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"Ein Bild hat mehr Macht als eine Rede"

Gespräch mit Marta Rodríguez. Über das Alles-selber-machen-Müssen und ihren ersten Film »Chircales« (1971), die Theologie der Befreiung und rechte Paramilitärs, Kinderarbeit und die Liebe als Kraft der Kommunikation

Die Kolumbianerin Marta Rodríguez, Jahrgang 1938, macht seit über 40 Jahren Dokumentarfilme, viele davon mit Jorge Silva, der 1987 starb. Sie war eine Mitarbeiterin des Befreiungstheologen Camilo Torres und steht für ein kritisches Dokumentarkino in Lateinamerika, das sie mit ihrem Film »Chircales« von 1971 nachhaltig beeinflußte.



Was war der Impuls für Sie, Dokumentarfilme zu machen?

Ich interessierte mich anfangs für Anthropologie und wollte die Problematik meines Landes zeigen können; ich habe sie von klein an kennengelernt. Mein Vater war vor meiner Geburt gestorben, meine Mutter mußte als arme Bäuerin auf dem Feld arbeiten, um zu überleben.

Ich wollte darauf aufmerksam machen, daß es in Kolumbien zum einen eine Klasse gibt, die das Land und die politische Macht besitzt, und zum anderen eine große Menge unterdrückter Analphabeten. In den 1960er Jahren ging ich nach Paris, wo es beim Musée de l’Homme eine Schule für Ethnologie gab, in der ich ein Seminar für ethnologischen Film von Jean Rouch besuchte. Dieser Mann hat mich sehr beeinflußt. Lateinamerika aber kam in der damaligen französischen Ethnologie kaum vor. Man arbeitete sehr viel zu Afrika, größtenteils aus einem kolonialistischen Blickwinkel.

Rouch begeisterte mich für den Dokumentarfilm. Wenn er zum Beispiel über »Nanook«, Robert Flahertys berühmten Film von 1922 über Eskimos am Nordpol, sprach, durchlitt er den Film förmlich. Mit ihm einen Film anzuschauen war ein Abenteuer, weil er einen den Film miterleben ließ. Die Ethnologie ließ ich dagegen sein und kehrte stark filminteressiert 1965 nach Kolumbien zurück.

Gab es damals in Kolumbien eine Filmindustrie?

Nein, in keiner Weise. Dokumentarfilme waren dort auch noch keine gedreht worden, es gab keine Filmschulen. Filmemachen war wie eine große Utopie. Rouch hatte uns eine Methodologie für die Bevölkerung Afrikas und Lateinamerikas mitgegeben. Er hatte uns gesagt: »Leute, ihr geht in die Dritte Welt, dort gibt es nichts, also müßt ihr alles selber lernen.« Er unterrichtete uns in Kamera, Ton und so weiter. Er sagte uns: »Wenn ihr in diese Länder geht, seid ihr die einzigen, die einen Film machen können; erwartet nicht, daß da Kamera- oder Tonleute kommen, sie werden nicht kommen.«

»Chircales«, der Film über Kinderarbeiter in einer Ziegelfarik, war 1972 Ihr Debüt. Wie kamen Sie auf dieses Thema?

1959 unterrichtete ich, zusammen mit dem Priester Camilo Torres, in einer kleinen Schule. Die Kinder hatten alle Mißhandlungen hinter sich, manchmal hatten sie Verbrenungen an den Händen. Ich fragte mich, woher diese malträtierten Kinder wohl kamen. Eine Straße führte in die Berge, dort oben baute man Lehm ab. Also ging ich mir das mal anschauen. Und da sah ich, wie Kinder in einer langen Reihe gingen, die Schultern vollbeladen mit Ziegeln, vorne, an der Seite und auf den Schultern. Sie stiegen Rampen hoch, und einige fielen hin. Es gab schwere Unfälle und Verletzungen. Und es waren ganz kleine Kinder. Es hatte etwas Mittelalterliches. Dreijährige Kinder mit einem Tragegurt an der Stirn, das war für mich schwer mitanzusehen und sehr traurig.

Ich hatte Camilo Torres an der neugegründeten Fakultät für Soziologie in Bogotá kennengelernt, wo ich angefangen hatte zu studieren. Er war dort Professor geworden, nachdem er in Leuven in Belgien zum Soziologen ausgebildet worden war – zusammen mit dem Priester Gustavo Pérez. Beide vertraten die »Theologie der Revolution«, eine neue Strömung in der katholischen Kirche – auch ein Resultat des Bürgerkriegs von 1948, in dem 300000 Menschen starben. Auch Pérez wurde später ermordet, Torres wurde erschossen.

