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Klares Votum für Kirgistans neue Verfassung

Zentralasiatisches Land verabschiedet sich von Präsidialrepublik / OSZE erkennt Referendum an

Internationale Wahlbeobachter haben die Volksabstimmung über eine neue Verfassung in der zentralasiatischen Republik Kirgistan anerkannt, aber auch Kritik geübt.

Trotz der gespannten Lage nach den blutigen Unruhen im Süden des Landes sei das Referendum »bemerkenswert friedlich« abgelaufen. Das sagte der slowenische Diplomat Boris Frlec, Chef der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), am Montag in Bischkek. Es sei nun nötig, die vielen Mängel bei der Abstimmung für die demnächst geplante Parlamentswahl zu beseitigen.

Bei dem Referendum stimmten nach Angaben der Wahlleitung am Sonntag mehr als 90 Prozent der Berechtigten für die Einführung einer parlamentarischen Republik nach deutschem Vorbild. Damit verabschiedet sich das Land als erstes in Zentralasien von dem Modell einer Präsidialrepublik mit einem starken Staatschef. Nach Angaben der OSZE-Beobachter votierten die Kirgisen in »großer Zahl für eine neue demokratische und friedliche Zukunft« ihres Landes. Anfang April war Präsident Kurmanbek Bakijew bei einem Aufstand gestürzt worden.

Konkret kritisierten die OSZE-Beobachter, dass die gesetzlichen Grundlagen für das Referendum unklar gewesen seien. Zudem hätten die Behörden es den Wählern leicht gemacht, mehrfach ihre Stimme abzugeben. Besonders im Süden, wo bei Zusammenstößen zwischen Kirgisen und Usbeken Mitte Juni wohl mehrere hundert Menschen starben, sei die Wahlbeteiligung niedrig gewesen. Dort herrsche weiter eine Atmosphäre der Angst, so OSZE-Missionsleiter Frlec. Auch seien dort die Möglichkeiten zur Wahlwerbung sehr eingeschränkt gewesen.

Derweil sieht Russland die Gefahr, dass Kirgistan auseinanderbricht. Der russische Präsident Dmitri Medwedjew zeigte sich besorgt, dass der per Referendum beschlossene Übergang zu einer parlamentarischen Republik nach deutschem Vorbild den Zerfall des Landes bedeuten könnte. Nötig sei dort eine »starke, gut organisierte Kraft« wie ein Präsident, erklärte Medwedjew am Rande des G20-Gipfels im kanadischen Toronto. »Die Legitimierung der gegenwärtigen Führung ist gering, und ihr Rückhalt wirft viele Fragen auf. Ich kann mir nicht besonders gut vorstellen, wie das Modell einer parlamentarischen Republik in Kirgistan funktionieren soll.«

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juni 2010


Neuer Versuch am Tienschan

Von Detlef D. Pries **

Kirgistan hat seit Sonntag kraft Volksentscheid die modernste Verfassung Zentralasiens. Kein »Führer der Nation«, kein »Vater aller Kirgisen«, der bevorzugt doch nur eigene Kinder und Verwandte bedenkt, sondern ein demokratisch gewähltes Parlament, in dem auch Minderheiten Sitz und Stimme haben, soll künftig die maßgeblichen Entscheidungen treffen. Soweit der löbliche Verfassungstext.

Mit der Wirklichkeit zu Füßen der Tienschan-Gipfel hat dieser Text bisher wenig zu tun. Gerade erst haben sich Kirgisen und Usbeken zu blutigen Pogromen gegeneinander hetzen lassen. Immerhin: Die Volksabstimmung verlief entgegen vielen Bedenken »bemerkenswert friedlich« und unter großer Beteiligung, wie ausländische Beobachter bestätigen. Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa und ihre Regierung sehen sich legitimiert und nennen den Referendumstag »historisch«.

Voreilig? Skeptiker, die Kirgistan in einer »starken Hand« besser aufgehoben sähen und den Zerfall des Staates vorhersagen, gibt es reichlich, vor allem in der Nachbarschaft. Obwohl es doch die bitteren Erfahrungen mit zwei »starken« Präsidenten waren, aus denen die neue Verfassung resultiert. »Historisch« wird deren Annahme natürlich erst genannt werden können, wenn sich die Verheißung von Frieden und sozialem Aufschwung erfüllt hat, wenn Text und Wirklichkeit einander zumindest näher kommen.

