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Minga Interétnica (interethnische Gemeinschaftsaktion) zur Verteidigung des Territoriums in Bojayá

Offener Brief an den kolumbianischen Staatspräsidenten: "Ordnen Sie die sofortige Beendigung all dieser Rechtsverstöße an"

Die folgenden Informationen und den "Offenen Brief" an den Staatspräsident Álvaro Uribe Vélez von Kolumbien verdanken wir dem Dokumentarfilmer Volker Hoffmann (zuletzt: "Heimatlos im eigenen Land" - Inlandsflüchtlinge in Kolumbien, 2004). Dessen Internetauftritt: www.weltfilme.de



Seit September 2003 setzte am Mittleren Atrato eine systematische Eroberung der Territorien der Indianer und Afrokolumbianer durch Paramilitärs des Block Elmer Cárdenas ein, die vordergründig als Bekämpfung der Guerrilla der FARC ausgegeben wird, welche seit Jahren in diesem Gebiet präsent ist. Das eigentliche, auch ausdrücklich von ihnen erklärte Ziel ist es allerdings, das Land zu besetzen und den Regenwald abzuholzen, um den Weg für agroindustrielle Grossprojekte wie Ölpalmenplantagen und extensive Rinderzucht zu ebnen.

Mit Duldung und oft sogar mit aktiver Unterstützung der offiziellen Streitkräfte brachten die Paramilitärs im Jahr 2004 die Flüsse Opogadó und Napipí im Gemeindebezirk Bojayá unter ihre Kontrolle. Die Basisorganisationen OREWA der Indianer und ACIA der Afrokolumbianer und die Diözese Quibdó versuchten im April desselben Jahres, durch einen offenen Brief an den Staatspräsidenten auf diese jeglichen rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechende Situation aufmerksam zu machen. Doch der Brief fand kein Gehör.

Dieses Jahr erreichte der Eroberungszug der Paramilitärs den bevölkerungsreichsten Nebenfluss des Atrato, den Bojayá. Im Februar und März verliessen zweitausend Afrokolumbianer ihre Dörfer am unteren Bojayá und flohen nach Bellavista am Atrato, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Viertausend Indianer sind fest entschlossen, sich weiter in den Urwald zurückzuziehen, falls der Krieg bis in ihre Dörfer vordringt.

Damit hat die Entwicklung des Konflikts einen besonders kritischen Punkt erreicht. Denn wenn die Gemeinden des Bojayá die Kontrolle über ihr Territorium verlieren, dann steht die Zukunft der angestammten Territorien aller Gemeinden am Mittleren Atrato auf dem Spiel. Deshalb sahen sich die Basisorganisationen mit Unterstützung der Kirche einmal mehr vor der Aufgabe, durch eine Reihe von Aktionen nachdrücklich auf diese Problematik aufmerksam zu machen.

In der Woche vom 17. bis 24. April reiste eine achtköpfige Delegation nach Bogotá, um bei verschiedenen Ministerien und Aufsichtsbehörden des Staates, bei Parlamentariern, UNO-Büros, Universitäten und Menschenrechtsorganisationen die bedrohliche Lage der Gemeinden zur Sprache zu bringen.

Am 27. April veröffentlichten die Diözese Quibdó, ihre Nachbardiözesen Istmina-Tadó und Apartadó sowie die 47 im Interethnischen Solidaritätsforum Chocó zusammen-geschlossenen Basisorganisationen einen zweiten offenen Brief an Staatspräsident Uribe, der eine deutliche Verschlimmerung der im ersten Brief angezeigten Misstände feststellt und die Regierung auffordert, endlich konkrete Massnahmen zu ergreifen.

Für die Zeit vom 27. April bis zum 3. Mai luden die Organisationen der Indianer und Afrokolumbianer und die Diözese Quibdó zu einer Minga Interétnica im Gemeindebezirk Bojayá ein. In einer erstmalig in dieser Art durchgeführten Gemeinschaftsaktion sollten gleichzeitig möglichst alle Dörfer des Gemeindebezirks Bojayá von zahlreichen Delegierten der verschiedenen Menschenrechts- und Basisorganisationen besucht werden, die sich in den letzten Jahren mit dem gewaltfreien Überlebenskampf der Indianer und Afrokolumbianer am Atrato solidarisiert hatten.

