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"Faustpfand für Verhandlungen"

Kolumbien-Experte Raul Zelik über die Strategie der FARC und die Parapolitik der Elite

Als Geste des guten Willens haben die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) im Januar auf Vermittlung des Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez, die Gefangenen Consuelo González und Clara Rojas frei gelassen. Rojas ist die ehemalige Wahlkampfchefin von Ingrid Betancourt. Beide wurden am 23.Februar 2002 von der FARC verschleppt. Über die Situation in Kolumbien sprach mit Raul Zelik, Autor von "Kolumbien. Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung" für das Neue Deutschland (ND) Martin Ling.



ND: Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner hat am Mittwoch (20. Februar) angekündigt, dass die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) Venezuelas Präsident Hugo Chávez angeboten haben, nach den beiden Freilassungen im Januar vier weitere Geiseln freizugeben. Kann auch Ingrid Betancourt mit einer Freilassung rechnen?

Zelik: Nein. Der Fall Ingrid Betancourt ist anders gelagert und sehr spezifisch. Ingrid Betancourt fällt nicht in das Grundraster der von den FARC Entführten: Dabei handelt es sich überwiegend um Offiziere und Politiker der Rechten. Betancourt ist keine Vertreterin des politischen Establishments, sie gehört einer kleinen Umweltpartei an.
Betancourt wird festgehalten, weil sie französische Staatsbürgerin ist. Damit besitzen die FARC eine Garantie, dass sich Frankreich weiter in den Konflikt zwischen Guerilla und Regierung einmischt, um einen Gefangenenaustausch zu erreichen. Das ist ein Hauptziel der FARC. Ihnen geht es darum, als kriegführende Partei anerkannt zu werden. Dafür bedarf es internationaler politischer Anerkennung. Betancourt ist für Verhandlungen ein wichtiges Faustpfand. Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass sie einseitig frei gelassen wird. Wahrscheinlich wird Betancourt so lange Gefangene der FARC bleiben, bis es zumindest eine mit Frankreich ausgehandelte Vereinbarung gibt.

Die Forderung, die FARC als Kriegspartei anzuerkennen, hat auch Venezuelas Präsident Hugo Chávez erhoben. Seine Forderung stieß in Kolumbien bei der Regierung Uribe und der Bevölkerung auf heftigen Gegenwind. Am 4. Februar haben mehrere Millionen Kolumbianer ausschließlich gegen die FARC demonstriert. Wie erklärt sich, dass die Bevölkerung so einseitig die FARC als Verantwortlichen der kriegerischen Konflikte in Kolumbien ausmacht?

So hart es klingt: Man muss davon ausgehen, dass es sich um eine Manipulation von weiten Teilen der Bevölkerung handelt. Zu diesen Demonstrationen für Frieden und Menschenrechte haben die Paramilitärs mit aufgerufen, in Person des AUC-Kommandanten Salvatore Mancuso! Gegen Entführungen zu sein, aber einem Aufruf von Rechtsradikalen zu folgen, die Tausende entführt und ermordet haben, ist widersinnig. Man muss diese Demonstrationen vor dem Hintergrund massiver Medienkampagnen sehen. Die kolumbianische Medienlandschaft ist extrem konzentriert. Uribes Vizepräsident, Francisco Santos, entstammt der Familie, der das wichtigste Medienkonsortium gehört. Ihre Berichterstattung trägt klar erkennbare Züge der so genannten »psychologischen Kriegführung«, also der gezielten Mobilisierung politischer Stimmungen. Man muss die FARC in vieler Hinsicht kritisieren, aber sie sind nicht die Hauptverantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen.

2007 machte der so genannte Parapolitik-Skandal große Schlagzeilen, der die Verbindungen zwischen Politikern aus Uribes Umfeld und Paramilitärs (AUC) offenlegte. Wie ist da der Stand?

Der Parapolitik-Skandal reicht einige Jahre weiter zurück. Seit 2005 gibt es Ermittlungen der Justiz zu strategischen Bündnissen von Teilen des politischen Establishments, vor allem in Nordkolumbien, mit dem Paramilitarismus. Mehrere Dutzend Abgeordnete sowie einige Gouverneure sitzen mittlerweile im Gefängnis, alle aus Uribes Regierungslager. Die Aussagen der Kronzeugen sind an Klarheit nicht zu übertreffen. Rafael García, Chef der Informatik-Abteilung der DAS-Sicherheitspolizei, hat 2006 gesagt, dass der Leiter der DAS, Jorge Noguera, den Paramilitärs Listen mit Gewerkschaftern überreichte und ihnen den Auftrag gab, diese Gewerkschafter zu ermorden. Noguera leitete 2002 den Wahlkampf von Álvaro Uribe in Nordkolumbien. Ein gepanzerter Wagen, der eigentlich für Uribe bestimmt ist, wurde dem AUC-Kommandanten Jorge 40 zur Verfügung gestellt. Außerdem gab es nach Aussage Garcías ein Komplott der kolumbianischen Regierung, der DAS-Polizei und AUC-Paramilitärs, gemeinsam mit der venezolanischen Rechten die Regierung Chávéz zu stürzen. Die Indizien sind so eindeutig, dass die Justiz um Ermittlungen kaum herumkommt. Sicher muss man den Ermittlungsrichtern Respekt zollen, die bei dieser Arbeit ihr Leben riskieren. Aber wenn Kolumbien wirklich ein Rechtsstaat wäre, würde wohl fast die gesamte Regierung im Gefängnis sitzen müssen. Es ist ein Skandal, dass die internationale Öffentlichkeit, die sich ja durchaus in Lateinamerika einzumischen versteht, kein Amtsenthebungsverfahren gegen Uribe fordert. Dieser Präsident hat mit dem Drogenhandel und paramilitärischen Todesschwadronen engste Verbindungen.