** Aus: Neues Deutschland, 29. Juni 2010 (Kommentar)


Es brodelt weiter

Kirgistan hat eine neue Verfassung. Die usbekische Minderheit im Südwesten des Landes hat nicht mit abgestimmt. »Strahlende Zukunft« oder Bürgerkrieg?

Von Rainer Rupp ***

Bei einem Referendum am Wochenende in Kirgisien haben sich Berichten zufolge die Wähler mit großer Mehrheit für die neue Verfassung des Landes entschieden. Laut der Wahlkommission in der Hauptstadt Bischkek sprachen sich fast 90 Prozent der Wähler, die ihre Stimme abgegeben hatten, für die parlamentarische Demokratie aus. So könnte Kirgistan das erste zentralasiatische Land mit einer solchen Staatsform werden. Zugleich wurde die einstige Außenministerin des Landes, Rosa Otunbajewa, als Interimspräsidentin bis Ende 2011 bestätigt. Mit Otunbajewa an der Spitze hatte die Opposition nach dem vergeblichen Versuch des Expräsidenten Kurmanbek Bakijew, Massenproteste blutig zu unterdrücken, im April erfolgreich die Macht in Bischkek und im größten Teil des Landes übernommen. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses setze Otunbajewa noch am Sonntag abend die neue Verfassung in Kraft, die Kirgisien in eine »strahlende Zukunft« führen solle. Genauer betrachtet gibt es einstweilen jedoch noch einige düstere Wolken.

Rückhaltlos aufklären

Zwar war die Wahlbeteiligung mit 70 Prozent auch im Vergleich mit westlichen Ländern recht hoch, aber die fehlenden 30 Prozent dürften so gut wie ausschließlich Stimmenthaltungen der usbekischen Minderheit im Südwesten des Landes sein, der Hochburg des Klans des gestürzten Bakijew. Vor zwei Wochen wurde diese von hohen Gebirgsketten vom Rest des Landes abgetrennte Region von blutigen Unruhen erschüttert. Diese waren ursprünglich von den Anhängern des Bakijew-Klans ausgegangen, arteten dann jedoch zu ethnischen Zusammenstößen aus, bei denen sich die Kirgisen und Usbeken mit großer Brutalität nicht zum ersten Mal bekämpften. Es gab weit über hundert Tote, Hunderte von Verletzten, ausgebrannte, zuvor von Usbeken bewohnte Stadtviertel und Zigtausende Flüchtlingen.

Ohne eine rückhaltlose Aufklärung dieser mörderischen Vorfälle dürfte es der Otunbajewa-Regierung trotz der Euphorie über die neue Verfassung schwerfallen, ihre Autorität auf den Südwesten des Landes auszudehnen. Glaubhaften Berichten zufolge waren nämlich auch kirgisische Polizisten und Soldaten in Uniform an der Seite des Mobs an den ethnischen Übergriffen gegen Usbeken beteiligt. Aber statt die Vorfälle zu untersuchen, beharrt die neue kirgisische Regierung darauf, daß allein von Bakijew bezahlte »ausländische Kräfte« für die Unruhen verantwortlich sind. Und Regierungssprecher Kemel Belekow gibt sogar den ausländischen Medien eine »moralische Mitschuld«, denn sie hätten fälschlicherweise von einem »Genozid an der usbekischen Bevölkerung« berichtet.

Starke Regierung gefragt

Derweil kursieren jedoch im Internet kirgisische Videos, die z. B. zeigen, wie ein Usbeke vom Lynchmob mit Benzin übergossen und angezündet wird. Das Opfer wird im Todeskampf von der johlenden Menge beschimpft und getreten. Der Verweis der Regierung auf die alleinige Schuld »ausländischer Kräfte« sind nicht dazu angetan, das Vertrauen der ethnischen Usbeken in die Zentralregierung zu stärken.

Auch Rußlands Präsident Dmitri Medwedew bezweifelte am Rande des G-20-Gipfels in Toronto die Möglichkeiten der Otunbajewa-Regierung, Kirgistan in eine parlamentarische Demokratie zu verwandeln. Vielmehr befürchtete er, daß durch die Entwicklungen auf beiden Seiten die Extremisten gestärkt werden. Kirgistan brauche jetzt eine starke Regierung, um der Gefahr des Zusammenbruchs und des Auseinanderfallens des Landes entgegenzuwirken.

*** Aus: junge Welt, 29. Juni 2010


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