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Von Akajew zu Bakijew

Der Umsturz in Kirgisien (Kirgistan) wirft viele Fragen auf - Pressekommentare

Der Umsturz in der ehemaligen Sowjetrepublik Kirgistan (Kirgisien) war so schnell nicht vorhersehbar. Auch sein weiterer Verlauf lässt sich nur schwer prognostizieren. Im Folgenden dokumentieren wir zwei Kommentare des Redakteurs der Frankfurter Rundschau, Karl Grobe. Der eine vom 24. März, als der Kampf um die Regierungsmacht noch nicht entschieden war, der andere vom 26. März, also nach der Entscheidung in Bischkek. Im Anschluss an die Kommentare von Karl Grobe dokumentieren wir noch eine Reihe weiterer Meinungen aus der deutschen und internationalen Presse (Süddeutsche Zeitung, Neues Deutschland, Der Standard, junge Welt, Neue Zürcher Zeitung, Berliner Zeitung).



Die kirgisische Krise

VON KARL GROBE

Die Proteste haben Kirgisiens Hauptstadt erreicht, und die dort Herrschenden senden verwirrende Signale aus. Präsident Askar Akajew weist einerseits das Verlangen einiger Parlamentarier nach dem Ausnahmezustand - oder gar dem Kriegsrecht - zurück. Andererseits wies er am Mittwoch dem Innenminister und dem Generalstaatsanwalt die Tür und setzte notorisch raue Gesellen auf ihre Posten. Das neue Parlament ließ er unter Intonation demokratischer Sätze vereidigen - die sieben entschiedenen Abgeordneten der Oppositionsparteien ausgenommen -, maß ihm aber zugleich die Aufgabe zu, die innere Stabilität der Republik kraftvoll wieder herzustellen.

Doch gerade die umstrittene Wahl soll Ausweis der Stabilität gewesen sein. Sauber war sie gewiss nicht, aber in anderen Teilen der Welt wie Irak halten manche Politiker wesentlich schmutzigere Urnengänge für die Quelle kristallklarer Demokratie, und in Kirgisien ist bei früheren Gelegenheiten auch schon heftiger manipuliert worden als diesmal. Die Krux ist, dass die Wahl zum Einkammerparlament zwar etwas näher an internationale Standards herangerückt ist, aber mit der tatsächlichen Krise nicht viel zu tun hat.

Akajew selber hat sich in der entgegengesetzten Richtung entwickelt, vom angesehensten Demokraten der südlichen UdSSR-Nachfolgestaaten zum Paten des eigenen Clans aus Bischkek und Tschu, vom Zusammenhalt stiftenden Vertreter des ganzen Volks zum Kristallisationskern des Nepotismus.

Der Süden, und da vor allem die Regionen von Jalalabad und Osch, ist vergessen, verarmt und verelendet. Das hat objektive Gründe. Die aus der Stalinzeit stammenden Grenzen, vor der Wende nicht mehr als dünne rote Linien im Atlas ohne besondere praktische Bedeutung, sind nun schwer bewachte Staatsgrenzen. Der wirtschaftliche Zusammenhang des einst vergleichsweise begünstigten Fergana-Tals ist zerrissen; aus gemeinsamer Prosperität ist gemeinsamer Niedergang geworden. Der trifft den kirgisischen Rand des Talbeckens besonders hart, der von Märkten in den größeren usbekischen Teilen abgeschnitten ist und sich wegen der Berg-Barrieren, die ihn vom industrialisierten Nord-Kirgisien trennen, nicht so leicht hin zu der Region orientieren kann, in der das Zentrum der Staatsmacht liegt.

Das sind spezifische Krisen-Faktoren. Sie machen Vergleiche mit den Umwälzungen in Georgien und der Ukraine, auf die russische Politmanager und Spindoktoren gern verfallen, schlechthin unseriös. Es fehlt auch die Nachbarschaft zu Staaten und Staatengruppen, von denen demokratische (und künftigen Wohlstand suggerierende) Erfahrungen und Ideen auf Kirgisien ausstrahlen könnten. Und ein allgemein akzeptierbarer strahlender Held der Neuerung in Richtung auf das allgemeine Beste ist im Land zwischen Usbekistan, Russland, China und Afghanistan auch noch nicht zu sehen.

Die handelnden Personen in Bischkek aber scheinen Reflexen zu gehorchen, die sich bei anderen Transformationen der Politik und der Gesellschaft entwickelt haben. Das russisch-neunationalistische Gebrumm einiger bekannter Randfiguren der Geschichte nehmen sie womöglich als Bestätigung: Schon wieder ist was los im Vorgarten; schon wieder tauchen vom Westen bezahlte Maulwürfe aus dem Untergrund auf; schon wieder geht ein Land verloren, das doch uns gehört.

