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Straßenblockaden an der Panamericana

Kolumbiens Indigene bestehen auf ihrem Recht auf Leben, Territorium, Autonomie und Souveränität

Von David Graaff, Bogotá *

In Kolumbien protestieren mehr als 100000 Indigene gegen die Politik der Regierung. Amnesty International kritisiert unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch Polizei und Streitkräfte.

Das indigene Territorium Honduras in der Provinz Cauca südlich der Millionenstadt Cali ist nur schwer zu erreichen. Inmitten der westlichen Andenkordillere leben hier rund 7000 Nasa-Indigene auf dem Gebiet ihrer Vorfahren. Mindestens eine Tagesreise müssen sie zu Fuß oder auf den Rücken von Mauleseln zurücklegen, wenn sie ihre Ernte in das nächstgelegene Dorf transportieren wollen.

Der Staat ist hier kaum präsent, auch weil die kolumbianische Verfassung den Indigenen das Recht auf autonome Selbstverwaltung zugesteht. Eine »Guardia Indígena« ersetzt Polizei und Justiz, um Schulbildung und Gesundheitsversorgung kümmern sich die Indigenen selbst. Doch existieren diese Rechte oft nur auf dem Papier. Der Alltag in den mehr als 700 indigenen Territorien Kolumbiens sieht anders aus.

»Obwohl es die Verfassung verbietet, dringen die FARC-Guerilla oder das Militär in unser Territorium ein«, klagt Rolando Tálaga, Gouverneur der indigenen Gemeinde Honduras, deren Bewohner regelmäßig vor Kämpfen flüchten müssen.

Viele indigene Territorien sind weit abgelegen, sie dienen der Guerilla als Rückzugsgebiete und den Akteuren des Drogenhandels als Anbaufläche für Kokasträucher. Mancherorts lagern Naturschätze, für deren Ausbeutung sich internationale Bergbauunternehmen interessieren. Schon 2009 bezeichnete die UNO die Situation der Indigenen Kolumbiens als »ernst, kritisch und zutiefst besorgniserregend«. Seit Jahren kommt es deshalb immer wieder zu Protesten der indigenen Bevölkerung. Bisher ohne nachhaltigen Erfolg.

Seit Mitte vergangener Woche protestierten abermals mehr als 100 000 Indigene und blockierten wichtige Überlandstraßen, darunter die Panamericana. Man wolle auf die ernste Situation der indigenen Völker aufmerksam machen und das »Recht auf Leben, Territorium, Autonomie und Souveränität« reklamieren, sagte Luis Fernando Arias, Vorsitzender des Nationalen Verbandes der Indigenen Kolumbiens ONIC.

Arias kritisierte zugleich die exzessive Gewaltanwendung durch Polizei und Militär. Nach ONIC-Angaben wurden bei den Protesten bisher mehr als 120 Indigene teils schwer verletzt. Allein bei einer Räumungsaktion der Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei ESMAD nahe Cali wurden nach Agenturangaben mindestens 19 Personen schwer verletzt. Dabei soll auch scharfe Munition eingesetzt worden sein. Marcelo Pollack, Kolumbien-Beauftragter bei Amnesty International, rief die Behörden am Montag zur Beendigung des Gewalteinsatzes gegen die Demonstranten auf. »Die meisten von Amnesty International gesammelten Beweise deuten auf ein zutiefst besorgniserregende und weitgehend unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch Polizei und Streitkräfte hin«, sagte Pollack.

Seit dem Wochenende verhandeln Vertreter der Regierung mit der ONIC über deren Forderungskatalog. Die Indigenen verlangen unter anderem einen Stopp der Vergabe von Bergbaukonzessionen in ihren Territorien und ein Umdenken in der Wirtschafts- und Agrarpolitik. Und sie fordern eine bessere Finanzierung ihrer Selbstverwaltungsstrukturen.

Überraschend zügig kam die Regierung der Forderung der Indigenen nach, die existierenden indigenen Territorien zu erweitern und 300 neue zu genehmigen. Ein Grund für das Entgegenkommen könnte das unglückliche Agieren der Regierung während des nationalen Agrarstreiks im August sein. Präsident Juan Manuel Santos hatte die Massenproteste, die sich unter anderem gegen seine liberale Wirtschaftspolitik richteten, zunächst ignoriert und als »inexistent« bezeichnet. Seine Popularität war daraufhin stark gesunken.

Die indigenen Aktivisten haben unterdessen die Blockade der Panamericana aufgehoben, die Mobilisierung werde allerdings aufrechterhalten, bis eine Einigung in allen Punkten erreicht ist, betonte ONIC-Chef Arias.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Oktober 2013


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