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"Anfang radikaler Veränderungen"

FARC-Guerilla und Kolumbiens Regierung einigten sich in Havanna über die Beilegung des Landstreits

Von David Graaff, Bogotá *

Die kolumbianische Regierung und die FARC-Guerilla haben sich auf eine Reform der Agrarpolitik geeinigt. Wie die Verhandlungsdelegationen in Kubas Hauptstadt Havanna bekannt gaben, habe man nach mehrmonatigen Gesprächen weitgehende Einigkeit über diesen ersten Punkt der Verhandlungsagenda erzielt.

Es war die Nachricht des Tages in Lateinamerika. Fast 50 Jahre nach der Gründung der FARC als bäuerliche Guerilla in Kolumbien und 30 Jahre nach der letzten Einigung der FARC mit einer kolumbianischen Regierung sind sich, zumindest auf dem Papier, beide Seiten über ein historisches Streitthema einig. »Diese Vereinbarung wird der Anfang radikaler Veränderungen der ländlichen Realität in Kolumbien sein«, erklärten die beiden Verhandlungsparteien auf einer Pressekonferenz in Havanna, wo seit Januar Friedensverhandlungen stattfinden.

Die von ihnen präsentierten Ergebnisse sind das erste greifbare Resultat der Friedensgespräche nach sechs Monaten. Lange wurde um sie gerungen. Nun sollen mit gezielten Maßnahmen die ungleiche Landverteilung und die inadäquate Nutzung von Ländereien durch Großgrundbesitz mit friedlichen Mitteln bekämpft werden. Entsprechend zufrieden zeigten sich beide Seiten. Der Verhandlungsführer der Regierung, Humberto de la Calle, sagte, die vereinbarten Maßnahmen sollten dafür sorgen, dass im ländlichen Kolumbien ein Kreislauf aus Wohlstand und Stabilität entstehe. Auch sein FARC-Pendant, Luciano Marín alias Iván Márquez, hob die Bedeutung der Vereinbarung hervor, betonte allerdings, dass in »punktuellen Ausnahmen« noch Uneinigkeit bestünde, die »notwendigerweise noch vor Ende der Verhandlungen aufgegriffen werden müssen«. Wie ein Regierungsfunktionär der Nachrichtenagentur AP sagte, ist es vor allem die Forderung der Guerilla nach einer Begrenzung des Landbesitzes nicht-kolumbianischer Personen und Unternehmen, über die noch kein Einvernehmen erzielt wurde.

Durchsetzen konnte sich die Guerilla dafür in anderen wichtigen Punkten. Mittels eines von ihr vorgeschlagenen Landfonds soll im Falle eines erfolgreichen Abschlusses der Friedensgespräche Brachland und illegal genutztes Land an mittellose Kleinbauern verteilt werden.

Zugleich soll die bäuerliche Bevölkerung bessergestellt werden. Diese soll optimierten Zugang zum staatlichen Erziehungs- und Gesundheitssystem, einen Personalausweis sowie einen Besitztitel für ihre Ländereien erhalten. »Mit diesen Formalisierungen auf allen Ebenen wird eine historische Schuld mit den Bauern beglichen«, sagte der FARC-Vertreter Ricardo Tellez dem Nachrichtenportal La Silla Vacía.

Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos zeigte sich erfreut über die Einigung in Havanna und sprach von einem »fundamentalen Schritt«, der nach einem halben Jahrhundert das Ende des Konfliktes bedeuten könnte. Die Einigung über einen der kompliziertesten Punkte der Verhandlungsagenda kommt Santos gelegen. Erstmals seit sich seine Regierung mit FARC an den Verhandlungstisch gesetzt hat, kann er nun Fortschritte präsentieren.

Die getroffenen Vereinbarungen treten indes nur in Kraft, wenn auch Einigkeit in den anderen Punkten der Verhandlungsagenda erzielt wird, darunter der Drogenhandel. Ob in der Praxis tatsächlich von einer Agrarreform oder vielmehr von einem breiten Maßnahmenkatalog gesprochen werden kann, muss die Regierung dann bei der Umsetzung realisieren. Skepsis scheint angesichts des historischen Unwillens der regionalen Großgrundbesitzerelite, Reformen zu akzeptieren, mehr als angebracht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Mai 2013


Viel oder wenig?

Kolumbien: Durchbruch bei den Friedensverhandlungen in Havanna. Guerilla und Regierung vereinbaren Landreform. Details ausgeklammert

Von André Scheer **


Bei den seit sechs Monaten laufenden Friedensverhandlungen zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der Regierung von Staatschef Juan Manuel Santos ist es am Sonntag in Havanna offenbar zu einem Durchbruch gekommen. Wie die Delegationen beider Seiten in einem gemeinsamen Kommuniqué mitteilten, hat man sich auf ein erstes Abkommen für eine umfassende Landreform geeinigt. Diese Frage galt im Vorfeld als die entscheidende, denn die ungerechte Verteilung von Grund und Boden in Kolumbien und die Armut der Landbevölkerung gelten als Hauptursache für das Entstehen der FARC-Guerilla Mitte der 60er Jahre.

