Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Beginn einer Männerfreundschaft

Kolumbiens neuer Präsident Santos und Venezuelas Chávez schlagen ein neues Kapitel auf

Von Gerhard Dilger, Caracas *

Kolumbien und Venezuela werden wieder diplomatische Beziehungen aufnehmen. Damit legten die Nachbarn kurz nach dem Ende der achtjährigen Amtszeit von Álvaro Uribe die Grundlage für eine Verbesserung des bilateralen Verhältnisses.

An einem symbolträchtigen Ort wurde am Dienstag eine neue Etappe im Verhältnis zwischen Kolumbien und Venezuela eingeläutet: Drei Stunden lang tagten die Präsidenten Juan Manuel Santos und Hugo Chávez auf dem Anwesen nahe der kolumbianischen Küstenstadt Santa Marta, wo 1830 Simón Bolívar starb. Der Kämpfer für die Unabhängigkeit von Spanien ist im Jubiläumsjahr 2010 besonders präsent als jemand, der die Idee von der Einheit Südamerikas verkörpert wie kein zweiter.

Aufgeräumt verkündeten die zwei ungleichen Staatschefs, die diplomatischen Beziehungen würden in Kürze wieder aufgenommen – Chávez hatte sie vor drei Wochen ganz abgebrochen, nachdem er von Santos' Vorgänger Álvaro Uribe wieder einmal beschuldigt worden war, 1500 Rebellen der »Revolutionären Streitkräften Kolumbiens« (FARC) und des »Heers zur nationalen Befreiung« (ELN) in Venezuela Unterschlupf zu gewähren.

»Die venezolanische Regierung unterstützt weder die Anwesenheit von Guerilleros oder Terroristen in Venezuela noch erlaubt sie sie«, sagte Chávez. Die Rebellen forderte er erneut auf, die Waffen niederzulegen und nach dem Vorbild ehemaliger Kämpfer in El Salvador, Nicaragua oder Uruguay den Versuch zu unternehmen, durch Wahlen an die Macht zu gelangen. Auch wenn dies im Falle Kolumbiens kein realistisches Szenario ist: Vorletzte Woche hatte FARC-Chef Alfonso Cano in einer Videobotschaft neue Gespräche über ein Ende des bewaffneten Kampfes angeboten. Bei der Suche nach politischen Lösungen müsse es unter anderem um eine Landreform und den militärischen Einfluss der USA gehen, sagte Cano in dem 36-Minuten-Video. Bei seiner Amtseinführung am letzten Samstag hatte Santos verkündet, einerseits wolle er die Aufständischen nach wie vor »unerbittlich« bekämpfen, andererseits sei die Tür zu Friedensgesprächen nicht »zugesperrt«.

Auf jeden Fall solle nun in den bilateralen Beziehungen eine »neue Seite aufgeschlagen« werden, versicherte nun Chávez, der im kolumbianischen Wahlkampf den früheren Verteidigungsminister Santos noch wüst beschimpft hatte. »Ich bin äußerst zufrieden über dieses Treffen mit Präsident Chávez«, sagte Santos, und Chávez erwiderte: »Zählen Sie auf meine Freundschaft.«

In fünf Arbeitsgruppen wollen die Nachbarn über wirtschaftliche, handelspolitische, soziale und Sicherheitsfragen beraten sowie die Pläne zu gemeinsamen Infrastrukturprojekten wieder aufnehmen. Neu sei vor allem der Ansatz, die Sicherheitsfragen »aus einer Optik der Kooperation« anzugehen, lobt der frühere kolumbianische Diplomat Diego Cardona, »das ist ganz anders als zu den Zeiten von George W. Bush«.

Seit Ende 2007, als Álvaro Uribe ein zuvor an Hugo Chávez erteiltes Vermittlungsmandat für Gespräche mit den FARC wieder zurückzog, waren die Beziehungen zwischen Kolumbien und Venezuela gespannt. 2009 verschärfte sich die Krise, nachdem Uribe US-Truppen ermöglicht hatte, künftig sieben kolumbianische Stützpunkte zu nutzen.

Leidtragende waren vor allem jene fünf Millionen Menschen, die entlang der 2200 Kilometer langen Grenze wohnen. Die landwirtschaftlichen Produkte, die Venezuela früher aus Kolumbien bezog, kommen heute aus Brasilien oder Argentinien.