Die Beteiligung an der Minga war sehr gut. Vom 28. bis 30. April fuhren neun Kommissionen mit insgesamt 138 Teilnehmern in alle Nebenflüsse des Gemeindebezirks Bojayá. Im anschliessenden Forum am 1. Mai berichteten sie über die katastrophalen Zustände, das Versagen des Staates, die Aggressionen der Guerilla und der Paramilitärs sowie über die Komplizenschaft des Militärs mit den letzteren. Auf der Grundlage dieser Berichte wurde eine gemeinsame Erklärung verfasst, die von 25 Organisationen und Institutionen unterzeichnet und am Tag darauf im Rahmen der Gedenkfeier zum dritten Jahrestag des Massakers von Bojayá in Gegenwart von Regierungsvertretern und hohen UNO-Delegierten verlesen wurde. In einem Theaterstück stellte eine Gruppe von Jugendlichen die herrschenden Misstände szenisch dar.

Diesmal war das Echo in den Medien überraschend gross. Die Fernsehnachrichten sendeten Reportagen und Interwievs, die Tageszeitungen von Bogotá und Medellín brachten ganzseitige Artikel mit Foto auf der Titelseite. Vertreter der Bischofskonferenz in Bogotá erklärten sich mit den Ortskirchen des Chocó solidarisch. Schon am 21. April erliess der Prokurador General de la Nación (Leiter der obersten Dienstaufsichtsbehörde) ein Dekret, welches anordnet, dass der Staatspräsident, die Minister für Inneres und Verteidigung und der Kommandant der Streitkräfte unverzüglich konkrete Massnahmen zu ergreifen haben, um die Sicherheit der Gemeinden am Atrato zu gewährleisten.

Präsident Uribe ordnete darauf hin eine Untersuchungskommission an, die allerdings nur aus Militärs besteht und bisher den Eindruck erweckt, vor allem den Wahrheitsgehalt der angezeigten Misstände in Frage zu stellen. Daher benötigen die Basisorganisationen und die Kirche im Chocó jetzt mehr denn je eine breite internationale Solidarität, damit die Wahrheit nicht vertuscht wird. Ein enorm wichtiger Beitrag dazu ist die gemeinsame öffentliche Verlautbarung der verschiedenen UNO-Büros in Bogotá vom 7. Mai, welche die Richtigkeit der Anzeigen bestätigt und den kolumbianischen Staat auffordert, seiner Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung in der Atratoregion nachzukommen.


Zweiter offener Brief an den Präsidenten der Republik zur Legitimitätskrise des Staates in der Atrato-Region


Sehr geehrter Herr Dr. Álvaro Uribe Vélez,

der Bischof der Diözese Quibdó, Fidel León Cadavid Marín, übergab Ihnen am 24. April 2004 persönlich einen OFFENEN BRIEF zur Legitimitätskrise des Staates in der Atrato- Region, der von der Diözese Quibdó, der Regionalen Vereinigung indianischer Völker (OREWA) sowie dem Hohen Gemeinderat der afrokolumbianischen Kleinbauerngemeinden (COCOMACIA) unterzeichnet war.

In dem genannten Schreiben wurde die tiefe Besorgnis über die Unsicherheit und Schutzlosigkeit zum Ausdruck gebracht, unter der die indianische und afrokolumbianische Bevölkerung der Bezirke Bojayá, Murindó, Vigía del Fuerte und Medio Atrato trotz des großen Aufgebots an staatlichen Sicherheitskräften zu leiden hat. Ihre Gemeinden sind zahlreichen Übergriffen der illegalen Guerillaeinheiten der FARC sowie der paramilitärischen AUC ausgesetzt. Ganz besonders wurde die offene Duldung, die Nachsicht und Komplizenschaft von Mitgliedern der staatlichen Sicherheitskräfte gegenüber dem Vorgehen der Paramilitärs hervorgehoben.