Die Delegationen versprechen nicht weniger als den »Beginn radikaler Veränderungen der ländlichen und landwirtschaftlichen Realität Kolumbiens zu Gleichheit und Demokratie«. So sollen die Armut bekämpft und die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sichergestellt werden. Zudem soll es Ländereien für landlose Bauern geben, die durch den Krieg aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen sollen zurückkehren können. Konkreter wird das gemeinsame Kommuniqué jedoch kaum. Details darüber, wie die Umsetzung vonstatten gehen soll, werden fast keine mitgeteilt. Als erster Schritt wird lediglich angekündigt, daß die Regierung »unter Berücksichtigung der verfassungsmäßigen und gesetzlichen Bestimmungen« Schritt für Schritt die Besitzverhältnisse der bäuerlich genutzten Gebiete klären will.

Auffällig ist zudem, daß das Wort »Großgrundbesitz« im gemeinsamen Kommuniqué von FARC und Regierung nicht vorkommt. Dabei wird eine Besserung der Lage für die landlosen Bauern kaum möglich sein, ohne die Interessen der Latifundistas zu verletzen. So stellte das UN-Entwicklungsprogramm UNDP in seinem Jahresbericht 2011 fest, daß Kolumbien »eines der Länder in Lateinamerika und weltweit mit der größten Ungleichheit im Landeigentum« ist. Neben historischen und anderen »traditionellen« Gründen werden im Bericht die Logik der Gebietskontrolle durch die bewaffneten Kräfte sowie die Ausbreitung der Drogenkartelle, die immer größere Territorien unter ihre Kontrolle bringen, als Ursachen für diese Zuspitzung genannt.

Bereits im Januar zeigte sich Marisol Gómez Giraldo, Herausgeberin der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo, in ihrem Blatt unsicher, ob die damals bekanntgewordenen Fortschritte bei den Gesprächen in Havanna nun »viel« oder »wenig« seien, und schrieb: »Viel, wenn man berücksichtigt, daß die FARC einen historischen Sprung vollzogen haben und sich als offener Gesprächspartner zeigen, wenn nicht mehr von der Beseitigung jeden sondern nur noch des unproduktiven Großgrundbesitzes und nicht mehr von einem Verbot, sondern nur noch von einer Beschränkung ausländischen Besitzes gesprochen wird. Wenig, wenn man bedenkt, daß noch große Differenzen mit der Regierung darüber bestehen, wie die Probleme des Zugangs und der Nutzung der Ländereien zu lösen sind.«

Bei einer eigenen Pressekonferenz wiesen die Vertreter der Guerilla am Sonntag in Havanna darauf hin, daß ihre Seite in der nun erreichten Vereinbarung einige Vorbehalte zu Protokoll gegeben habe, »die notwendigerweise vor der Konkretisierung eines endgültigen Abkommens noch einmal aufgenommen werden müssen«. Trotzdem sei man in der kubanischen Hauptstadt dabei, dem Volk eine Möglichkeit zum Handeln und zur Verteidigung seiner Rechte zu eröffnen. »Aber es beunruhigt, daß, während die Mehrheit Versöhnung fordert und ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit Ausdruck verleiht, das Land weiter die Unbarmherzigkeit ökonomischer Politik und Maßnahmen erleiden muß, die unser Territorium den transnationalen Konzernen zum Fraß vorwerfen und die Ungleichheit vertiefen, sowie weiter Landsleute beider Seiten in einem seit einem halben Jahrhundert andauernden Krieg fallen, der dringend einen politischen Ausweg braucht.« Einen Waffenstillstand, wie ihn die FARC bereits zu Beginn der Gespräche gefordert hatten, lehnt die Regierung jedoch weiter ab.

Trotz aller Vorbehalte wurde die Nachricht von dem ersten Abkommen in Bogotá und anderen Hauptstädten Lateinamerikas erfreut aufgenommen. Jaime Caicedo Turriago, Generalsekretär der Kolumbianischen KP, wertete den Durchbruch als Beweis dafür, daß eine politische Lösung des Konflikts tatsächlich möglich sei. Das Linksbündnis Marcha Patriótica erinnerte daran, daß die Verhandlungen zuletzt durch ein Ultimatum von Kolumbiens Innenminister Fernando Carrillo sowie durch die Abschaltung des Internetblogs der FARC-Delegation erschwert worden seien. Zudem belege die Tatsache, daß die beiden nationalen Fernsehkanäle RCN und Caracol die Pressekonferenz der FARC in Havanna nicht übertragen haben, daß auch eine Demokratisierung der Medien notwendig sei.

