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Krieg nach innen

Die Gewalt in Kolumbien ist kein neues Phänomen. Sie ist historisch gewachsen, geht von der Oligarchie aus und wird durch die USA befördert

Von Juan Leonel und Luís Pedro Lizcano *

Der 9. April 1948 sollte Kolumbien für immer verändern. Am frühen Morgen jenes Freitag wurde Jorge Eliécer Gaitán auf offener Straße erschossen. Gaitán war der aussichtsreichste Kandidat bei der kurz bevorstehenden Präsidentschaftswahl, ein Hoffnungsträger vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten. Sein Sieg stand fest – und das besiegelte sein Todesurteil. In Übereinkunft zwischen der kolumbianischen Oligarchie und der CIA wurde der gedungene Mörder engagiert. Als sich die Nachricht vom Tod Gaitáns verbreitete, brach der »Bogotazo« aus, ein politischer und sozialer Aufstand, der große Teile der Hauptstadt verwüstete. Der Gegenschlag der Herrschenden war grausam. Bis 1958 forderte der Krieg der Oligarchie nach innen bis zu 300000 Tote. Auch die Kommunistische Partei wurde verboten.

Am 9. April 1948 wurde in Kolumbien ein Staatsterrorismus geboren, der binnen zehn Jahren jede Opposition ermordete oder in den Untergrund trieb. Dieser Staatsterrorismus gab sich über die Jahre hinweg unterschiedliche Namen. In den achziger Jahren taufte er sich »Doktrin der Nationalen Sicherheit«. Heute nennt ihn der aktuelle Staatschef Alvaro Uribe »Demokratische Sicherheit«.

Schnell erreichte die Gewaltherrschaft auch die ländlichen Regionen. Unter der Regierung von León Valencia wurden 1964 vier Regionen –Marquetalia, Río Chiquito, Pato und Guayabero – im Süden des Landes bombardiert, um Bauern den Garaus zu machen, die sich gegen die soziale Ungerechtigkeit auflehnten. Nach den Luftangriffen fielen 16000 Soldaten ein, um Tausende zu vertreiben. Die Armee folgte damit dem Plan »Laso«, der in den USA gegen die »kommunistische Gefahr« entworfen worden war. Damit nicht genug: Im Senat beschuldigten Vertreter der reaktionärsten Kräfte die Regionen, »unabhängige Republiken« geworden zu sein, die man »auslöschen« müßte.

Die Bauern setzten zunächst alles daran, einen militärischen Konflikt zu vermeiden: Schon Monate zuvor hatten Gesandte aus den vier betroffenen Regionen mit der Regierung Kontakt aufgenommen. Sie baten darum, eine Eskalation zu vermeiden und die Gemeinden im Süden statt dessen mit nötigen Entwicklungsgeldern zu unterstützen. Die Unnachgiebigkeit des Staates ist einer der Gründe, wegen derer es zum bewaffneten Aufstand der Bauern kam. Im gleichen Jahr noch entstanden die »Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens« (FARC).

Mit der Gründung der Rebellenbewegung wurde auch den Forderungen nach einer agrarpolitischen Reform Nachdruck verliehen. Damals lebten 70 Prozent der Kolumbianer auf dem Land. Der Kampf um Grund und Boden war eines der wichtigsten Anliegen der Kleinbauern und deswegen auch das am stärksten verfolgte Ziel der FARC-Guerilla. Die politisch-militärische Rebellion in Kolumbien wird nur sehr selten unter diesem Gesichtpunkt betrachtet: Als Ausdruck des Rechtes des kolumbianischen Volkes, gegen einen Staat Widerstand zu leisten, der seinem Verfassungsauftrag nicht gerecht wird. Statt das Leben seiner Bürger zu garantieren, ist er zu ihrem Henker geworden.

Zu Beginn der 80er Jahre wurde in den Medien auf einmal verbreitet, die Guerilla hätte ihren politischen Kampf aufgegeben und widme sich nur noch dem Drogenhandel. Der US-Botschafter in Kolumbien, Lewis Tambs (1983–1985), der wenige Jahre später an der Seite von US-General Oliver North in der Iran-Contra-Affäre selbst als Drogenhändler entlarvt wurde, setzte den Begriff der »Narcoguerilla« in die Welt. Heutzutage ist »Terrorist« das Modewort, um Aufständische zu diffamieren.

Auch die in diesen Tagen viel debattierten politischen und militärischen Gefangenen der Guerilla sind eine Folge des Konflikts. Die FARC hat in den vergangenen Jahren alles in ihrer Macht stehende getan, um einen Austausch der Gefangenen zu erreichen. Der Wille auf Regierungsebene aber fehlte. Schon 1998 war eine Initiative für einen Gefangenenaustausch diskutiert worden. In Gefangenschaft geratene Soldaten sollten von der Guerilla an unabhängige Dritte – das Rote Kreuz, die Kirche oder andere Institutionen – übergeben werden. Ebenso sollte mit inhaftierten Guerilleros verfahren werden. Dieser Vorschlag wurde von den Regierungen von Ernesto Samper (1994–1998), Andrés Pastrana (1998–2002) und Álvaro Uribe (ab 2002) verworfen.

