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"Die europäische Unterstützung für Álvaro Uribe ist ein Skandal"

Kolumbien verschärft die Kriegspolitik gegen die FARC-Guerilla und diskreditiert Vermittler

Carlos Lozano ist Chefredakteur der linken Wochenzeitung »Voz« und war Vermittler im kolumbianischen Friedensprozess 1998-2002. Wegen eines anhängigen Verfahrens wegen mutmaßlicher Verbindungen zur FARC-Guerilla musste Lozano die Europareise, die er auf Einladung der deutschen Linkspartei im September antreten sollte, kurzfristig absagen. Mit Lozano sprach in Bogotá für das Neue Deutschland (ND) Raul Zelik.



ND: Gegen 50 Abgeordnete des Regierungslagers laufen Strafverfahren wegen Verbindungen zu rechten Paramilitärs. Es ist auffällig, dass nun auch gegen Sie Ermittlungen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur FARC eingeleitet worden sind.

Lozano: Ich denke, dass es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver handelt. Die Regierung hat ja nicht nur »Beweise« gegen die Senatorin Piedad Córdoba und mich vorgelegt, sondern in den letzten Wochen auch den Obersten Gerichtshof frontal angegriffen. Offensichtlich will Präsident Uribe den Parapolitik-Skandal verschleiern. Dabei schreckt die Regierung vor nichts zurück: Der persönliche Sekretär Uribes hat unlängst einen führenden Drogenhändler im Präsidentenpalast empfangen und sich von ihm Material geben lassen, mit dem der Oberste Gerichtshof diskreditiert werden sollte.

Trotzdem sind Uribes Umfragewerte hoch – vor allem wegen der Bekämpfung der Guerilla. Sie gelten als guter Kenner der FARC. Steht die Organisation vor ihrem Ende?

Die FARC befinden sich nicht in einem Auflösungsprozess, wie die Regierung behauptet. Aber es ist wahr, dass sie in den letzten acht Monaten so viele Schläge eingesteckt haben wie zuvor in 40 Jahren nicht. Die Kriegspolitik Uribes hat die Aktionsfähigkeit der Guerilla spürbar eingeschränkt. Für die Anführer der FARC sollte das Anlass zur Reflektion sein. Eine bewaffnete Revolution ist in Kolumbien heute unvorstellbar, die Guerilla hat zur städtischen Realität keine Verbindung. Wenn Kolumbien wie andere Länder Lateinamerikas eine progressive Regierung haben soll, dann müssen die FARC einen Friedensprozess einleiten.

Die Befreiung Ingrid Betancourts im Juli wurde dadurch ermöglicht, dass sich zwei regionale FARC-Kommandanten bestechen ließen. Sind die FARC durch den Drogenhandel so stark korrumpiert worden, dass jetzt auch wichtige Kader desertieren?

Zwei Faktoren spielen eine Rolle: Zum einen dauert der Krieg schon ein halbes Jahrhundert. Konflikte dieser Dauer haben die Tendenz zu degenerieren. Dabei trägt die Regierung allerdings noch größere Verantwortung als die FARC. Die Guerilla – FARC und ELN – hat inakzeptable Praktiken wie Entführungen eingesetzt. Die Regierung ihrerseits hat paramilitärische Gruppen aufgebaut und protegiert. Diese Todesschwadronen sind für Tausende Massaker und die Vertreibung von mehr als drei Millionen Bauern verantwortlich. Der zweite Faktor ist, dass bei den einfachen Guerilleros und mittleren Kadern eine Kriegsmüdigkeit zu beobachten ist. Diese Erschöpfung führt dazu, dass sich Kämpfer verführen lassen. Die FARC haben sehr gute, politisch geschulte Kommandanten, aber ihre Überzeugungskraft verliert mit der Dauer des Krieges an Gewicht. Man muss aber auch sehen, dass die kolumbianischen Guerillas schon viele Krisen überstanden haben.

Der neue FARC-Kommandant Alfonso Cano galt kolumbianischen Medien in den 80er Jahren als »Sozialdemokrat«. Wird sich mit ihm die FARC-Linie verändern?

Ich sehe keine Fraktionierung in eine »weiche« und eine »harte« Linie. Aber sicher werden sich die FARC verändern – und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Führung kollektiver sein wird. FARC-Kommandant Manuel Marulanda, der im März 2008 starb, war eine Legende. Er war seit 1949 in der Illegalität und besaß daher besonderes Gewicht. Cano wird stärker als Marulanda kollektive Entscheidungen herbeiführen müssen – was in Anbetracht der modernen Kontrolltechnologien schwierig ist. Ich hoffe sehr, dass Cano, der eine Nähe zum städtischen und intellektuellen Milieu hat, die FARC öffnet. Die FARC haben Beziehungen zu den progressiven Regierungen Lateinamerikas aufgebaut. In Kolumbien selbst geht es um die Festigung einer Linkspartei. Der politische Raum ist heute entscheidend.

