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Auf dem Marsch

Kolumbiens Linke will mit neuer Organisation die "zweite Unabhängigkeit" ihres Landes erreichen. 80000 bei Großdemonstration in der Hauptstadt

Von Sven Köhler, Bogotá *

Unzufrieden mit der Situation ihres Landes haben zahlreiche Organisationen in den vergangenen Jahren in allen Teilen Kolumbiens große Demonstrationen durchgeführt. Der gemeinsame Name dieser Aktionen: Marcha Patriótica, der Patriotische Marsch. Am vergangenen Wochenende konstituierte sich diese Bewegung bei einem Kongreß in Bogotá als neue feste Organisation. Dieser geht es um nicht weniger als eine neue Weichenstellung für das südamerikanische Land, die zweite, echte Unabhängigkeit. Gemeint ist mit dieser Losung einerseits die Souveränität gegenüber dem vor allem nordamerikanischen Imperialismus. Andererseits geht es auch um die Unabhängigkeit der breiten Massen Kolumbiens von der eigenen Oligarchie. Auf dem Kongreß wiesen einige Redner ausdrücklich darauf hin, daß in diesem Ziel letztlich die Forderung nach Sozialismus angelegt ist. Der allgegenwärtige Begriff des Patriotismus wurde hier nicht reaktionär verstanden: Eröffnet wurde der Kongreß mit der »Internationalen«.

Mehr als 4000 Teilnehmer repräsentierten etwa 1400 Vereinigungen – Bauern, Gewerkschaften, Frauen, lokale Kulturvereine, afrokolumbianische Aktive, Parteien und viele mehr. Sie alle kamen auf der Grundlage einer in Basisgruppen und Regionalkomitees zuvor diskutierten gemeinsamen Plattform zusammen. Zuvorderst steht dabei eine politische Lösung des sozialen und bewaffneten Konflikts, der Kolumbien seit Jahrzehnten erschüttert. Dazu gehört eine vollständige Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer von Gewalt durch die Staatsmacht und der Paramilitärs. Gefordert werden eine Demokratisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, die Humanisierung der Arbeitswelt sowie eine gerechtere Verteilung und Verwaltung von Grund und Boden. Die Einheit Lateinamerikas soll gefördert werden, der Internationalismus dafür die Grundlage bilden.

Mit ihrer Gründung als dauerhaft angelegte Organisation hat sich die Bewegung ein Arbeitsgremium geschaffen, den Patriotischen Nationalrat. Aus allen Departamentos wurden in diesen je zwei Angehörige gewählt, die ein breites Spektrum gesellschaftlicher Gruppierungen repräsentieren. Als bekannteste Persönlichkeiten gehören dem Rat unter anderem die prominente frühere liberale Senatorin Piedad Córdoba, der Generalsekretär der Kolumbianischen Kommunistischen Partei, Jaime Caycedo, und Gloria Inés Ramírez, eine Parlamentsabgeordnete des Alternativen Demokratischen Pols, an.

Abschluß und Höhepunkt des dreitägigen Treffens bildete am Montag die Großdemonstration durch Bogotá. In einem Land, das bis in die jüngere Vergangenheit durch Tausende staatlich und halbstaatlich veranlaßte Morde an fortschrittlichen Kräften aufgefallen war, war deren Durchführung eine durchaus komplizierte Angelegenheit. Schon im Vorfeld wurden die Busse von Anreisenden durchsucht, die Passagiere fotografiert und registriert. Auch die ausländischen Delegierten wurden teilweise behelligt. So nahm die Polizei von Personen, die sich in der Nähe der Unterkünfte der ausländischen Gäste aufhielten, deren Personalien auf. Deshalb legten die Veranstalter den internationalen Beobachtern nahe, wegen der angespannten Situation auf die Teilnahme an der Abschlußdemonstration zu verzichten. Die mehr als 80000 Demonstranten aus dem ganzen Land ließen sich jedoch von den Repressalien nicht beeindrucken. Sie blieben besonnen und boten der berittenen Polizei und den vielen in den Seitenstraßen lauernden Wasserwerfern keinen Vorwand zum Eingreifen. Im Sternmarsch zogen sie in drei Zügen zur überfüllten Plaza Bolívar im Herzen Bogotás.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 25. April 2012

Hintergrund: Unión Patriótica

Der Patriotische Marsch und der Patriotische Nationalrat sind nicht der erste Versuch in Kolumbien, eine breite legale Linkspartei zu schaffen. 1985 wurde als Ergebnis eines Friedensprozesses zwischen der damaligen Regierung von Präsident Belisario Betancur und den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) die Unión Patriótica (Patriotische Union, UP) gegründet. Diese sollte den Weg zu einer legalen politischen Beteiligung der kolumbianischen Linken öffnen. Bei den Präsidentschaftswahlen 1986 konnte sie mit ihrem Kandidaten Jaime Pardo Leal 4,6 Prozent der Stimmen erlangen und wurde damit drittstärkste politische Kraft.

Als Reaktion darauf entfesselten die Sicherheitskräfte des Staates, paramilitärische Gruppen und Drogenbanden einen Krieg gegen die neue Partei. Tausende Mitglieder, zwei Präsidentschaftskandidaten, unter ihnen Jaime Pardo Leal, 21 Abgeordnete, 70 Stadträte und elf Bürgermeister fielen dem Terror zum Opfer. Die UP wurde physisch nahezu ausgerottet, auch wenn sie formell bis heute existiert. In der Folge scheiterte der gesamte Friedensprozeß, so daß die FARC zum bewaffneten Kampf zurückkehrten.

Die damaligen Erfahrungen sind den heutigen Unterstützern des Patriotischen Marsches durchaus bewußt, auch wenn sie Vergleiche zurückweisen. Die UP sei aus Verhandlungen zwischen der Guerilla und der Regierung entstanden, während der jüngste Zusammenschluß das Ergebnis der Anstrengungen zahlreicher Basisorganisationen sei. »Die FARC sind nicht unser politischer Chef«, unterstrich Andrés Gil, einer der Sprecher des Patriotischen Marsches, gegenüber Journalisten. Es könne zwar sein, daß frühere Mitglieder der UP, die den schmutzigen Krieg überlebt haben, heute im Marsch aktiv seien, »aber er ist nicht die UP«. (scha)

(jW, 25.04.2012)




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