Sechzig Jahre nach Beginn des Konfliktes ist klar, daß die FARC weiter für ein humanitäres Abkommen kämpfen werden. Daß die Beteiligung der internationalen Gemeinschaft dabei ausschlaggebend ist, hat der venezolanische Präsident Hugo Chávez in den vergangenen Wochen und Monaten bewiesen. Dank seiner Hilfe und dank der Initiative der kolumbianischen Senatorin Piedad Córdoba konnten erstmals Gefangene der Guerilla freigelassen werden. In solchen Initiativen und nicht im Krieg der Uribe-Regierung liegt der Beginn der Lösung der kolumbianischen Krise.

* Juan Leonel und Luís Pedro Lizcano sind kolumbianische Journalisten. Ihr Artikel erschien zuerst auf der Internetseite Rebelion.org

Aus: junge Welt, 7. April 2008

"Das Volk ist der Regierung überlegen"

Am 18. Oktober 1946 sprach Gaitán während eines Besuches in Caracas spontan zu den Menschen

Männer und Frauen Venezuelas: Angesichts der Menge dunkelhäutiger Gesichter auf diesem Platz fühle ich mich tief berührt. Es ist ein Gefühl, das im Widerspruch zu der Beklemmung steht, die mich erfaßt hatte, als ich noch als Student den Schmerz und die Tragödie miterlebte, von denen ihr Erben Bolivars betroffen wart. Gestern wußte ich von den leidenden Massen Venezuelas, von euren Großeltern, Eltern und Brüdern, die in den Kerkern schmachteten, Kerkern, die die Schande Amerikas verkörperten. Ich wußte von einer verschwindend kleinen Oligarchie, von der die Entwicklung dieses Landes verhindert wurde und die ihre Macht auf dem dem Rücken den Volkes ausübte, gegen das Volk und ohne Demut gegenüber dem Volk.

Ich aber, ein Anführer der Massen Kolumbiens, sehe euch voll Tatendrang und vielzählig. Ich sehe Männer und Frauen, Junge und Alte, die auf diesen Platz strömen. Und von dieser Bühne aus sage ich euch Venezolanern daß von dieser Stunde an die Stimme des Volkes in diesem heiligen Land befiehlt. Die Stimme des Volkes; durch das Volks und für das Volk.

Ihr befindet euch in der ersten Etappe eures unerbitterlichen Feldzuges. Gerade erst habt ihr eure politische Freiheit wiedererlangt.1 Sie wird aber noch nicht einmal formellen Wert haben, wenn ihr nun nicht auch die wirtschaftlichen und sozialen Freiheiten erkämpft. Aber schon diese erste Etappe müßt ihr verteidigen, verändern und standhaft zu Ende bringen, mit Beharrlichkeit und Mut, ohne Zögern und Nachlaß. Zum Glück stehen an eurer Spitze Anführer und Bannerträger die, und da bin ich sicher, niemals euer Interesse und Verlangen verraten werden.

Ihr tut gut daran, das Erreichte mutig zu verteidigen. Ihr habt gerade die formelle politische Freiheit erobert, die wir Kolumbianer schon unser Eigen nennen konnten. (...) Es wird nun dieses Volk sein, das sich, wie auch die übrigen Völker Lateinamerikas, unseres dunkelhäutigen Amerikas, eine eigene Regierung geben wird.

Wir haben gelernt, über diese dekadenten Generationen zu lachen, von denen die Volksmassen unserer Tropen als unterlegen betrachtet werden. Dabei leiden sie selbst an dieser Minderwertigkeit, weil sie (...) sich an der Kultur Europas orientieren wie der Sklave am Sklavenhalter. Nichts ist wahr an der These der Minderwertigkeit unserer Völker und unserer Länder! (...)

Sollen die Europäer doch kommen, um das Drama der Massen zu erleben, die vom Sumpffieber verschlungen werden. Hier können sie Menschen sehen, die unter der Herrschaft von Regierungen stehen, die ihnen den Rücken zugekehrt haben, um sich selbst zu bereichern. Sollen sie kommen, um die stetigen Unwetter zu erleben, die in den Tropen herrschen. Dann werden sie verstehen, wie tapfer ihr seid und wie falsch die Annahme einer Unterlegenheit der amerikanischen Völker ist. Denn hier geschieht das Gleiche wie in Peru und den anderen Nationen unseres Amerikas – und auch in Kolumbien: Hier ist das Volk der Regierung überlegen! (...)

Volk: Weicht keinen Schritt zurück in eurem wunderbaren Werk. Denn eure Herzen schlagen im gleichen Rythmus wie die aller Menschen Amerikas. Der Mensch wird am Ende an seiner Beharrlichkeit gemessen. Nichts kann dieses Volk aufhalten, noch zum Schwanken bringen, wenn auch nur ein Mann in Venezuela bleibt von all jenen, die frei sein wollen. Dann soll dieser Mann in den Kampf ziehen. Denn die einsame Fahne auf einem reinen Gipfel ist mehr wert als hundert wehende Fahnen auf einem Haufen Dreck.

[1] In der Rede bezieht sich Gaitán auf den Sturz des Militärpräsidenten Isaías Medina Angarita durch eine »Revolutionäre Regierungsjunta« ein Jahr zuvor. Die neue Führung hatte eine Reihe Grundrechte eingeführt.

* Aus: junge Welt, 7. April 2008




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