politischen Mobilisierungseffekt. In Mombasa gründeten einige junge muslimische Aktivisten die Islamic Party of Kenya (IPK) und beantragten die offizielle Zulassung der neuen Partei.

Obwohl der Name dieser Partei das Gegenteil vermuten läßt, verfolgte die IPK-Führung keine explizit religiöse Agenda und hieß ausdrücklich nicht-muslimische Mitglieder willkommen. Die Parteigründer entstammten auch nicht dem muslimischen Establishment an der Küste, sondern rekrutierten sich vor allem aus der jüngeren Generation und hatten keine höhere islamische Ausbildung durchlaufen. Ihre Strategie bestand darin, muslimische Wähler anzusprechen und, einen Wahlerfolg vorausgesetzt, innerhalb des Parlaments eine Lobby für die Interessen der Küstenregion sowie der mehrheitlich von ethnischen Somalis bewohnten Northeastern Region zu bilden. Zugleich begriffen sich die IPK-Gründer als Teil der Opposition gegen das Moi-Regime und forderten, wie andere junge Parteien auch, die Abhaltung freier demokratischer Wahlen, um die Einparteienherrschaft der KANU zu beenden.

„Intifada“ und Ende der Moi-Regierung

Wie nicht anders zu erwarten, stieß das Ansinnen der IPK auf den Widerstand der Regierung. Diese lehnte die offizielle Registrierung der Partei vehement ab und berief sich darauf, daß die kenianische Verfassung die Gründung von Parteien auf religiöser Basis untersage. Im Frühjahr 1992 kam es daraufhin in Mombasa zu Massendemonstrationen, die mehrfach in gewalttätigen Zusammenstößen mit Polizeikräften mündeten. Zahlreiche Muslime wurden festgenommen, und auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen stürmten bewaffnete Einheiten eine Moschee in Mombasa. Das harte Vorgehen der Regierung brach jedoch nicht den Widerstand der Muslime, sondern bewirkte eine Solidarisierung. Die IPK wurde – wenigstens vorübergehend – zu einer Massenbewegung. Über mehrere Tage legten Anhänger der Partei den Verkehr in Mombasa lahm und brachten so das wirtschaftliche Leben in der ökonomisch bedeutenden Hafenstadt zum Stillstand. Ali Mazrui, Professor an der Binghamton University bei New York und einer der prominentesten muslimischen Intellektuellen Kenias, sah die Region gar am Rande einer „Intifada“.[2]

Aus einer Reihe von Gründen war diese „Intifada“ jedoch nur von kurzer Dauer. Der Niedergang der IPK war eng mit dem Aufstieg und Fall von Sheikh Khalid Balala verknüpft.[3] Balala war erst später zur IPK dazugestoßen, doch aufgrund seines rhetorischen Talents erwarb er innerhalb kurzer Zeit eine Reputation als „spiritueller Führer“ der Partei, obwohl er keine nennenswerte religiöse Ausbildung vorzuweisen hatte. Seine Popularität in oppositionellen Kreisen verdankte er insbesondere seinen heftigen Angriffen auf die Person Daniel arap Mois, aber eben diese Angriffe führten auch wiederholt zu seiner Verhaftung. Als Balala sich im Herbst 1992 in Deutschland aufhielt, entzog ihm die kenianische Regierung mit dem Argument, daß er in Jemen geboren sei, kurzerhand die Staatsbürgerschaft und verwehrte ihm somit die Rückkehr nach Kenia. Auch andere Gründungsmitglieder der IPK wurden vom Moi-Regime ins Exil gezwungen und gingen vorzugsweise nach London, wo sie mit anderen Oppositionsgruppen eine gemeinsame Strategie zum Sturz des Moi-Regimes zu entwerfen suchten. Es sollte jedoch bis Dezember 2002 dauern, daß der mittlerweile greise Staatschef durch einen Erdrutschsieg der „Regenbogen-Allianz“ bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den Ruhestand geschickt wurde.

Nach dem Anschlag auf die US-Botschaft in Nairobi

Noch zu Zeiten des Moi-Regimes wurden die muslimisch-christlichen Beziehungen in Kenia auf eine Bewährungsprobe gestellt, als die Hauptstadt Nairobi zum Ziel eines verheerenden Bombenanschlags wurde. Zum damaligen Zeitpunkt war dies das weltweit folgenschwerste Attentat, das Osama bin Laden und seiner Organisation al-Qa’ida zugeschrieben wurde. Am 7. August 1998 detonierten vor der US-Botschaft in der Innenstadt von Nairobi mehrere Sprengsätze, die das Gebäude völlig zerstörten. Insgesamt 256 Menschen, darunter zwölf Amerikaner, kamen dabei ums Leben; die Zahl der Verletzten belief sich auf über 5000. [4] Als die Nachricht die Runde machte, daß „islamische Terroristen“ die Urheber dieses Massakers seien, drohten Trauer und Entsetzen in anti-muslimische Wut umzuschlagen. Da aber auch Muslime unter den Todesopfern waren und der Bombenanschlag in den öffentlichen Stellungnahmen islamischer Organisationen nicht weniger scharf verurteilt wurde als in den Äußerungen von Kirchenvertretern und Politikern, blieb es nur bei vereinzelten Stimmen, die die Muslime kollektiv verantwortlich machten.

