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Hoffnung nach Jahren

Kolumbien wartet auf die Freilassung von Pablo Emilio Moncayo durch die Guerilla

Von André Scheer *

Seit zwölf Jahren befindet sich der mittlerweile 31 Jahre alte Pablo Emilio Moncayo in der Gewalt der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), der ältesten und größten Guerillaorganisation des südamerikanischen Landes. 1997 war der Unteroffizier einer Kommunikationseinheit der kolumbianischen Armee bei Gefechten der Guerilla in die Hände gefallen. Keine andere Geisel der Rebellen befindet sich länger in Gefangenschaft.

Am längsten gefangen

Nun aber könnte Moncayos Rückkehr nach Hause bevorstehen. Bereits im April hatten die FARC in einem Kommuniqué angekündigt, den Soldaten zusammen mit einem weiteren Gefangenen freilassen zu wollen, ohne dafür auf eine Gegenleistung der Regierung in Bogotá zu bestehen. Sie forderten lediglich, daß die liberale Senatorin Piedad Córdoba als Vertreterin der Gruppe »Kolumbianerinnen und Kolumbianer für den Frieden« bei der Übergabe der Gefangenen anwesend sein müsse. Außerdem solle die Regierung die für eine ungefährdete Freilassung »notwendigen Garantien« abgeben. Damit ist vor allem ein zeitweiliger Verzicht auf Militäroperationen in dem für die Übergabe vorgesehenen Gebiet gemeint, denn immer wieder geraten auch Geiseln der Guerilla in Lebensgefahr, wenn sie bei Angriffen des Militärs auf Kolonnen der FARC zwischen die Fronten geraten. So kamen 2007 elf von der Guerilla entführte Abgeordnete bei einem Angriff der Regierungstruppen auf ein Rebellencamp ums Leben.

In einer der Regierung übergebenen Liste haben die FARC 23 gefangene Soldaten und Polizisten aufgelistet, die sie gegen rund 500 in kolumbianischen Gefängnissen inhaftierte Guerilleros austauschen wollen. Die ohnehin nie große Bereitschaft der Regierung in Bogotá zu einem solchen humanitären Gefangenenaustausch ist jedoch deutlich zurückgegangen, seit es ihr im vergangenen Jahr bei einer großangelegten Operation gelungen war, mit der früheren Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt die bekannteste Gefangene der Guerilla zu befreien. Präsident Álvaro Uribe, der ein strikter Verfechter militärischer Operationen zur Befreiung der Geiseln und zur Zerschlagung der Guerilla ist, möchte vor allem verhindern, daß die FARC und politische Gegner im In- und Ausland wie Piedad Córdoba oder Venezuelas Präsident Hugo Chávez aus einer erfolgreichen Vermittlung politischen Nutzen ziehen können. So verweigerte er über Wochen seine Zustimmung zur Vermittlungstätigkeit Córdobas und verzögerte dadurch die angestrebte Freilassung von Pablo Emilio Moncayo.

Vermittlung gefordert

Dessen Vater, Gustavo Moncayo, warf Uribe vor, durch seine Haltung »die Türen zu schließen und Pablo Emilio die Freiheit (zu) verweigern«. Der 57 Jahre alte Lehrer aus der im Südwesten Kolumbiens gelegenen Ortschaft Sandoná war 2006 international bekanntgeworden, als er von seiner Heimat aus zu Fuß in anderthalb Monaten die mehr als 1200 Kilometer bis in die Hauptstadt Bogotá zurücklegte, um dort von der Regierung Unterstützung für die Freilassung seines Sohnes und einen humanitären Austausch einzufordern. Als ständig sichtbares Symbol für das Leiden seines Sohnes und der anderen Gefangenen ließ sich Moncayo Ketten anlegen, die er erst nach der Freilassung von Pablo Emilio ablegen will. Die trug er auch, als er 2007 nach Europa reiste und um politische Unterstützung für eine humanitäre Lösung warb. »Die Gefangenen der Guerilla gewaltsam zu befreien, käme einem Todesurteil für sie gleich«, warnte er schon damals im Gespräch mit jW. Deshalb müsse es eine politische Lösung durch Verhandlungen geben: »Wir sind es leid zu sehen, wie Menschen in diesem Krieg sterben.«

* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2009


"Soziale Ungleichheit ist Ursache der Gewalt"

Uribe verhindert eine humanitäre Lösung. Gespräch mit Yury Tatiana Moncayo

Yury Tatiana Moncayo (23) setzt sich aktiv für die Freiheit ihres Brudes Pablo Emilio ein.