Als Professor sagte Camilo Torres seinen Studenten: »Gehen wir in ein Arbeiterviertel und eröffnen wir ein Hilfszentrum«. So machten wir es. Mit Camilo war ich vier Jahre lang in diesem Arbeiterviertel. Wir kümmerten uns um die Kinder und brachten ihnen Lesen und Schreiben bei.

Nachdem ich in Frankreich gelernt hatte, wie man Dokumentarfilme macht, kam ich zurück und drehte zusammen mit meinem Freund Jorge Silva »Chircales«, obwohl uns die Großgrundbesitzer daran hindern wollten. Sie kamen zu mir nach Hause, bedrohten mich und Jorge, und als wir eines Abends aus einem Kino kamen, wurde auf uns das Feuer eröffnet. Allerdings wurde so gezielt, daß die Kugeln immer vor unseren Füßen einschlugen. Wir sollten eingeschüchtert, nicht getötet werden.

Wie war das Leben mit den Chircales? Haben Sie mit den Arbeitern in deren Häusern gewohnt?

Im Verlauf der gewaltsamen Ereignisse des Jahres 1948, bei denen auch der Führer der linken Opposition Jorge Eliécer Gaitán ermordet wurde, setzte eine Landflucht ein, da den Landarbeitern die Gefahr drohte, von Todesschwadronen erschossen zu werden. Viele Menschen kamen nach Bogotá oder flüchteten sich in Haciendas. Mit einer dieser Flüchtlingsfamilien drehten wir den Film. Wir haben uns ihr nach und nach angenähert. Sie hatten immer noch sehr viel Angst vor der Gewalt, und wir hatten die Sorge, daß durch unsere Anwesenheit auch wir zu einem Problem für sie werden könnten. Um mit ihnen in der Hacienda sprechen zu können, mußte man aber erst mal dort hineinkommen – zumal mit einer Filmausrüstung. Man brauchte die Erlaubnis des Besitzers. Ich verschaffte sie mir mit Hilfe eines französischen Freundes, der mich bei ihm vorstellte. Er sagte, ich wolle eine linguistische Studie machen, und so kamen wir herein.

Die Herren Landbesitzer überwachten alles und erlaubten uns nicht, dort zu leben. Um zu drehen, mußte ich jede Menge Lügen erfinden. Trotzdem entging ihnen nicht, daß die Arbeiter vor der Kamera davon sprachen, daß ihre Chefs keine Sozialabgaben leisten würden und daß der Lohn nicht gerecht sei. Schließlich wurden wir aus der Hacienda vertrieben. Doch die Familie, die wir porträtierten, hielt immer zu uns.

Wie gestaltete sich der weitere Produktionsprozeß?

Es war so, wie Rouch es uns gelehrt hatte. Die Regeln lauteten: Den Film vor Ort zu entwickeln, den gefilmten Menschen zu zeigen und mit ihnen die Bilder zu diskutieren. Ich schnitt das Filmmaterial bei mir zu Hause manuell auf einem alten Filmbetrachter, den mir die französische Botschaft zur Verfügung gestellt hatte. Die Leute kamen zu mir und sahen es sich an. So entstand mit ihnen zusammen die erste Schnittfassung. Doch nicht nur die Montage, der ganze Film, seine Fragestellung und Zielrichtung, war ein Gemeinschaftsprodukt.

Es entwickelte sich nicht nur Vertrauen, sondern auch Freundschaft. Ich filmte intime Momente, etwa wenn sie schliefen. Und wir besprachen das Sexualleben ebenso wie die Politik. Diese Vorgehensweise war sehr zeitaufwendig. Eine erste Fassung des Films zeigten wir auf einem Festival, das 1968 in Venezuela stattfand. Da war der Film anderthalb Stunden lang, und man fing schon an, über unsere Methode zu reden. Danach schnitten wir weiter und kamen schließlich auf 42 Minuten. Wir arbeiteten fünf Jahre, von 1966 bis 1971, bis wir den Film endgültig fertigstellten.

Was vermutlich auch seinen Grund darin hatte, daß Sie alles allein mußten. Im damaligen Kolumbien einen Film drehen zu wollen, bedeutete, daß man alles selber hinkriegen mußte, es gab ja keine Produzenten, geschweige denn ein Team. Das Filmmaterial kaufte ich stückweise von den Kameraleuten der Fernsehnachrichten. Das Geld dafür verdiente ich in der französischen Botschaft. Ich arbeitete dort in der Filmabteilung.

Die Nachrichtenleute liehen mir auch die Kamera. Es war eine 16-Millimeter-Bolex aus der Schweiz, allerdings schon beschädigt. Sie hatte eine Parallaxenverschiebung, die wir mit Hilfe einer Schnur korrigierten. So filmten wir. Ich zeigte Jorge, wie man sie benutzt: »So macht man die Kamera auf, so kommt die Spule hinein, so fädelt man ein«. Später wurder er einer der besten Dokumentarkameramänner.