Darüber hinaus übergab Ihnen Bischof Fidel Cadavid einen Vorschlag zu einer Humanitären Vereinbarung, der in einem zweijährigen Prozess von 47 zivilgesellschaftlichen Organisationen des Departements im Rahmen des Interethnischen Solidaritätsforums Chocó (Foro Interétnico Solidaridad Chocó) als Beitrag zur Friedensentwicklung und Humanisierung des Konflikts erarbeitet worden war. Heute, ein Jahr später, müssen die Bistümer Quibdó, Istmina-Tadó und Apartadó sowie die 47 Organisationen des Interethnischen Solidaritätsforums Chocó mit tiefer Trauer feststellen, dass sich die Lage der Gemeinden nicht verbessert, sondern stark verschlechtert hat.
  • Polizei, Marine und Armee haben entlang des Atrato-Flusses so viele Kontrollstellen eingerichtet, dass es für Reisende überaus schwierig und bisweilen sogar unmöglich ist, ihr Ziel vor der Sperrstunde um achtzehn Uhr zu erreichen. Danach verbieten die staatlichen Sicherheitskräfte jeglichen Flussverkehr. Diese überzogenen Maßnahmen sind umso unverständlicher, wenn man bedenkt, dass die rigorosen Kontrollen lediglich der Zivilbevölkerung gelten, während sich die Paramilitärs weiterhin völlig frei bewegen können.
  • Über den Atrato und seine Zuflüsse Opogadó, Napipí und Bojayá dringt der paramilitärische Block Elmer Cárdenas mit einem großen Aufgebot an Truppen und Material vor und bewegt sich dabei durch zahlreiche Orte, die von den staatlichen Sicherheitskräften kontrolliert werden. Demgegenüber gelten an den Zuflüssen, an denen die Guerilla präsent ist, massive Beschränkungen für die indianische und afrokolumbianische Bevölkerung, so dass die Menschen einer Lebensmittelblockade unterworfen sind.
  • Im Februar/März dieses Jahres flüchteten sich zweitausend afrokolumbianische Bewohner des Bojayá-Beckens in die Bezirkshauptstadt Bellavista, um bei dem massiven Vordringen der Paramilitärs und der FARC-Präsenz am Río Bojayá nicht zwischen die Fronten zu geraten. Die Flussmündung des Bojayá liegt weniger als einen Kilometer von Bellavista entfernt gegenüber von Vigía del Fuerte. In beiden Dörfern sind Polizei und Armee ständig präsent.
  • In der Karwoche übernahmen die Paramilitärs die Kontrolle über den Unterlauf des Río Bojayá. Danach machten sich einige Mitglieder der Vertriebenengemeinden Corazón de Jesús, Caimanero, La Loma und Cuía auf den Weg zu ihren Höfen, um dort die nötigsten Nahrungsmittel zu holen. Als sie in ihre Dörfer kamen, fanden sie geplünderte Häuser vor, zertrümmerte Türen und Fenster, eingerissene Wände. Die Gemeinschaftstelefone waren beschädigt und ins Wasser geworfen, Rinder und Schweine des Agrarinstituts gestohlen worden.
  • An den von Paramilitärs seit dem letzten Jahr beherrschten Flussläufen des Opogadó und des Napipí werden die Holzressourcen bereits in großem Maßstab ausgebeutet, obwohl sich dieses Gebiet in Kollektivbesitz der Gemeinden befindet. Niemand kontrolliert den illegalen Handel mit diesem Holz.
  • Im März raubten die Paramilitärs in Bellavista Holz, das über den Río Bojayá transportiert wurde. Die staatlichen Sicherheitskräfte sahen tatenlos zu. Verantwortlich für diese Aktion war ein ehemaliger FARC-Milizionär mit dem Decknamen Chombo, der sich im November vergangenen Jahres der Armee in Bellavista gestellt hatte und nach Riosucio kam. Zwei Monate später kehrte er, mit neuem Decknamen zurück.
  • Am 20. März wurden am Río Bebará im Bezirk Medio Atrato 16 Kleinbauern von der Armee 30 Stunden lang willkürlich festgehalten, darunter auch drei Minderjährige. Sie waren am Morgen aufgebrochen, um Bananen zu schneiden und zu fischen. Die afrokolumbianischen Gemeinden am Río Bebará und ihre Familien in Quibdó wurden durch diesen Übergriff in Angst und Schrecken versetzt.
