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Zentralasien: Konflikte, wohin man blickt

Besetzung und Sturm auf das Oberste Gericht in Kirgisien - Nur ein Beispiel von vielen

"Rund zwei Monate nach dem Regierungsumsturz in Kirgisien ist es am Mittwoch in der Hauptstadt Bischkek erneut zu Unruhen gekommen. Rivalisierende Gruppen bekämpften sich im und vor dem Obersten Gericht eine Stunde lang mit Stöcken, Steinen und Pferdepeitschen. Augenzeugen zufolge gab es mehrere Verletzte. Die Polizei wollte dies zunächst nicht kommentieren.
Etwa 100 Aufständische hatten das Gericht seit Ende April besetzt gehalten und den Rücktritt der Richter gefordert. Rund 200 Angreifer stürmten das Gebäude am Mittwoch, um die Besetzer zu vertreiben; dabei kam es zu den Ausschreitungen. Kurz darauf schritten Polizisten und Soldaten ein und erklärten, die Situation sei unter Kontrolle."
(Frankfurter Rundschau, 2. Juni 2005)

"Rund 200 Menschen stürmten das Gebäude des Obersten Gerichts in der Hauptstadt Bischkek. Sie vertrieben die Anhänger von fünf Politikern, die das Gericht aus Protest gegen ihre Niederlage bei der Parlamentswahl im März seit dem 22. April besetzt hielten.
Bei der Erstürmung des Gebäudes kam es zu Rangeleien zwischen den beiden Gruppen, wie die Polizei mitteilte. Dabei warfen die Angreifer mit Steinen. Eine Frau aus der Gruppe der vertriebenen Besetzer, sagte, dass zwei ihrer Gesinnungsgenossen am Kopf verletzt worden seien. Die Angreifer erklärten, sie wollten dem Gericht endlich die Wiederaufnahme der Arbeit ermöglichen. Eine Frau kritisierte, dass sich ein Verfahren gegen Verwandte von ihr wegen der Besetzung verzögert habe. Ein Polizeibeamter vor Ort sagte jedoch, dass die Angreifer Abgeordnete unterstützten, deren Sitz von den Gerichtsbesetzern angefochten wurde."
(Nachrichtenagentur AP, 1. Juni 2005)

Karl Grobe analysiert anlässlich des Vorfalls in Bischek die Lage in den früheren asiatischen Sowjetrepubliken. Es handelt sich hierbei um einen Kommentar, der am 2. Juni 2005 in der Frankfurter Rundschau erschien.

Schauplatz Zentralasien

VON KARL GROBE

Es brauen sich einige Konflikte in Zentralasien zusammen. Usbekistans Regierung drängt in einer Umkehr der Koalitionen die Mitglieder des US Peace Corps aus dem Lande. Präsident Islam Karimow hat offenkundig den Argwohn, dass die bisher so sehr erwünschten Helfer beim ökonomischen und kulturellen Aufbau einen demokratischen Bazillus eingeschleust haben, der sein Regime erkranken lässt. Ganz falsch ist das nicht. Zentralasien ist Schauplatz eines weltpolitischen Spiels, in dem die USA den offensiven Part spielen, China möglicherweise auch, und Russland defensiv an der Befestigung seines restlichen Einflusses arbeitet. Den wollten die einst rot gewesenen neuen Sultane zurückstutzen; da schien ihnen die ferne Supermacht gerade recht zu kommen. Doch der fröhliche Gedanke, in Washington werde ohne Eigennutz geplant, war naiv.

Die demokratischen Kräfte in der Region nämlich haben gelernt, amerikanisches Englisch zu verstehen - Worte wie Demokratie und Zivilgesellschaft. Dass sie instrumentalisiert werden können, ist ihnen im Traum nicht eingefallen. Sie handeln aus innenpolitischen Gründen, stehen auf gegen Korruption und Willkür, akzeptieren Regimes nicht mehr, die ihre Farben gewechselt, aber den despotischen Inhalt ihrer Macht beibehielten. Oder die sich erfolgreich bemüht haben, demokratische Ansätze zu beseitigen, bis der Kessel überkochte wie in diesem Frühjahr in Kirgisien.

Der Kampf um Kirgisiens Oberstes Gericht am Mittwoch mag nichts mit dem Umsturz vom März zu tun haben, der Askar Akajew das Präsidentenamt kostete. Seit diesem Tag hatten Anhänger der damaligen Opposition das Gericht besetzt gehalten und der höchsten juristischen Instanz die Arbeit unmöglich gemacht; das ist eine plausible Erklärung für die lange Aktion von rund zweihundert Bürgern und für die polizeiliche Räumung.

Doch es gibt andere Erklärungen, die mit den internen Machtauseinandersetzungen der Gewinner vom April und ihrer Fähigkeit zusammenhängen, Massen zu mobilisieren. Und schließlich sind die Anhänger Akajews durchaus nicht vom Erdboden verschluckt worden. Sie sind ebenso gewiefte Organisatoren wie ihre Gegner. Jedenfalls ist es mit der Stabilität des Gebirgsstaates nicht allzu weit her. Solange sich kein politisches Gleichgewicht zwischen den Mächtigen und den weniger Mächtigen in den verschiedenen Regionen herausgebildet hat, kann das auch nicht anders sein. Die Sicherheit - im militärischen Sinn - hat die kleinste der ehemals sowjetischen Republiken in Zentralasien von Anfang an borgen müssen. Russland unterhält einen Truppenstützpunkt in der Nähe der Hauptstadt Bischkek, und während ihres Afghanistan-Feldzuges haben sich auch die USA dort dauerhaft eingerichtet.

Nun gehen Nachrichten um, China sei als Dritter - und als unmittelbarer Nachbar - auch noch an einer solchen bewaffneten Einrichtung interessiert. Kirgisien ist ja ein Gründungsmitglied der Schanghai-Organisation, welche die Zentralasiaten zum Zweck der Terrorbekämpfung geschaffen haben und an der auch Russland beteiligt ist. Überdies ist Kirgisien in die russische Sicherheitsarchitektur eingebaut, zwecks - auch - des Kampfes gegen afghanischen Drogenschmuggel.

China hat ein eigenes Motiv. Es ist ihm dringend darum zu tun, die tatsächlichen und vermeintlichen Separatisten in Xinjiang von Außenkontakten zu den turksprachigen Verwandten in Kirgisien und Kasachstan abzuschneiden. Unter Akajew hat Kirgisien einigermaßen brav mitgespielt. Dies könnte sich, im Namen demokratischer Verheißungen, rasch ändern. Dann stoßen die Interessen der USA, Russlands und Chinas härter aufeinander. Und Kirgisien wird weiter zerrissen.

Den Volksbewegungen - es waren immer Bewegungen von Minderheiten - mangelt es an zusammenfassender Organisation und an verbindenden Zielen über den Kampf gegen die Korruption und die Despotie hinaus. Die tritt lokal in Erscheinung und ruft lokalen Widerstand hervor, wobei dann neue Rivalitäten zwischen den örtlich begrenzten Bewegungen und Kräften entstehen. Die Unfähigkeit zur Verallgemeinerung auf nationaler Basis führt zu Niederlagen.

Es gibt Nutznießer: die Despoten, solange sie die Zersplitterung nutzen können; die Islamisten, die eine sehr einfache Ideologie anbieten können, welche mit dem traditionellen (als allzu staatstreu empfundenen) Islam nicht mehr viel zu tun haben und ihn doch beerben; und die drei aktiven Spieler, die Großmächte. Sie müssen nur das Wort "Terrorismus" aussprechen - und gewinnen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 2. Juni 2005


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