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Ein Angriff auf die Demokratie Kolumbiens

Aufklärung der Geheimdienst-Bespizelungsaffäre hat keine Priorität *

Hollman Morris ist einer der international bekannten Journalisten Kolumbiens. Der 41-jährige Journalist wurde wie rund hundert weitere regierungskritische Kolumbianer über Jahre vom Geheimdienst observiert und ausspioniert. Morris lebt mit seiner Familie in Bogotá und hat zwei Kinder. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Knut Henkel.



ND: Herr Morris, vor wenigen Tagen hat die Regierung in Bogotá nach zahlreichen Skandalen die Auflösung des Geheimdienstes DAS angekündigt. Was halten Sie als einer derjenigen, die über Jahre observiert und ausspioniert wurden, davon?

Morris: Ich begrüße diesen Schritt, aber das allein ist keine Lösung. Aus meiner Sicht ist es nötig, den Skandal voll und ganz aufzuklären. Warum wurden wir überwacht und systematisch ausspioniert? Warum hat man unsere Konten überprüft, unsere Kinder fotografiert, unsere E-Mails abgefangen und unsere Telefone abgehört. Wer hat das angeordnet? Auf diese Fragen möchte ich eine Antwort, und das geht den meisten der insgesamt über einhundert Personen, die ausgespäht wurden, so.

Vor wenigen Tagen hat der Informatikchef des Geheimdienstes, Rafael García, vor laufender Kamera angegeben, dass Präsident Álvaro Uribe höchstpersönlich alles gewusst haben soll.

Es ist unstrittig, dass der Präsident in jedem Fall die politische Verantwortung trägt. Der Geheimdienst war dem Präsidenten zu Diensten, und letztlich hat Álvaro Uribe die Marschrichtung schon 2003 ausgegeben. Damals hat er zum ersten Mal Menschenrechtsverteidiger als fünfte Kolonne der Guerilla bezeichnet und, so weit ich mich erinnere, auch ein Anwaltskollektiv beim Namen genannt. Ich denke, dass er damit in gewisser Weise dem Geheimdienst grünes Licht gegeben hat. Selbst Bernardo Moreno, sein persönlicher Sekretär, ist mittlerweile festgenommen worden, weil er die Überwachung von Oppositionellen angeordnet hatte.

Haben Sie den Eindruck, dass von Seiten der Regierung nun die Aufklärung des Geheimdienstskandals Priorität hat?

Nein, denn die Regierung hat gerade eine Kampagne initiiert, in der sie behauptet, dass sie ein Opfer von Manipulationen und jemand anders für die Abhöraktion verantwortlich sei. Am 21. September ist die entsprechende Meldung erschienen, und es heißt, dass Feinde der Regierung dafür verantwortlich seien. Die Medien seien nun gefragt, die Dinge klarzustellen.

Da mutet man den Medien aber einiges zu. Herrscht denn überhaupt Klarheit über die Tragweite des Skandals in der kolumbianischen Bevölkerung? Wenn der Privatsekretär des Präsidenten den Geheimdienst beauftragt, die politische Opposition zu bespitzeln, ist das doch auch ein Angriff auf die Demokratie, oder nicht?

Ich möchte mit den Worten von Enrique Santos Calderón antworten, der kürzlich schrieb, dass die kolumbianische Gesellschaft noch gar nicht wisse, welche Tragweite dieser Skandal für die Demokratie in Kolumbien habe. Santos forderte in seiner Funktion als Präsident der Interamerikanischen Pressevereinigung lückenlose Aufklärung bis ins letzte Detail. Die Realität sieht allerdings anders aus, denn bisher hat man die Opfer doch kaum wahrgenommen. Wir wurden von der Regierung bisher nicht als Opfer dieser Geheimdienstmachenschaften anerkannt. Derzeit verdreht die Regierung die Dinge und macht sich selbst zum Opfer.

Ist das Strategie, um die Kandidatur für die dritte Amtszeit nicht zu gefährden?

Das ist möglich, aber internationale Beobachter wie die spezielle UN-Berichterstatterin für Menschenrechtsverteidiger, Margaret Sekaggya, stellen der Regierung kein gutes Zeugnis aus. Die Situation von Menschenrechtsaktivisten habe sich nicht groß verbessert, so die Anwältin, die Kolumbien gerade erst besucht hat.

Welche Aufgabe kommt den Medien zu?

Oh, sie könnten aufklären, Defizite aufzeigen und vieles mehr. Das ist aber alles andere als einfach, denn vor allem im Fernsehen hat sich eine sehr offiziöse Berichterstattung durchgesetzt. Sendeplätze für Reportagen, Dokumentationen und Hintergründe sind knapp. In der Presse sieht es da noch deutlich besser aus. Da muss man sich aber auch auf Angriffe aus dem Präsidentenpalast einstellen. Das hat die Vergangenheit gezeigt, und angeblich ist der Präsident derzeit schlecht auf die Wochenzeitung »Semana« zu sprechen.

* Aus: Neues Deutschland, 28. September 2009


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