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Die Toten von Soacha

Kolumbianische Mütter klagen an – erschütternder Bericht über Gräueltaten der Armee an Zivilisten

Von Peter Kirschey *

»Falsos positivos« werden sie in Kolumbien genannt – Personen, die von der Armee als Guerilleros im Kampf getötet wurden, in Wirklichkeit aber Zivilisten waren. Einer der unzähligen Fälle kam 2008 an die Öffentlichkeit.

Aus Soacha, einem südlichen Vorort der kolumbianischen Hauptstadt Bogota, verschwanden im Frühjahr Dutzende Männer zwischen 16 und 45 Jahren. Sie seien zur Kaffee-Ernte angeworben worden und in den Norden gereist, erklärten die Behörden. Monate später wurde es Gewissheit: Sie waren umgebracht worden, getötet vom Militär. Seitdem kämpfen die Mütter von Soacha, damit die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Im Mai sandten 16 Mütter eine Petition an Luis Moreno Ocampo, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, mit der Bitte um Aufklärung des Verbrechens.

Maria Ubilerma Sanabria Lopez und Luz Marina Bernal, zwei Mütter aus Soacha, sind auf Initiative von Amnesty International nach Europa gekommen, um hier auf das Unrecht in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Auch in Berlin berichteten sie unter Tränen über ihr Schicksal. »Jaime Estivan Valenzia war erst 16 Jahre alt«, erzählt seine Mutter Maria. Am 6. Februar 2008 war er spurlos verschwunden. »Zwei Tage später, am 8. Februar, telefonierten wir miteinander. Er war fröhlich und erzählte von einem Lager, wo alle gemeinsam zur Arbeit fahren sollten.« Dann brach der Kontakt ab.

Sieben lange Monate wartete Maria auf ein Lebenszeichen, dann erhielt sie einen Anruf aus der Gerichtsmedizin, ihr Sohn sei tot. Sein Körper wurde am 27. September in einem Massengrab in Ocanã im Norden Kolumbiens gefunden. In einer Mitteilung der Armee hieß es, ihr Sohn sei als Guerillero im Gefecht getötet worden. Mit anderen Müttern fuhr sie nach Ocanã, wo die Frauen ihre toten Söhne ausgruben. Sie erstatteten Anzeige wegen Mordes. Die Staatsanwaltschaft lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Jungen seien Guerilleros gewesen. Doch die Mütter ließen nicht locker, schrieben Petitionen und riefen Staatspräsident Alvaro Uribe an. Er versprach, den Fall lückenlos aufzuklären. Unter dem Druck der Öffentlichkeit gestanden Soldaten des 15. Infanteriebataillons die Tat. Für ein paar Tage Sonderurlaub und Erfolgsprämien hatten sie die Männer getötet. Es war kein spontanes Verbrechen. Die Armee hatte an Mittelsmänner den Auftrag gegeben, Zivilisten mit dem Versprechen auf Arbeit nach Ocanã zu locken. Dort wurden sie Soldaten übergeben und als Untergrundkämpfer ermordet.

Das gleiche Schicksal ereilte Fair Leonardo Porras Bernal. Der 26-jährige Bauarbeiter aus Soacha, berichtet seine Mutter Luz Marina, verschwand am 8. Januar 2008. Am 16. September wurde seine Leiche in dem Massengrab von Ocanã entdeckt. In armee-internen Unterlagen heißt es, der Mann sei Kommandeur einer illegalen paramilitärischen Gruppe gewesen und am 12. Januar 2008 im Gefecht erschossen worden. In seiner rechten Hand soll er eine Waffe gehalten haben, doch der Mann war körperlich und geistig behindert und konnte nicht schießen. In einem späteren Geständnis der Soldaten wurde mitgeteilt, dass es gar kein Gefecht gab, der Mann sei hingerichtet und ihm sei Militärkleidung übergezogen worden.

Die Regierung versuchte, den Verschwundenen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die Männer hätten gewusst, worauf sie sich einließen, erklärte der Menschenrechtsbeauftragte der kolumbianischen Regierung, Carlos Franco. Sei seien bereit gewesen, für 5000 Dollar Kokain über die Grenze zu schmuggeln. Das war gelogen.

Der damalige Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, heute Staatspräsident des Landes, zeigte sich nach Bekanntwerden der Bluttat empört und nannte es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Oktober 2008 wurden 27 Armeeangehörige aus dem Dienst entlassen, darunter Heereschef General Mario Montoya und zwei weitere Generale. Montoya wechselte in den diplomatischen Dienst und wurde Botschafter seines Landes. Die anderen direkt und indirekt Beteiligten wurden inhaftiert und im Januar 2010 wieder freigelassen, weil die Frist für eine Anklageerhebung abgelaufen war. Nach kolumbianischem Gesetz muss innerhalb von 90 Tagen die Anklage folgen.

Soacha, das zeigen Untersuchungen der letzten acht Jahre, ist kein Einzelfall. Der kolumbianischen Generalstaatsanwaltschaft liegen die Akten von über 2300 Opfern vor. Einen Erfolg haben die Enthüllungen über die Toten von Soacha gebracht: Seit Ende 2008 sind keine neuen »falsos positi- vos«-Fälle mehr bekannt.

Für die Mütter von Soacha ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Sie erwarten eine Bestrafung der Schuldigen: »Wir fordern unser Recht, mehr nicht.«

* Aus: Neues Deutschland, 18. November 2010


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