Das Mitte-Links-Bündnis Polo Democrático Alternativo (PDA) hat bei den letzten Wahlen fast 25 Prozent der Stimmen erhalten und regionale Mehrheiten gewonnen. Geändert hat das wenig. Der PDA-Bürgermeister in Bogotá, Lucho Garzón, hat die neoliberale Politik fortgesetzt.

Der PDA befindet sich in einem Konstituierungsprozess. Es gibt eine Strömung, die um jeden Preis an die Regierung will und sich von der Linken distanziert. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen PDA, der die Machtfrage stellen und grundlegende Transformationen durchsetzen will. Die Frage, ob sich mit Wahlen in Kolumbien etwas verändern lässt, ist berechtigt. Uribe hat schon angedeutet, dass er »die Katastrophe« eines linken Wahlsiegs mit allen Mitteln verhindern werde. Um so wichtiger wäre eine Verhandlungslösung. Das Ziel solcher Verhandlungen müsste sein, Kolumbien grundlegend zu demokratisieren.

Es gibt zahllose Hinweise auf Verbindungen der Uribe-Regierung zur Drogenkriminalität und zu Todesschwadronen. Warum findet der Präsident international und im Land selbst trotzdem so viel Zuspruch?

Viele erklären das mit dem bewaffneten Konflikt: Als Kämpfer gegen die FARC wird Uribe alles verziehen. Ich glaube allerdings, diese Erklärung ist zu einfach. Man muss auch sehen, dass die Regierung die führenden Medien kontrolliert und über klientelistische Strukturen verfügt. Das sorgt im Inneren für eine breite Unterstützung. Was mich entsetzt, ist die Haltung der internationalen Gemeinschaft. Von der Bush-Regierung kann man nichts anderes erwarten, aber dass Uribe auch in Europa unterstützt wird, ist ein Skandal. Nichtsdestoweniger wird sich Uribe in den nächsten Monaten wahrscheinlich verschleißen. Die Militärausgaben sind viel zu hoch. In Verbindung mit der sich abzeichnenden Weltwirtschaftskrise wird das zu einem Problem werden. In der kolumbianischen Rechten häufen sich daher die Stimmen, die von einem »Uribismus ohne Uribe« sprechen.

Hintergrund - Reyes und sein Zaubercomputer

Die kolumbianische Regierung setzt in ihrer medialen Strategie auf die Salamitaktik. Am vergangenen 1. März beschlagnahmten die kolumbianischen Behörden im Verlauf einer illegalen Militäraktion auf ecuadorianischem Gebiet gegen ein Lager der Guerillaorganisation Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) acht Computermedien. Als Eigentümer machten die Behörden Raúl Reyes aus, langjähriger Stellvertreter des kürzlich verstorbenen FARC-Chefs Manuel »Tirofijo« Marulanda. Wehren kann sich Reyes dagegen nicht, denn er wurde wie 23 weitere Menschen bei der Militäraktion getötet, darunter neben FARC-Rebellen auch einige Zivilisten.

Unmittelbar nachdem die meisten südamerikanischen Staaten den Angriff auf ecuadorianisches Staatsgebiet verurteilt hatten, präsentierte Kolumbiens Regierung Dokumente, wonach die Regierung Ecuadors mit den FARC kooperiere. Venezuela wird sogar vorgeworfen, die Guerilla mit 300 Millionen Dollar unterstützt zu haben.

Obwohl die Computer längst erforscht sein müssten, gibt die Regierung nur scheibchenweise Informationen bekannt. Mit ihren »Enthüllungen« zielt die Regierung von Präsident Álvaro Uribe nicht nur auf die Linksregierungen Ecuadors und Venezuelas, sondern auch auf Politiker, die sich um Vermittlung in dem seit über 40 Jahren andauernden Konflikt bemühen. Neben kolumbianischen Politikern wie der oppositionellen Senatorin Piedad Cordóba und dem kolumbianischen Journalisten Carlos Lozano (siehe Interview) werden auch europäische Vermittler angegriffen. Die Reihe reicht vom französischen Mittelsmann Noël Sáez über den Italiener Marco Consolo von der Rifondazione Comunista (Kommunistische Neugründung) bis zu Wolfgang Gehrcke, Bundestagsabgeordneter der LINKEN. ML



* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2008


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