Zwischen- und Nebentöne fallen auf, so die Bemerkung eines kirgisischen Präsidentensprechers, mit Kriminellen werde nicht verhandelt. Das könnte ein Satz von Wladimir Putin in Sachen Tschetschenien sein. Doch von einem Vernichtungskrieg gegen das Volk in einer südlich gelegenen Region ist Kirgisien weit entfernt. Nicht einmal zu Polizeiaktionen reicht es dort derzeit; und darin liegt eine Verhandlungschance. Legalisten wird es freilich schwer fallen, den im rebellischen Süden entstandenen Volksrat als Partner mit vergleichbarem Recht anzuerkennen. Wenn sich aber aus den ersten Protesten in der Hauptstadt mehr entwickelt (die Polizei kann solcherlei durch Tränengas und Wasserwerfer leicht eskalieren lassen), zählen andere Argumente.

Eins zählt nicht: dasjenige vom internationalen islamistischen Terrorismus. Den mag es nebenan geben, wo der Chef-Usbeke Islam Karimow jeden Querdenker mit diesem Etikett belegt und in die besagte Ecke zu treiben versucht. Kirgisien kann ein anderes Beispiel entwickeln, jenes einer Volksbewegung ohne verteufelbare Ideologie; das kann ansteckend wirken, und dann wird außer Akajew auch Karimow wanken.

Aus: Frankfurter Rundschau, 24. März 2005

Einig nur gegen das Alte

VON KARL GROBE

Das Akajew-Regime ist zusammengebrochen, bevor die Revolution es stürzen konnte. Der Umsturz gelang zu rasch, um sofort in eine neue Ordnung hinüber führen zu können. Eine neue Führung einzusetzen erwies sich als schwierig, und die neue Macht reichte nicht aus, Plünderungen und Brandstiftungen in der Hauptstadt zu verhindern. Die Opposition hatte nicht genügend Zeit, sich zu konsolidieren, als sie noch Opposition war, und ist von der neuen Situation offenbar genauso überrascht wie die Gestürzten. Das unterscheidet die kirgisische von den anderen Umwälzungen im nachsowjetischen Bereich.

Die Gegner des Akajew-Regimes fanden sich nicht zuerst in der Hauptstadt zusammen, sondern setzten sich im Abstand weniger Tage, manchmal nur Stunden, zuerst in den südlichen Provinzen durch. War an einem Ort der Triumph über die Staatsmacht bereits das Erlebnis von gestern, so fand er an anderen Orten gerade eben statt. Aus den Erlebnissen des Tages wurde keine gemeinsame Erfahrung mit historischer Tiefe und leitete sich demzufolge auch keine gemeinsame Organisation ab. Spontaneität obsiegte - zu verschiedener Zeit an verschiedenem Ort. Ein zentraler Platz der Orientierung, ein Maidan wie in Kiew, konnte sich nicht entwickeln.

Die alte Ordnung ist aus eigener Schwäche zerfallen. Das hat der um den russischen Einfluss in Zentralasien besorgte Wladimir Putin rasch erkannt. Seine auf Akajew gemünzte Bemerkung, Gewaltlosigkeit könne sich nur leisten, wer stark ist, enthält die Voraussage, dass er stark zu bleiben beabsichtigt, mit ausdenkbaren Folgen. Die noch herrschenden Autokraten in den vier anderen zentralasiatischen Republiken dürften Putins Worte als den guten Rat verstehen, gleichfalls hart zu bleiben.

Die Ursachen jener Unzufriedenheit, aus der Massenbewegungen wachsen können, beseitigt der sich stark wähnende Staat jedoch nicht. Im Gegenteil. Das kirgisische Beispiel zeigt den Zusammenhang klar auf, der zwischen Clan-Herrschaft, Nepotismus, Korruption, regionaler und ethnischer Benachteiligung besteht. Ihn aufzubrechen wäre nun erste Aufgabe der Sieger vom Gründonnerstag. Ob sie dazu in der Lage sind, ist fraglich. Sie sind selber aus dem sozialen Gemisch von Clanzusammenhang und sowjetischer Karriereförderung hervorgegangen und einig nur in der Gegnerschaft gegen das doppelte Alte: das Sowjetsystem von vor 15 Jahren und das Akajew-System seither. Der Kompromiss, den sie finden können, dürfte kaum mehr sein als ein Ausgleich eigener Interessen.