Damals war der Ton separat. Man hatte eine 100-Fuß-Rolle Film, zweieinhalb Minuten, die legte man ein und filmte, auf einem separaten Tonbandgerät nahm man den Ton auf, und später montierte man alles zusammen, auf irgendwelchen deutschen Schneidetischen. Aber das geschah sehr langsam, weil man bei jeder Szene den Bildstreifen synchron mit dem Magnettonband zusammenbringen mußte – eine Menge Handgriffe. Schneiden war eine sehr umfangreiche Sache.

Bei »Chircales« gab es keine Interviews mit Direktton, wir drehten nicht mit Synchronton, sondern mit Ton aus dem Off. Ich war viel mit den Frauen zusammen, plauderte und unterhielt mich mit ihnen. Diese Gespräche nahm ich separat auf, sie dienten mir später als Grundlage für meinen Kommentar. Es war ein recht kunsthandwerkliches Filmemachen.

Braucht man eine wissenschaftliche Grundlage, um gute Dokumentarfilme zu machen?

Ich denke ja. Die anthropologische Methode der »teilnehmenden Beobachtung« hat uns Instrumente gegeben, um einer komplexen Realität zu begegnen, um zum Beispiel so ein Thema wie die Migration in die Städte adäquat zu verhandeln.

Ist das Filmen für Sie immer noch gefährlich?

Jetzt ist es sogar schlimmer geworden. Denn damals war in Kolumbien der Krieg noch nicht so weit fortgeschritten wie heute. Heute gibt es Guerilleros, Paramilitärs, die Armee, Drogenhändler, gewöhnliche Verbrecher, ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Zur Zeit arbeite ich mit einem sehr jungen Mann, Fernando, er ist gerade 32 Jahre alt. Die rechten Paramilitärs haben ihn einmal für 24 Stunden entführt, ich bin fast krank geworden vor Schreck und Sorge. Man fährt auf der Landstraße lang und muß an Kontrollpunkten der Paramilitärs anhalten. Sie kommen einem mit Gewehren entgegen, halten einem die Waffe unter die Nase und fragen, wohin mal wolle? Der Kriegszustand ist so zugespitzt, daß man nie weiß, wann sie auftauchen werden. Wer die soziale Situation in Kolumbien kritisiert, wird bedroht.

Würden Sie sich als Kommunistin bezeichnen?

Nein, überhaupt nicht. Ich bin der Bewegung der Indigenen, der Schwarzen und der Minderheiten sehr verbunden, aber keine Militante.

Welche Möglichkeiten hat der Film?

Die Kraft der Bilder. Ein Bild hat mehr Macht als eine Rede. Man kann vor Zuhören in einem Saal sagen: »In Kolumbien werden Kinder von klein an ausgebeutet.« Aber wenn man ein Bild sieht, etwa von einem Kind, das Ziegelsteine trägt, zählt allein schon das Bild.

Wir begriffen uns in Kolumbien nicht nur als Künstler. Wir nannten uns Kulturarbeiter. Unser Filmen geschah als Akt der Solidarität, war Teil der Gesellschaftskritik. Filmemachen bedeutet, sich in vielen Filmen einzubringen. »Chircales« entstand vor 40 Jahren, und ich bin immer noch in Kontakt mit der Familie. Ich habe Taufen, Todesfälle, Beerdigungen begleitet, sie ist auch meine Familie geworden. Die Verbindung ist eine dauerhafte, denn du machst nicht nur ein Kunstwerk!

Was würden Sie jungen Menschen raten, die Dokumentarfilm machen möchten?

Das Wichtigste bei meiner Dokumentararbeit war immer die Liebe. Denn einen Film wie »Chiracles« zu realisieren, bedeutet, sich gefährlichen Risiken auszusetzen, was man eigentlich für kein Geld der Welt tun würde, würde man seine Protagonisten nicht lieben. Man muß den Film und die Menschen im Übermaß lieben. Nicht den Film um des Films willen, sondern die Menschen – den Indigenen, den Schwarzen und das Kind, das Ziegel schleppen muß. Eine Liebe zu den Menschen allein um des Kontaktes willen muß es sein. Wenn eine Beziehung zu diesen Menschen entsteht, ist das eine unermeßliche und gegenseitige Bereicherung. Ich kann ihnen mein Wissen geben, sie mir ihre Freundschaft, ihre Erfahrung, und das alles ist unbezahlbar.

Interview: Martin Lejeune

* Aus: junge Welt, 10. Juli 2010


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