Nach einer baldigen Lösung des Bürgerkriegs sieht es so wenig aus wie nach einer Freilassung von Ingrid Betancourt. Welche Lösungsansätze sind denn denkbar?

Die Probleme sind immer noch jene, die sich schon bei früheren Verhandlungsversuchen -- 1984, 1991, 1999-2002 -- stellten. Die FARC fordern Garantien für eine legale Opposition. Man darf ja nicht vergessen: 1985 gründeten Mitglieder der FARC, kommunistische und sozialdemokratische Linke, die Patriotische Union. Von dieser Partei wurden in den folgenden Jahren mindestens 3500 Mitglieder, darunter praktisch alle Funktionsträger, durch Todesschwadronen ermordet. Das soll sich nicht wiederholen. Zudem werden Sozialreformen, vor allem eine Landreform, gefordert, die es der armen Bevölkerungsmehrheit ermöglichen, am wirtschaftlichen Leben teilzuhaben. Mir scheint das beides sehr vernünftig.

Sind die FARC an einem Friedensabkommen interessiert?

Die FARC sind sehr militaristisch und kommen aus einer autoritären Strömung der Linken. Ihr Umgang mit der Bevölkerung ist in vielen Regionen absolut inakzeptabel. Trotzdem muss man sehen, dass die FARC bereit sind, ein Friedensabkommen zu schließen. Sie haben signalisiert, dass sich mit einem Mitte-Links-Präsidenten, wie zum Beispiel Rafael Correa in Ecuador, die Situation schlagartig ändern würde. Dass der Krieg weitergeht, liegt nicht allein daran, dass die FARC sehr von der Macht der Waffen überzeugt sind -- was sie zweifellos sind. Es liegt vor allem daran, dass die kolumbianische Oberschicht nicht bereit ist, über soziale und wirtschaftliche Reformen zu verhandeln. Daran ist der Friedensprozess 2002 nämlich gescheitert. Und diese Bereitschaft ist in der kolumbianischen Oligarchie heute noch weniger vorhanden als damals.

Porträt

Mutig oder naiv? Trotz zahlreicher Warnungen hatte die damals 40-jährige kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt den Vorstoß in die ehemals befreite Zone der FARC-Guerilla gewagt. Obwohl sie wusste, dass die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) vor Entführungen nicht zurückschrecken, um politische oder finanzielle Gegenleistungen zu erpressen. Obwohl sie wusste, dass mit der Aufkündigung der Friedensgespräche seitens des Präsidenten Andrés Pastrana und der folgenden Militäroffensive das Gefährdungsrisiko neue Höhen erklommen hatte. Dennoch war es nicht in erster Linie Naivität, die die Mutter zweier Kinder zu ihrem Unterfangen bewegte.

Was sie trieb, war die Bitte des Bürgermeisters von San Vicente del Caguán -- einer Guerilla-Hochburg -- zugunsten der Zivilbevölkerung zu vermitteln, die durch die Armeeoffensive zwischen die Fronten zu geraten drohte.

Erst 1990 kehrte die 1961 in Bogotá geborene Diplomatentochter aus Frankreich nach Kolumbien zurück. Nach der Trennung von ihrem französischen Mann Fabrice Delloye hatte die studierte Politologin das feste Ziel, sich in die Politik einzumischen. Schon fünf Jahre später wurde sie für die Liberale Partei ins Parlament gewählt. In der Politszene machte sie sich mit Enthüllungen über korrupte Abgeordnete unbeliebt. Der Höhepunkt: Sie erbrachte den Nachweis, dass der erfolgreiche Wahlkampf des damaligen liberalen Präsidentschaftskandidaten, Ernesto Samper, mit Drogengeldern des Cali-Kartells gesponsert war.

1998 erhielt sie bei den Wahlen zum Senat die meisten Stimmen. Sie verließ die Liberale Partei und gründet ihre eigene: »Grüner Sauerstoff«. Für die Präsidentschaftswahlen 2002 galt sie als chancenlos. Seit dem 23. Februar 2002 ist sie Verhandlungsmasse für die Guerilla, die sie ebenso wie die rechtsextremen Paramilitärs und die korrupten Politiker immer scharf kritisiert hat.
ML



* Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2008


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