Später wurde bekannt, daß alle Attentäter und Hintermänner aus arabischen Ländern stammten, bis auf einen seit Jahren im Lande lebenden Palästinenser. Dennoch hatte der Anschlag von Nairobi Konsequenzen für die muslimische Minderheit in Kenia. Am 7. August 1999, dem ersten Jahrestag des Attentats, hielt Abdulghafur Busaidy, der Vorsitzende des unter der Kenyatta-Regierung als oberstes Gremium der Muslime gegründeten Supreme Council of Kenyan Muslims (SUPKEM), in der Jamia-Moschee von Nairobi eine Ansprache, in der er die leidvollen Erfahrungen der Muslime seit dem Anschlag resümierte: pauschale Verdächtigung der Muslime als Terroristen, öffentliche Diffamierungen des Islam durch Medien, Politiker und Kirchenvertreter, Verbot mehrerer islamischer NGOs wegen des Vorwurfs der Gefährdung der inneren Sicherheit sowie die Beschlagnahmung von Akten und PC-Festplatten aus den Büros islamischer Organisationen. [5]

Darüber hinaus ließ SUPKEM in allen Moscheen des Landes eine Erklärung verlesen, in der sich die Funktionäre nochmals im Namen aller Muslime von dem Attentat distanzierten. Was, so hieß es darin, könne der Grund dafür sein, Bomben in Nairobi und Dar es-Salaam zu legen, wenn nicht der Versuch, die Ausbreitung des Islam zu unterbinden, welche durch die bisherige friedliche Atmosphäre gefördert worden sei – eine Formulierung, die sich so auslegen läßt, daß es keine islamische Rechtfertigung für derartige Gewalt geben könne, die aber auch so verstanden werden kann, daß die Autoren grundsätzliche Zweifel hegten, ob es sich bei Tätern überhaupt um Muslime handelte. Auch wenn Verschwörungstheorien in Zusammenhang mit den Botschaftsattentaten keine große Konjunktur hatten, so wird in Kreisen kenianischer Muslime seit der Entführung des PKK-Führers Abdullah Öcalan in Nairobi 1999, an der der Mossad beteiligt war, doch häufig über die Rolle des Mossad spekuliert.

11. September 2001 und die Auswirkungen

Ein ähnliches Szenario wie nach dem Attentat von Nairobi wiederholte sich in Kenia nach dem 11. September oder 9/11. Wiederum wurden NGOs verboten (darunter die von Saudi-Arabien finanzierte Organisation al﷓Haramayn), wieder wurde der Islam in öffentlichen Äußerungen attackiert, erneut – und stärker als zuvor – rückten Muslime in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Sicherheitskräften und Geheimdiensten. Bemüht, als treuer Alliierter im „Krieg gegen den Terror“ aufzutreten, gestattete die kenianische Regierung der CIA und dem FBI, sich ungehindert auf kenianischem Territorium zu bewegen. Amerikaner und Europäer wurden in ihrem Bemühen unterstützt, die Kontrolle über den Seeverkehr im Indischen Ozean auszuweiten, und erhielten für ihre Flotten Zugang zum Hafen von Mombasa. Der Grenzverkehr zwischen Kenia und Somalia wurde streng überwacht, da das nordöstliche Nachbarland als Rückzugsgebiet für al﷓Qa’ida-Kämpfer galt.

Für die Moi-Regierung, die sich nach der Einführung des Mehrparteiensystems nur durch massive Wahlfälschungen an der Macht halten konnte und deshalb bei den westlichen Geberländern in Ungnade gefallen war, bot die „Allianz gegen den Terror“ eine willkommene Gelegenheit, ihre gestörten Beziehungen zu den USA und den EU-Ländern wieder zu verbessern. Der Unmut in der kenianischen Bevölkerung über das korrupte KANU-Regime war jedoch unterdessen so groß, daß selbst die wieder einsetzenden Geldflüsse aus dem Ausland keinen Stimmungsumschwung zu Gunsten Mois bewirken konnten. Nach dem im ganzen Land gefeierten Wahlsieg der „Regenbogen-Allianz“, eines Bündnisses mehrerer Oppositionsparteien, übernahm Mwai Kibaki Ende Dezember 2002 das Amt des Präsidenten. Von ihm erwarteten die Kenianerinnen und Kenianer die Erfüllung ihrer Hoffnungen auf politischen Wandel und wirtschaftlichen Aufschwung.