Um daraus Demokratie entwickeln zu können, sind zivilgesellschaftliche Kräfte nötig, die aus gemeinsamer Erfahrung handeln und fähig sind, Partikularinteressen zu überwinden. Die Chance besteht noch; die Plünderungen von Freitagnacht haben sie bereits beschädigt.

Aus: Frankfurter Rundschau, 26. März 2005

Im Wiener "Standard" schreibt Markus Bernath über den neuen Kopf des kirgisischen Umsturzes: Kurmanbek Bakijew.

Eine Stunde Vorsprung hatte Kurmanbek Bakijew vielleicht am Tag der Revolution in Bischkek, und die hat der kirgisische Politiker genützt. Noch bevor Felix Kulow, ein anderer Oppositionsführer und wohl sein ärgster Rivale, am Donnerstag zu den Massen vor dem "Weißen Haus" in der Hauptstadt des zentralasiatischen Staates sprach, war der 55-jährige Bakijew unter dem Jubel seiner Anhänger in den gerade erst erstürmten Präsidentenpalast eingezogen, so, als ob er schon der nächste Hausherr sei.
Bakijew, wie so viele andere Oppositionsführer in der ehemaligen Sowjetrepublik ein früherer Gefolgsmann des gestürzten kirgisischen Staatschefs Askar Akajew, ist nun dabei, im Chaos der Revolution die Weichen für seine Rückkehr an die Macht zu stellen. (...)
Dass mit Kurmanbek Bakijew aber nun ausgerechnet ein Ex-Regierungschef zurück auf die Bühne kommt, unter dessen Verantwortung im März 2002 in Aksy regimekritische Demonstranten erschossen wurden, sagt viel über die Demokratierevolte in Kirgistan.
Der Technokrat Bakijew, von 1994 bis 1997 Gouverneur in seiner südlichen, ländlichen Heimatprovinz Chui und anschließend, von 1997 bis zur Ernennung zum Premierminister im Jahr 2000 Gouverneur der industriellen, nördlichen Chui-Provinz, musste nach den Schüssen von Aksy seinen Hut nehmen. "Ich bin für Stabilität und Disziplin", sagte der studierte Elektroingenieur, der dann seinen Weg in die Opposition fand.
Auf die moralische Verfassung eines Volkes komme es an, diktierte Bakijew noch im vergangenen Jahr, im Vorlauf zu den Parlamentswahlen, einem Journalisten in den Notizblock. "Schauen Sie sich die Russen an. Sie glaubten an Führung, an sich selbst, und sie haben ideologisches und wirtschaftliches Wachstum in allen Bereichen."
Moskau ist es unter diesen Umständen leicht gefallen, sich mit der neuen alten Führung in Bischkek zu arrangieren. Man kenne schließlich die Oppositionsführer, erklärten russische Regierungsvertreter am Tag nach dem Umsturz. Kurmanbek Bakijew, überdies mit einer Russin verheiratet, hatte sich derweil in einer nächtlichen Parlamentssitzung zum Übergangspremier und Übergangspräsidenten ernennen lassen. (...)

Aus: DER STANDARD, Printausgabe, 26./27./28. März 2005

Anders als in der Ukraine sei der Umsturz in Kirgisien eine "farblose Revolution", befindet Detlef D. Pries im "Neuen Deutschland". Und die Unsicherheit über die Richtung, in die die Ereignisse noch treiben werden, sei gerade auch im Westen groß.

Nicht die Opposition, sondern das Volk habe gesiegt, sagte einer der feiernden Demonstranten in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Mit allem mag der gestürzte Präsident Askar Akajew gerechnet haben, nur mit dem Volk nicht. Die Opposition hatte er sehr wohl auf seiner Rechnung. Die sei vom Ausland geheuert und gesteuert, meinte Akajew, weshalb er ihr auch die Wahl ins Parlament verwehrte. Das Volk, darauf beharrte er, wolle Ruhe und Stabilität. Unruhige Geister wähnte er allenfalls im Süden, jenseits des Tienschan. Hauptstadt und Macht glaubte er dagegen fest in seinen Händen.
Ein Irrglaube, wie sich zeigte. Das rasche Ende Akajews beweist, wie wenig Rückhalt er tatsächlich hatte. Dabei galt er lange Zeit als der liberalste, der »westlichste« unter Zentralasiens Präsidenten. Nur weil er, anders als seine Amtskollegen, zuvor nicht KP-Chef war, sondern Wissenschaftler. Selbst jetzt sind westliche Kommentatoren noch höchst unsicher, ob sie den Sturm des Weißen Hauses in Bischkek als Revolution oder als Staatsstreich bezeichnen sollen: keine Einheitsfarbe, keine straffe Organisation, kein Führer… »Nur« das Volk hat seine Unzufriedenheit drastisch zum Ausdruck gebracht. Ob allerdings die künftig in Kirgistan Regierenden ihre Interessen dem Volkswillen unterzuordnen bereit sind, das ist noch nicht sicher.