Bereits im April kündigte die FARC-Guerilla die Freilassung Ihres Bruders Pablo Emilio und des Soldaten José Daniel Calvo an, aber seither ist ein halbes Jahr vergangen, ohne daß etwas geschehen wäre. Warum?

Die FARC stellen keinerlei Bedingungen für die Freilassung von Pablo Emilio, außer daß die Senatorin Piedad Córdoba und mein Vater persönlich die Gefangenen entgegennehmen, denn die FARC vertrauen Piedad Córdoba, weil sie in der Vergangenheit bereits die Freilassung anderer Soldaten oder aus politischen Gründen Entführter vermittelt hat. Deshalb fordern wir, daß Córdoba auch in diesem Fall als Vermittlerin arbeiten darf. Jetzt sind schon rund sechs Monate vergangen, aber wir haben auf diese Bitte noch immer keine positive Antwort der Regierung erhalten.

Welches Interesse könnte die kolumbianische Regierung an dieser Verzögerung haben?

Das wüßten wir auch gerne. In dem Maße, wie die Zeit vergeht, wird die Situation für meine Eltern, für meine Schwestern und für mich immer schwieriger, und natürlich auch für Pablo Emilio. Wir haben einige Tage nach der Ankündigung der FARC wegen der Unnachgiebigkeit der Regierung vor Gericht einen Antrag gegen Präsident Uribe eingebracht, damit er der Freilassung meines Bruders keine Hindernisse in den Weg stellt. Dieser Antrag ist von den Gerichten zweimal abgelehnt worden.

In einem Video, das im September als Lebenszeichen verbreitet wurde, warnt Pablo Emilio, daß sein Leben in den vergangenen Monaten durch die Operationen des kolumbianischen Militärs mehrfach in Gefahr war...

Seit Jahren trägt mein Vater Ketten, um gegen die Versuche einer gewaltsamen, militärischen Befreiung der Geiseln und gegen die Militäroperationen der Regierung zu protestieren. Die Situation ist tatsächlich besorgniserregend, denn diese Operationen bringen das Leben der Gefangenen in Gefahr. Deshalb ist die ganze Familie Moncayo entschieden gegen die militärischen Befreiungsversuche, wir fordern einen humanitären Gefangenenaustausch zwischen der Guerilla und der Regierung. Das würde nicht nur unserer Familie nutzen, sondern der gesamten Gesellschaft. Die Regierung bombardiert Gebiete, ohne daß es sie interessiert, wen sie dabei ermordet. Eine Bombe aus einem Hubschrauber oder aus einem ferngesteuerten Flugzeug unterscheidet nicht zwischen einem Guerillero und einem Entführten, sondern tötet blind alle, die ihren Weg kreuzen.

Die Senatorin Piedad Córdoba hat vor einigen Tagen angekündigt, daß die Freilassung von Pablo Emilio in der ersten Novemberhälfte erfolgen könnte. Teilen Sie diese Hoffnung?

Unsere Hoffnung halten wir seit der Entführung meines Bruders vor zwölf Jahren aufrecht. Was jetzt hier fehlt, ist nur der Wille und die Bereitschaft der Regierung Uribe, nichts anderes. Der Präsident muß nur sagen, daß er einverstanden ist, daß die Logistik und alles mit der Freilassung Zusammenhängende organisiert wird, und Pablo Emilio wäre in weniger als zwei Tagen frei.