Die Zehn Gebote konstitutionell verankern?

Besonders die Muslime sahen sich in ihren Erwartungen jedoch bald getäuscht. Sie hatten vor allem darauf gesetzt, daß die neue Regierung eines ihrer wichtigsten Wahlversprechen einlösen würde, dem zufolge innerhalb von hundert Tagen eine neue Verfassung in Kraft treten sollte. Aus muslimischer Perspektive war die Frage der Verfassung insbesondere deshalb relevant, weil darin die Zuständigkeit der so genannten Kadhi-Gerichte, d.h. der Gerichtshöfe, die seit dem britischen Protektorat für die Regelung personenstandsrechtlicher Angelegenheiten der Muslime zuständig waren, auch auf das Handelsrecht ausgeweitet werden sollte, sofern beide an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien muslimischen Glaubens waren. Statt die Verfassungsreform zügig in die Wege zu leiten, gerieten die Politiker der in der „Regenbogen-Allianz“ zusammengeschlossenen Parteien in einen erbitterten Streit über die zukünftigen konstitutionellen Befugnisse des Präsidenten sowie über die Schaffung des Amts eines Premierministers. Auch an den Kadhi-Gerichten entzündeten sich heftige Auseinandersetzungen. Auf der Suche nach Bündnispartnern machten sich einige Politiker die Rhetorik christlicher Kirchenvertreter zu eigen und denunzierten die Kadhi-Gerichte als Versuch der Muslime, die Scharia durch die Hintertür einzuführen und so den christlichen Charakter des Landes zu untergraben. Selbst solche Kirchen, die nicht dem (in Kenia blühenden) christlich-fundamentalistischen Spektrum zuzurechnen sind, schlossen sich der Kampagne gegen die Kadhi-Gerichte an; manche forderten gar, die muslimischen Gerichtshöfe komplett abzuschaffen und statt dessen die Zehn Gebote in der Verfassung zu verankern. Bisher zeichnet sich weder in dieser Frage noch in Bezug auf die Kompetenzen des Präsidenten und des Premierministers ein Kompromiß ab. So wurde die Verfassungsreform zwischen den Fronten zerrieben und letztlich auf Eis gelegt.

Daß die Muslime in der Debatte über die Kadhi-Gerichte in die Defensive gerieten, hing nicht zuletzt mit zwei weiteren Attentaten zusammen, die sich am 28. November 2002 bei Mombasa ereigneten. Auf dem Grundstück des bevorzugt von Israelis aufgesuchten Paradise Hotels nördlich der Küstenmetropole explodierte ein in einem Auto deponierter Sprengsatz und forderte 16 Todesopfer, darunter die drei Attentäter (über deren Identität bisher Schweigen bewahrt wurde) sowie drei israelische Touristen. [6] Fast zur gleichen Zeit wurde ein mit 261 Passagieren besetztes israelisches Charterflugzeug nach dem Start vom Flughafen Mombasa mit zwei Raketen des Typs SAM-7 beschossen, die beide ihr Ziel knapp verfehlten. Wiederum gaben Vertreter der kenianischen Muslime Stellungnahmen ab, in denen sie die terroristischen Attacken verurteilten. In der offiziellen SUPKEM-Verlautbarung hieß es: „Wer immer diese Anschläge geplant und ausgeführt hat, ist ohne Zweifel der Feind Nummer eins des Islam und der Muslime in Kenia ... Wir versichern, … daß die Muslime in Kenia weiterhin mit Kenianern anderen Glaubens zusammenleben werden, wie sie es stets getan haben.“[7]