In Caracas feierte die venezolanische Regierung das Abkommen in einem Kommuniqué des Außenministeriums als »großen Fortschritt« für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon würdigte in New York ebenfalls den »wichtigen Erfolg« bei den Verhandlungen in Havanna.

** Aus: junge welt, Dienstag, 28. Mai 2013

»Umfassende Landreform«

Dokumentiert:

»Gemeinsames Kommuniqué Nr. 16« von FARC und Regierung Kolumbiens

Die Delegierten der Regierung und der FARC-EP informieren:

Wir haben ein Abkommen über den ersten Punkt der Agenda für ein »Allgemeines Abkommen zur Beendigung des Konflikts und zum Aufbau eines stabilen und dauerhaften Friedens« erreicht. Wir haben vereinbart, dieses unter den Titel »Zu einem neuen ländlichen Kolumbien: Umfassende Landreform« zu stellen. (…) Was wir in diesem Abkommen vereinbart haben, wird der Beginn radikaler Veränderungen der ländlichen und landwirtschaftlichen Realität Kolumbiens zu Gleichheit und Demokratie sein. Es konzentriert sich auf die Menschen, die Kleinproduzenten, den Zugang zu und die Verteilung von Ländereien, den Kampf gegen die Armut, die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion und die Reaktivierung der landwirtschaftlichen Ökonomie.

Es zielt darauf, daß die größtmögliche Zahl von Landbewohnern, die über kein oder zu wenig eigenes Land verfügen, durch die Schaffung eines »Bodenfonds für den Frieden« Zugang zu solchem erhalten.

Die Nationale Regierung wird fortschreitend unter Berücksichtigung der verfassungsmäßigen und gesetzlichen Bestimmungen alle Gebiete, die Bauern in Kolumbien besitzen oder besetzt halten, förmlich regeln. Es werden Mechanismen zur Lösung von Nutzungskonflikten sowie eine Agrargerichtsbarkeit zum Schutz der Eigentumsrechte bei Vorrang des Gemeinwohls geschaffen. Dies wird begleitet durch Pläne in den Bereichen Wohnraum, Trinkwasserversorgung, technische Assistenz, Ausbildung, Bildung, Anpassung der Ländereien, Infrastruktur und Regeneration der Böden.

Das Abkommen zielt darauf, daß die Auswirkungen des Konflikts umgekehrt werden und die Opfer von Flucht und Vertreibung ihre Rechte wiedererhalten. Es beinhaltet die (…) Aktualisierung des jeweiligen Katasters mit dem Ziel, Rechtssicherheit sowie bessere und effizientere Informationen zu erlangen.

Im Hinblick auf die künftigen Generationen von Kolumbianern begrenzt das Abkommen die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzfläche, um die Gebiete von besonderem ökologischem Interesse zu schützen. Das Ziel ist eine Landwirtschaft mit sozialem Schutz sowie die Ausrottung des Hungers durch ein System der Lebensmittelversorgung und Ernährungssicherheit.

Das bislang Vereinbarte ist Teil eines umfassenderen Abkommens, das wir in den kommenden Monaten zu erreichen hoffen und das sechs Punkte beinhaltet. Mit Beginn des nächsten Gesprächszyklusses, am 11. Juni, werden wir die Diskussion um den zweiten Punkt der im »Allgemeinen Abkommen« von Havanna enthaltenen Agenda beginnen, der unter der Überschrift Politische Partizipation steht.

Eines der Prinzipien, die diese Gespräche leiten, ist, daß »nichts vereinbart ist, bis alles vereinbart ist«. Das bedeutet, daß die Vereinbarung, die wir erarbeitet haben, davon abhängig sind, daß wir zu einem Abkommen über die Gesamtheit der Agenda gelangen und daß zudem die Abkommen in jedem einzelnen Unterpunkt entsprechend der Diskussionsfortschritte angepaßt oder ergänzt werden können. (…)

In besonderer Weise möchten wir den Garantieländern dieses Prozesses, Kuba und Norwegen, für ihre ständige Unterstützung und für das gebotene Klima des Vertrauens danken. Die Anwesenheit ihrer Vertreter am Verhandlungstisch ist ein fundamentaler Faktor für die Entwicklung. Ebenso danken wir den begleitenden Ländern Chile und Venezuela, die von den Delegationen regelmäßig über den Fortgang der Gespräche informiert werden. (…)

[Übersetzung: André Scheer]

(junge Welt, Dienstag, 28. Mai 2013)




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