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Leben vom Straßenhandel

In Kirgistan sind besonders Frauen von Altersarmut betroffen

Von Melanie Kreb*

Sie gehören zum Stadtbild größerer und kleinerer postsowjetischer Städte von Litauen bis Kirgistan: Alte Frauen am Straßenrand, vor sich die wenigen Erzeugnisse des eigenen Gartens oder die letzten Bücher und Nippesfiguren eines früher wohlhabenden Haushalts. Der Versuch, diese Reste zu verkaufen, ist auch der letzte Versuch, sich einen gewissen Stolz zu erhalten. Selbst wenn es nur ein paar Topfpflanzen oder zwei Paar selbstgestrickte Strümpfe sind, die sie vor sich ausgebreitet haben: noch, sagen ihre Augen, Haltung, noch sind wir keine Bettlerinnen.

Die Rente reicht nicht

Viele dieser Frauen haben ihr Leben lang gearbeitet, waren Ärztinnen oder Krankenschwestern, Ingenieurinnen oder Lehrerinnen in einem Staat, der nicht mehr existiert. Heute beträgt ihre Rente im unabhängigen Kirgistan z.B. durchschnittlich umgerechnet 15 Dollar – wenn sie denn ausgezahlt wird. Zuverlässig funktioniert dies trotz mancher Verbesserungen immer noch nicht. Die Ersparnisse sind in Währungsumstellung, Inflation und Bankkrisen verschwunden. Von den 15 Dollar müssen nicht nur Lebensmittel, Miete, Gas, Wasser und Strom, sondern auch sämtliche Arztrechnungen und eventuell nötige Hilfsleistungen bezahlt werden. Es reicht nicht. Kann nicht reichen.

Am schlimmsten betroffen sind Frauen ohne Kinder, die zumindest eine gewisse materielle oder praktische Unterstützung leisten könnten. Zu den Frauen, die nie Kinder gehabt haben oder deren Kinder gestorben sind, kommt noch eine weitere Gruppe: die, deren Kinder im Lauf der letzten Jahre nach Rußland oder noch weiter nach Westen gezogen, und durch zahlreiche Umzüge, schlechte Kommunikationsverbindungen oder einem Leben in der Illegalität buchstäblich verschwunden sind. Manche dieser Frauen warten nun seit Jahren wenn nicht auf Geld, so doch auf einen Brief, ein kurzes Lebenszeichen ihrer Kinder oder Enkel. Selbst Kinder, die nicht weit entfernt wohnen, sind oft selbst so damit beschäftigt, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern, daß die Unterstützung der Eltern in den Hintergrund tritt. Im Gegenteil: Manchmal lastet auf den alten Menschen noch zusätzlich der Druck, für arbeitslose Kinder oder verwaiste Enkel sorgen zu müssen.

In einer Gesellschaft, die stolz auf ihre Tradition des Familienzusammenhaltes und der Achtung alter Menschen ist, ist dieses immer häufiger werdende Problem ein großes Tabu. Noch halten viele auch gegen den Augenschein an der Überzeugung fest, Altersarmut und Einsamkeit gäbe es nicht oder nur in sehr geringem Maße. Altersheime, die es zumindest in Bischkek und zwei anderen Städten im Norden des Landes gibt, haben keinen guten Ruf und sind für große Teile der Bevölkerung auch schlicht unbezahlbar. So bleibt den Frauen oft nur der Straßenhandel mit dem Bißchen, das sie noch haben und das keiner will.

Lange Warteliste

Als erste Organisation entwickelte die Schweizer DEZA ein Projekt, das sich speziell an alte Menschen in Kirgistan richtete. Sie übertrug ein in der Kinderhilfe schon lange bekanntes Konzept kurzerhand auf alte Menschen »Adopt a Babushka« (Adoptiere eine Großmutter) hieß die Idee, nach der Ausländer oder einheimische eine besonders hilfsbedürftige alte Frau (oder auch einen alten Mann) mit zehn Dollar monatlich unterstützen sollten. Was anfangs wie eine verrückte Idee erschien, funktionierte. Inzwischen werden 800 alte Frauen von Spendern aus Europa und einigen kirgisischen Firmen unterstützt. Doch die Warteliste scheint endlos. Dabei arbeitet der Verein »Babushka Adoption« außer in Bischkek nur noch in einer der ärmsten und zweifellos der abgelegensten Gegend Kirgistans: dem Leylek Distrikt im äußersten Südwesten des Landes, an drei Seiten von tadschikischem Gebiet umgeben. Hier, wo in der Vorstellung der meisten Stadtbewohner die traditionelle Großfamilie noch intakt ist, werden 250 alte Menschen unterstützt.

Zusätzlich wirbt der Verein auch um einmalige Geldspenden für Veranstaltungen, die ein Stück Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglichen sollen.

»Babushka Adoption« Foundation, P.O. Box 1943, 720 000 Bishkek,
Kyrgyz Republic, E-mail: babushka\@elcat.kg


* Aus: junge Welt, 30. September 2005


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