„Anti-Terrorismus Bill“

Derartige Willenserklärungen sind für die zukünftige Entwicklung der christlich-muslimischen Beziehungen gewiß nicht ohne Belang. Die entscheidenden Fragen stellen sich aber auf der politischen Ebene. Hier hat die Kibaki-Regierung Zeichen gesetzt, indem sie – auch unter dem Eindruck der Anschläge von Mombasa – die von Daniel arap Moi eingeschlagene Linie in der Anti-Terror-Politik nicht nur weiter verfolgte, sondern sogar verschärfte. Nach wie vor genießen FBI- und CIA-Agenten Bewegungsfreiheit im gesamten Land. Die neuen „Sicherheitsmaßnahmen“ richteten sich insbesondere gegen die muslimische Bevölkerung. Inzwischen sind Dutzende Fälle dokumentiert, in denen Muslime von speziellen Anti-Terror-Einheiten der Polizei festgenommen wurden und ohne Anklage sowie ohne Kontakt zu Anwälten oder Angehörigen in Haft gehalten wurden. Im Sommer 2003 versuchte die Regierung (Gerüchten zufolge auf Druck der Bush-Administration), im Eilverfahren ein als „Anti-Terrorism-Bill“ bezeichnetes Gesetzespaket durch das Parlament zu schleusen, welches nach dem Vorbild des US-amerikanischen Patriot Act die Bürgerrechte stark einschränkt und verdachtsunabhängig Festnahmen auf unbestimmte Zeit billigt. Die Verabschiedung der Gesetze scheiterte jedoch am Widerstand einiger Parlamentarier, die einen Verstoß gegen die Verfahrensregeln monierten. Die breite Öffentlichkeit wurde überhaupt erst nach diesem Vorfall auf die „Anti-Terrorism-Bill“ aufmerksam, und in der Folge entbrannte eine heftige Debatte über das Regierungsvorhaben. Immer wieder erhoben Vertreter muslimischer Organisationen den Vorwurf, daß die Gesetze explizit die Muslime im Visier hätten. Noch im Sommer 2004 wurden in kenianischen Moscheen Flugblätter in Umlauf gebracht, in denen es hieß, den Autoren der „Anti-Terrorism-Bill“ gehe es nicht um die Bekämpfung des Terrorismus, sondern um die Bekämpfung des Islam.

Sowohl im Streit um die Kadhi-Gerichte als auch in der Anti-Terror-Gesetzgebung steht die endgültige Entscheidung nach wie vor aus. Der Ausgang dieser Kontroversen dürfte für die Zukunft der muslimischen Minderheit in Kenia wegweisend sein. Immerhin haben namhafte Juristen und Menschenrechtsaktivisten öffentlich gegen die geplanten Anti-Terror-Gesetze Stellung bezogen und betont, daß die Verfassung die Rechte religiöser Minoritäten achten müsse. Sollte die Regierung dennoch bei ihrer harten Haltung zur „Anti-Terrorism-Bill“ bleiben, und sollten sich in der Verfassungsdebatte jene Kräfte durchsetzen, die den Muslimen die Möglichkeit der Regelung ihrer Personenstandsangelegenheiten nach islamischem Recht nehmen wollen, so ist zu erwarten, daß sich die Muslime in ihrem Gefühl der Diskriminierung bestärkt fühlen und sich aus dem politischen Prozeß zurückziehen. Dann aber besteht die Gefahr, daß die Regierung erst die „Fundamentalisten“ schafft, die sie eigentlich bekämpfen will.

Fußnoten
  1. Mohamed Bakari, „A place at the table: The political integration of Kenyan Muslims, 1992-2003“, Vortrag auf der Tagung „The Political Economy of Kenya“ am St. Anthony’s College, Oxford, 27.-28. Mai 2004.
  2. Ali A. Mazrui, „The black intifadah? Religion and rage at the Kenyan coast“, in Journal of Asian and African Affairs (Washington) 4/2, 1993, S. 87-93.
  3. Siehe dazu Arye Oded, „Islamic extremism in Kenya: The rise and fall of Sheikh Khalid Balala“, in Journal of Religion in Africa 26, 1996, S. 406-415.
  4. Fast zeitgleich explodierte auch eine Bombe vor der US-Botschaft in der tansanischen Hauptstadt Dar es-Salaam. Dort wurden 13 Menschen getötet.
  5. The Daily Nation, Nairobi, 7. August 1999.
  6. Bei einer Agentur in Beirut ging ein Bekennerschreiben der bis dato unbekannten Army of Palestine ein. Ein US-Regierungssprecher äußerte den Verdacht, daß die somalische Organisation al-Ittihad al-Islami (Verbindung mit al-Qa’ida) verantwortlich sei. Einer wiederbelebten Verschwörungstheorie zufolge gehen die Anschläge auf das Konto des Mossad (siehe The Dispatched Weekly, 11. Juli 2004).
  7. www.islamonline.org/english/news/2002-11/29/article40.shtml.
* Rüdiger Seesemann, Islamwissenschaftler; zur Zeit am Department of Religion der Northwestern University Evanston / U.S.A..



Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 41, Jahrg. 11, Frühjahr 2005

Die Zeitschrift inamo erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
Redaktion inamo
Dahlmannstr. 31
10629 Berlin
(Tel.: 030/86421845; e-mail: redaktion@inamo.de )




Zurück zur Kenia-Seite

Zur Islam-Seite

Zurück zur Homepage