Auf der Plaza Bolívar in Caracas verfolgten Anhänger des venezolanischen Präsident die Begegnung in Santa Marta vor dem Fernseher. »Die USA werden nicht locker lassen«, sagte der Aktivist Carlos Ramírez voraus. »Wir wollen den Frieden, aber wir müssen weiterhin auf das Schlimmste gefasst bleiben.« Doch die Befürchtung, dass ein Waffengang zwischen Kolumbien und Venezuela in greifbare Nähe rückt, hat sich bis auf Weiteres verflüchtigt

* Aus: Neues Deutschland, 12. August 2010


Bei Null anfangen

Kolumbien und Venezuela vereinbaren Normalisierung der Beziehungen

Von André Scheer **


Kolumbiens neuer Staatschef Juan Manuel Santos und Venezuelas Präsident Hugo Chávez wollen einen Neustart in den Beziehungen der beiden südamerikanischen Staaten wagen. »Wir haben uns entschlossen, die Seite umzuschlagen und bei Null zu beginnen«, erklärte Santos bei der gemeinsamen Pressekonferenz und vermied damit eine Aussage zu der Frage, ob Bogotá an den Vorwürfen festhält, wonach die kolumbianische Guerilla Stützpunkte auf venezolanischem Staatsgebiet unterhalte. Chávez selbst bekräftigte: »Die von mir geführte Regierung unterstützt und erlaubt keine Präsenz der Guerilla, des Terrorismus und des Drogenhandels auf venezolanischem Territorium.« Nichts Neues sei hingegen, daß illegale Gruppen in Venezuela eindringen, betonte Chávez und erinnerte daran, daß er selbst schon 1975 als junger Soldat an der Überwachung der Grenze zum Nachbarland beteiligt war.

Trotz der offensichtlich erfolgreichen Gespräche vermieden es die beiden Staatschefs, allzuviel Euphorie zur Schau zu stellen und beließen es bei einem höflichen Händedruck. »Präsident Chávez und ich sind uns einig, daß wir das Wohlergehen unserer Völker über jede persönliche Differenz stellen müssen«, erklärte Santos. »Ich glaube, wir wären schlecht beraten und würden unser Mandat verraten, wenn wir Beziehungen knüpfen würden, bei denen wir nach einigen Monaten wieder am Nullpunkt ständen. Langsam, aber mit festem Schritt zu gehen, ist langfristig sehr viel produktiver, als uns zu beeilen, um Abkommen zu schließen, die morgen nicht mehr taugen oder nicht das Ergebnis haben, das die Welt erwartet.« Fünf bilaterale Kommissionen sollen dafür sorgen, daß Probleme künftig auf diplomatischem Weg gelöst werden. An oberster Stelle steht dabei ein Ausschuß, der die Wiederherstellung der Handelsbeziehungen vorantreiben soll. Zahlreiche kolumbianische Unternehmen sind in den vergangenen Monaten in Schwierigkeiten geraten, nachdem Venezuela im Zuge der Krise Bestellungen in Kolumbien storniert hatte. Hinzu kommen offenbar zahlreiche offene Rechnungen kolumbianischer Firmen, die von Venezuela noch nicht beglichen wurden. Beide Regierungen müssen nun herausfinden, welche dieser Forderungen berechtigt sind und bei welchen es sich um überzogene Rechnungen oder Fälschungen handelt. Daneben wollen beide Regierungen gemeinsame Investitionen in der Grenzregion vornehmen, von denen die Gemeinden auf beiden Seiten profitieren sollen.

Nach Meinung internationaler Beobachter wächst durch die Entspannung zwischen den Regierungen auch die Möglichkeit einer Verhandlungslösung für den seit Jahrzehnten anhaltenden Bürgerkrieg in Kolumbien. »Der Amtsantritt eines gemäßigteren Präsidenten hat die wenn auch geringe Möglichkeit von Gesprächen mit den marxistischen Rebellen eröffnet«, kommentierte am Mittwoch die Washington Post. Tatsächlich hatte Santos am vergangenen Sonnabend bei seiner Ansprache zum Amtsantritt erklärt, die Tür für Gespräche sei »nicht mit einem Schlüssel versperrt«. Seine Regierung werde »für jedes Gespräch offen sein, daß einer Beseitigung der Gewalt und dem Aufbau einer wohlhabenderen und gerechteren Gesellschaft dient«. Santos sei »nicht so vom Haß auf die FARC zerfressen« wie sein Vorgänger Uribe, kommentierte dies in der Washington Post der Militäranalyst Adam Isacson. Auch der Herausgeber der kolumbianischen kommunistischen Wochenzeitung Voz, Carlos Lozano, zeigt sich vorsichtig optimistisch: »Es ist wichtig, daß der neue Präsident die Möglichkeit eines Dialogs mit der Guerilla angesprochen hat. Uribe hat eine solche Möglichkeit in acht Jahren erbitterten Krieges, die dem Land hohe humanitäre Kosten aufgebürdet haben, nie erwähnt.« Allerdings wolle Santos den Krieg fortsetzen, um die Guerilla zu besiegen, kritisiert Lozano: »Wenn dies die Friedensstrategie ist, ist ihr Scheitern bereits programmiert.«

** Aus: junge Welt, 12. August 2010


Zurück zur Kolumbien-Seite

Zur Venezuela-Seite

Zurück zur Homepage