  • In Boca de Bebará, Bezirk Medio Atrato, stellte sich ein weiterer FARC-Milizionär mit Spitznamen Barbachita Anfang Februar der Armee. Mittlerweile läuft er in Bellavista frei herum und sorgt dort als Informant für Unruhe unter den Vertriebenen.
  • Im Dezember letzten Jahres zog sich die Armee aus der am Atrato gelegenen Gemeinde Napipí zurück und ließ zu, dass sich dort eine paramilitärische Gruppe festsetzte. In dem genannten Dorf wurde ein 75-jähriger Mann am 3. April von einem Paramilitär mit Spitznamen Escamoso körperlich angegriffen und musste ins Krankenhaus von Quibdó eingeliefert werden.
  • Den Paramilitärs, die den Río Bojayá kontrollieren, gelang es am 18. April aufgrund der Nachlässigkeit der staatlichen Sicherheitskräfte, den Motor der Gemeinde- Zuckerrohrmühle zu entwenden. Sie nutzten dabei die Abwesenheit der Bauern, die sich nach ihrer Zwangsvertreibung seit dem 14. Februar nach Bellavista geflüchtet hatten. Weitere Schäden, Viehdiebstähle und die Zerstörung von Gemeindeeigentum gehen ebenfalls auf das Konto dieser paramilitärischen Gruppe.
  • Schon seit vier Monaten gibt es keinen Vertreter der Ombudsstelle in Bojayá.
  • Im November 2004 wurde der Priester FRANCISCO JOSÉ MONTOYA aus dem Bistum Istmina-Tadó während seiner Missionstätigkeit in den bäuerlichen Gemeinden des Bezirks Nóvita von der FARC-Guerilla ermordet. Bisher war es nicht möglich, seine sterblichen Überreste zu bergen.
Die Hoffnung, dass unser OFFENER BRIEF den Anstoß für eine Initiative zur Beendigung einer derartigen Vielzahl von Rechtsverstößen geben könnte, hat sich bisher nicht erfüllt. Mit zunehmender Besorgnis fragen wir uns: Wen schützen die staatlichen Sicherheitskräfte eigentlich in der Atrato-Region, wen bekämpfen sie? Nach wie vor beobachten und erleben wir Tag für Tag am eigenen Leib diese für einen sozialen Rechtsstaat völlig unhaltbaren Entwicklungen. Aus diesem Grunde bekräftigen wir nachdrücklich unsere vor einem Jahr vorgebrachten Forderungen:
  1. Ordnen Sie die sofortige Beendigung all dieser Rechtsverstöße an, die wir im Lauf der letzten Jahre immer wieder angeprangert haben, und weisen Sie die staatlichen Sicherheitskräfte an, ihrem verfassungsmäßigen und gesetzliche Auftrag entsprechend zu handeln.
  2. Ordnen Sie rückhaltlose Ermittlungen gegen diejenigen Beamten an, die aufgrund ihrer Duldung, Nachsicht und Komplizenschaft gegenüber den Paramilitärs dafür verantwortlich sind, dass die Legitimität des Staates in der Atrato-Region untergraben wird.
  3. Weisen Sie die staatlichen Institutionen an, die entsprechenden Ermittlungen zu beschleunigen, damit der Tod des im November 2004 von der FARC-Guerilla im Bezirk Nóvita ermordeten Priesters FRANCISCO JAVIER MONTOYA nicht ungestraft bleibt.
Herr Präsident, wir, die indianischen, afrokolumbianischen und mestizischen Gemeinden, können keine weiteren Schikanen und Übergriffe mehr hinnehmen. Wir wollen auf unserem Territorium in Frieden leben, und diejenigen, die zur Flucht gezwungen wurden, wollen baldmöglichst zurückkehren. Deshalb fordern wir umgehend konkrete Maßnahmen, um die von unseren Vorfahren ererbten und uns vom Gesetzgeber zuerkannten Rechte, die verletzt werden, durch die Legislative wirksam zu schützen.

Mit freundlichen Grüßen
Diözese Quibdó
Diözese Apartadó
Diözese Istmina-Tadó
Interethnisches Solidaritätsforum Chocó

Quibdó, den 27. April 2005

(Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt)


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