Im vergangenen Jahr gelang der kolumbianischen Regierung die Befreiung von Ingrid Betancourt durch eine Falle, die sie der Guerilla gestellt hatten. Hat diese Aktion die Freilassung Ihres Bruders erschwert?

Wir haben natürlich nichts dagegen, daß sie die Gefangenen befreien, solange sie uns garantieren, daß Pablo Emilio und die anderen lebend dort heraus kommen. Aber so ist das wie Russisches Roulett, denn bei einer militärischen Befreiungsaktion weiß man nie, wer überlebt und wer ums Leben kommt. Deshalb sind solche Aktionen kontraproduktiv für einen Friedensprozeß, den wir immer angestrebt haben. Der Guerilla hat die Art und Weise, wie Ingrid Betancourt befreit wurde, natürlich gar nicht gefallen, aber sie zeigen nach wie vor ihre Bereitschaft zu Freilassungen.

Die kolumbianische Regierung bezeichnet die FARC regelmäßig als »Terroristen« und »Verbrecher« und erkennt sie nicht als kriegführende Partei an. Nachdem Sie in den vergangenen Jahren notgedrungen regelmäßig mit der Guerilla zu tun hatten, halten Sie die Gegenseite für zuverlässige Verhandlungspartner?

Wir sind weder ihre Freunde noch Feinde. Uns ist völlig klar, daß die Guerilla ursprünglich als Reaktion auf die soziale Ungleichheit in Kolumbien entstanden ist, und diese Bedingungen bestehen nach wie vor. Deshalb schließen sich viele Jugendliche noch immer der Guerilla an, weil sie keine andere Chance in dieser Gesellschaft haben. Solange die bestehende Ungleichheit in der Gesellschaft fortbesteht, wird der Konflikt nicht verschwinden.

Interview: André Scheer

** Aus: junge Welt, 30. Oktober 2009

Überblick: Jahrzehnte der Gewalt

Kolumbien kommt seit mehr als sechs Jahrzehnten nicht zur Ruhe. Als Beginn der Gewalt gilt die Ermordung des linksliberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán am 9.April 1948. Die Wut der Bevölkerung über den Tod des Hoffnungsträgers entlud sich in einem Volksaufstand, der als »Bogotazo« in die Geschichte einging.

In den 50er und 60er Jahren schlossen sich immer mehr Bauern zu Selbstverteidigungsgruppen zusammen, um sich auch mit Waffengewalt gegen die immer häufigeren Übergriffe durch die Großgrundbesitzer zu wehren. Diese hatten Killerkommandos gegründet, die in den ländlichen Gebieten Angst und Schrecken verbreiteten.

Während diese Truppen der Großgrundbesitzer, die als Wurzel der erst Jahrzehnte später offiziell gegründeten Paramilitärs gelten, auf das Wohlwollen der verschiedenen Regierungen in Bogotá zählen konnten, wurde die Selbstorganisation der Bauern als Versuch einer Abspaltung von Kolumbien diffamiert und von der Armee massiv angegriffen. Aus den von Manuel Marulanda geführten Widerstandsgruppen der Bauern entstanden die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC). In den späten 60er Jahren gründeten sich unter dem Eindruck der Kubanischen Revolution weitere Guerillagruppen, von denen die heute noch aktive Nationale Befreiungsarmee (ELN) die bedeutendste war.

Mehrere Versuche, eine friedliche Lösung des Bürgerkrieges zu erreichen, sind gescheitert. Mitte der 80er Jahre schlossen die FARC und die Regierung ein Abkommen, durch das sich die Guerilla in das zivile Leben eingliedern sollte. Die FARC legte die Waffen nieder und gründete die Patriotische Union (UP). Doch die Mitglieder und Funktionäre der Partei wurden zu Tausenden ermordet. Als Regierungstruppen dann am 9.Dezember 1990 das Hauptquartier der FARC bombardierten, kehrte die Guerilla zum bewaffneten Kampf zurück. (scha)

Zu einer detaillierten Chronik der Ereignisse in Kolumbien geht es hier: Kolumbien-Chronik.




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