Aus: Neues Deutschland, 26. März 2005

Der Kommentator in der Neuen Zürcher Zeitung findet dagegen im kirgisischen Umsturz mehr Parallelen zur Ukraine und zu Georgien. Die Aussichten auf die Zukunft beliben aber auch hier höchst unklar. R. M. schreibt u.a.:

(...) Offenbar hat sich zumindest ein Teil der kirgisischen Opposition von dem unerwartet erfolgreichen Kampf der damaligen Regimegegner in Kiew und Tbilissi inspirieren und ermutigen lassen. Und vielleicht haben gerade diese Erfahrungen wiederum den kirgisischen Machthaber Akajew dazu bewogen, die Segel überraschend schnell zu streichen - und damit eine blutige Konfrontation mit den Aufständischen weitgehend zu vermeiden. (...)
Noch ist höchst ungewiss, ob die interimistischen neuen Machthaber in Kirgistan willens und in der Lage sind, die anarchistischen Tendenzen im Land einzudämmen und in nützlicher Frist für freie und faire Wahlen zu sorgen. Sollte der provisorische Präsident Bakijew vornehmlich den Ehrgeiz haben, die autoritäre Macht seines Vorgängers Akajew (unter dem er einst als Ministerpräsident gedient hatte) zu usurpieren, dann dürfte auch er eines Tages vom Kiewer Virus hinweggefegt werden. Jedenfalls bleibt zu vermuten, dass dieses Virus nach den neuesten Vorgängen in Kirgistan allen Machthabern in sogenannten gelenkten Demokratien noch mehr schlaflose Nächte bereiten wird.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 26. März 2005

Ähnlich zurückhaltend und durchaus skeptisch, was die Perspektiven des Landes betrifft, äüßert sich der Kommentar in der Süddeutschen Zeitung:

(...) Anders als in der Ukraine brachte nicht hinhaltender Widerstand und ziviler Ungehorsam den Erfolg, sondern aktive Gegenwehr. Bislang hat die Opposition aber keine Farbe und kein Gesicht. Die verschiedenen kirgisischen Oppositionsführer müssen erst beweisen, dass sie sich einigen und ihr Land einen können.
Kirgisien wird dauerhafter Instabilität nur dann entgehen, wenn die neuen Machthaber rasch die richtigen Weichen stellen - also zunächst einmal eine freie und faire Wahl organisieren. Danach aber werden die Herausforderungen eher noch größer werden.
Von der Demokratie erhoffen sich die Kirgisen ein Ende ihres Elends. Doch Wohlstand ist noch schwerer zu haben als eine freie Wahl.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 26./27. März 2005

Werner Pirker sieht in den kirgisischen Vorgängen mehr als nur einen Umsturz. Die Revolution, die "außer Kontrolle" geraten sei, erinnert ihn eher an "Volkserhebungen klassischen Typs" und könnte auch in anderen asiatischen Republiken Schule machen.

