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Kriseneruptionen in Kirgistan

Militante Anhänger der Opposition machten in der Hauptstadt Bischkek mobil

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Schützenpanzer rollten durch das Zentrum der kirgisischen Hauptstadt Bischkek – darauf Soldaten, Gewehr im Anschlag, in den Augen Angst.

Auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude in Bischkek hatten sich mehrere Tausend Menschen zu einem Protestmeeting versammelt und forderten Verhandlungen mit Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa. Dutzende Protestler trugen Schusswaffen. Dem Ton nach zu urteilen wurde von ihnen auch reger Gebrauch gemacht. Mehrmals waren sogar Maschinenwaffen zu hören.

Die Bilder, die das russische Fernsehen am Donnerstagabend sendete, machten deutlich, wie instabil die Situation in der zentralasiatischen Republik Kirgistan ist. Die Opposition hatte Anfang April Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt, der fünf Jahre zuvor selbst durch einen Umsturz an die Macht gespült worden war. Anfang Juni hatte Bakijew seine Anhänger im Süden des Landes mobilisiert, um die Macht zurückzuerobern. Der Konflikt eskalierte zu blutigen Auseinandersetzungen mit der usbekischen Bevölkerungsgruppe, die im Süden die Mehrheit stellt und in Teilen die neue Regierung unterstützt.

Beobachter warnten bereits damals, die Unruhen könnten auch auf den Norden übergreifen. Zumal Bakijew aus dem belarussischen Exil weiter gegen die Übergangsregierung hetzt. Befürchtungen, die offenbar mehr als angebracht sind. Denn hinter dem Protest am Donnerstag in Bischkek steckt Bakijews Satrap für den Norden: Urmat Baryktabassow aus der Issyk-Kul-Region, ein Geschäftsmann mit üblem Ruf, der neben einem kirgisischen auch einen Pass Kasachstans hat und dort wegen Wirtschaftsverbrechen zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Daran scheiterte bisher auch ein Auslieferungsbegehren Kirgistans.

Für eben diesen Mann indes forderte die Menge in Bischkek jetzt das Amt des Regierungschefs und dazu mehrere Ministerposten für dessen Umgebung. Zwar lösten Ordnungskräfte den Protest so professionell auf, dass es bisher weder Tote noch Verletzte gab. Zentralasien-Experten wie Arkadi Dubnow warnen dennoch, der Ernst der Lage dürfe nicht unterschätzt werden. Der Protest am Donnerstag habe gezeigt, dass die Macht der Zentralregierung nach wie vor auf schwachen Füßen steht und ihr Einfluss auf die Menge sehr viel geringer ist als der zwielichtiger Existenzen wie Baryktabassow.

Dieser hatte sich schon im Juni 2005 einen unrühmlichen Eintrag in die Geschichtsbücher gesichert, als er versuchte, den Regierungssitz zu stürmen, um seine Kandidatur für die Präsidentenwahlen zu erzwingen. Entwicklungen, die sich aus Sicht Dubnows jederzeit wiederholen können. Zumal auch die Übergangsregierung vom Interessenkonflikt rivalisierender Gruppen der ehemaligen Opposition gebeutelt wird.

Hinzu kommt, dass die Zivilgesellschaft in Kirgistan zwar die stärkste in der Region ist, ihre Kräfte jedoch nicht ausreichen, um die allmächtigen Clans zu neutralisieren. Jeder Clanführer, glaubt der Politologe Ikbal Mirsaitow aus dem südkirgisischen Osch, brauche nur seinen Anhang zu mobilisieren, um den Staatschef zu Verhandlungen und Zugeständnissen zu zwingen.

Rosa Otunbajewa, die offenbar ähnliche Befürchtungen umtreiben, sieht sich daher sogar gezwungen, mit Russland über eine zweite Militärbasis zu verhandeln. Sie soll im Süden an der Grenze zu Usbekistan entstehen. Moskau befürchtet, dass der nur oberflächlich beigelegte Konflikt der Bevölkerungsgruppen auf Usbekistan und womöglich auf ganz Zentralasien übergreifen könnte. Was auch für Russland verheerend wäre.

* Aus: Neues Deutschland, 7. August 2010


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