Gemeinhin heißt es, daß angekündigte Revolutionen nicht stattfinden. Bei den gegenwärtigen Revolutionen, den sogenannten »sanften«, scheint das nicht der Fall zu sein. Da ist ihre Ankündigung gewissermaßen die Voraussetzung dafür, daß sie stattfinden. Ist das Logo einmal entworfen und die passende Revolutionsfarbe, die natürlich nicht rot sein darf, gefunden, ist der Umsturz nicht mehr aufzuhalten. Wo den westlichen Hegemonialmächten ein Machtwechsel genehm erscheint, finden sich wie von Zauberhand herbeigeholt die Massen, die gegen manipulierte Wahlergebnisse demonstrieren und nicht eher damit aufhören, bis die Regierung gestürzt ist.
Es ist ein seltsames Phänomen: Kaum daß eine Bewegung unzufriedener Bürger in den ehemaligen Sowjetrepubliken ihren Willen zum Machtwechsel bekundet hat, erstarrt auch schon der Staatsapparat in Angst und Schrecken. Das Regierungslager erodiert, und fertig ist die Revolution. Wären bei uns die Regierenden nur halb so empfindlich für die Stimmung an der Basis, dann hätten sie längst den Rücktritt einreichen müssen und die zum neoliberalen »Reformlager« gehörende Opposition gleich mit. Aber nicht einmal »Hartz IV« konnte verhindert, geschweige denn ein Kurswechsel zu einer sozialeren Politik erzwungen werden. Dazu sollte es ja in einer Demokratie eigentlich gar keiner Revolution bedürfen. Oder inzwischen doch? Im französischen Mai 1968 gab es tatsächlich eine revolutionäre Situation. Doch das System wußte seinen Sturz zu verhindern. Nicht einmal de Gaulle konnte zum Gehen bewogen werden.
In der Kirgisischen Republik fand der Machtwechsel unter dem Markennamen »Tulpen-Revolution« und unter gelben Fahnen statt – vereinzelt auch unter dem grünen Banner des Propheten. Doch nicht nur letzteres war nicht ganz im Sinne des Erfinders. Die »Revolution« in Kirgisien hielt sich nicht an den Sittenkodex der »friedlichen Revolution«. Sie verlief zu schnell und heftig und nicht gewaltfrei. Sie erinnerte zu sehr an Volkserhebungen klassischen Typs, um als politisch korrekt durchzugehen. In den Plünderungen manifestierte sich neben krimineller Energie auch das Bedürfnis breiter Schichten nach einer radikalen Umverteilung.
Gewünscht war der Sturz des eher prorussischen Machtlagers in der Republik, eine Umverteilung unter den Clans. Das als Volksaufstand zu inszenieren, erfordert die demagogische Nutzung der sozialen Unzufriedenheit. Dieser Prozeß scheint den Revolutionssponsoren außer Kontrolle geraten zu sein. Es besteht auch die Gefahr, daß die Volkswut auf mittelasiatische Länder unter US-hörigen Regimes übergreift, die nicht zur »Demokratisierung« bestimmt sind.

Aus: junge Welt, 26. März 2005

Auch der Kommentar in der "Berliner Zeitung" geht auf die Perspektive der kaukasischen und asiatischen Republiken ein. Der Kommentar von Katja Tichomirowa ist überschrieben mit "Asiatische Despotien". Darin heißt es u.a.:

(...) Die so genannten Republiken sind allesamt Autokratien, in denen sich die regierenden Fürsten pseudodemokratische Institutionen wie Hofnarren halten. Sie gebieten über Parlamente, die bei Bedarf jederzeit aufgelöst werden können oder sich überhaupt nur versammeln, um Elogen auf den Herrscher vorzutragen. Was den russischen Präsidenten und sein Außenministerium treibt, diese Autokraten, zu denen auch Askar Akajew in Kirgisien gehörte, zu stützen, bleibt unverständlich, denn bislang hat Russland davon in keiner Weise profitiert. Im Gegenteil, in Usbekistan und Kirgisien musste das russische Außen- und Verteidigungsministerium amerikanische Militärbasen hinnehmen, weil sie sie gegen den Willen der regierenden Präsidenten, die ihre Macht gerne durch demonstrative Andeutungen von Schaukelpolitik stärken, nicht hätten verhindern können.
An wirtschaftlicher Bedeutung für die Region haben längst andere Staaten, vor allem China, Russland den Rang abgelaufen. Kirgisien zum Beispiel hat außer Goldvorkommen nichts zu bieten und ist darum nahezu ausschließlich vom Handel abhängig. Und den betreibt es natürlich nicht in erster Linie mit Russland, sondern mit den chinesischen Nachbarn. Was die Entwicklung in Kirgisien gefährlich macht, sind die zu erwartende Auswirkung auf die übrigen zentralasiatischen Staaten.
Das angrenzende Usbekistan - wie Kirgisien ein muslimisches Land - hat nachdem über Jahre jedwede Religionsausübung kriminalisiert wurde, nun mit extremistischen islamistischen Gruppierungen zu kämpfen. Unruhen in den Nachbarländern fürchtet der usbekische Präsident Karimow so sehr, dass er seine Grenzen am liebsten abriegeln würde. Ähnliches gilt für das ebenfalls an Kirgisien grenzende Tadschikistan, das bereits einen blutigen Bürgerkrieg hinter sich hat. Auch in Kasachstan dürfte Präsident Nursultan Nasarbajew die Ereignisse in Kirgisien mit wachsendem Unbehagen verfolgen. Er muss sich im Dezember 2006 einer Wiederwahl stellen. Bislang meisterte er diese Übung stets mit der aus der in den Zeiten der Sowjetunion erworbenen Bravour und mit den dazu gehörigen nahezu einstimmigen Ergebnissen. Die Mittel, die er dafür einsetzte, wird er nun überdenken müssen. Fälschungen werden immer unpopulärer und unpopulär zu sein, macht auch in Asien schon lange keinen Spaß mehr, sondern wird von Monat zu Monat gefährlicher.

Aus: Berliner Zeitung, 26. März 2005


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