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Fall Pérez Becerra: Anwälte fordern Freilassung

Nach Ablehnung der Reyes-Computer als Beweismittel fordern Anwälte die Freilassung Pérez Becerras. Weiter Kritik an Auslieferung in Venezuela

Von Jan Kühn *

Die Anwälte des Ende April von Venezuela an Kolumbien ausgelieferten Joaquín Pérez Becerra fordern die Freilassung des linken Journalisten. Wie die kolumbianische Tageszeitung El Tiempo in ihrem Onlineangebot berichtet, berufen sich die Juristen auf das kürzliche Urteil des Obersten Gerichtshofs Kolumbiens in einem anderen Fall. Im Verfahren gegen den linken Politiker Wilson Borja hatte das Gericht vergangene Woche die Computer als Beweismittel abgelehnt, welche die kolumbianischen Streitkräfte nach eigenen Angaben bei einer Militäroperation gegen ein FARC-Lager auf ecuadorianischem Territorium sichergestellt hatte. Bei dem Luftangriff im März 2008 war die damalige Nummer Zwei der kolumbianischen FARC-Guerilla, Raúl Reyes, getötet worden. Weil die Datenträger auf illegale Weise außerhalb Kolumbiens sichergestellt worden seien, könnten sie in dem Prozess nicht als Beweismittel verwendet werden, so die Richter.

Nun berufen sich die Anwälte Pérez Becerras auf das Urteil. Dem schwedischen Journalisten kolumbianischer Herkunft wird vorgeworfen, Verbindungsmann der FARC in Europa zu sein. Die Anklage stützt sich dabei in erster Linie auf etwa 700 E-Mails aus dem vermeintlichen Reyes-Computer, die seine Mitgliedschaft beweisen sollen. Würden die Datenträger nicht im Prozess zugelassen, so könnte die Anklage zusammenbrechen.

Zwar verteidigte der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos die "Legalität" der aus den Rechnern gewonnenen digitalen Daten am vergangenen Freitag. Tatsächlich könnte das Urteil aber Pérez Becerra und anderen vermeintlichen FARC-Unterstützern zugute kommen. Erst am Montag suspendierte ein Richter des Obersten Gerichtshofs in Chile die Anhörungen im Fall Manuel Olate Céspedes. Auch dem Chilenen, der von der Auslieferung an Kolumbien bedroht ist, wirft die kolumbianische Justiz vor, zum internationalen Netzwerk der FARC zu gehören. Der zuständige Richter, Guillermo Silva, erklärte nun, zunächst das Urteil aus Kolumbien zu prüfen, da sich dadurch unter Umständen die Vorwürfe auf juristischer Ebene erledigt haben könnten.

Unterdessen hält in Venezuela die Kritik an der Überstellung Pérez Becerras an Kolumbien an. Bei einem thematischen Ableger der Sozialforumsbewegung am vergangenen Wochenende in Caracas diskutierten Basisaktivisten den Fall, der international Empörung in der Linken ausgelöst hatte. So erklärte Gonzálo Gómez, Mitgründer des venezolanischen Nachrichtenportals aporrea.org, auf der Konferenz, die Entscheidung der Regierung Chávez habe zu einem Verlust an internationaler Solidarität für den "Bolivarischen Prozess" in Venezuela geführt. Gleichzeitig kritisierte er den Umgang der staatlichen venezolanischen Medien mit dem Fall. Diese hätten versucht, den Konflikt totzuschweigen, so Gómez.

Auch ein Opfer dieser Politik sprach auf der Konferenz. Die Journalistin Cristina González war zur Zeit der Verhaftung Pérez Becerras Vorsitzende des linken staatlichen Radiosenders La Radio del Sur. Sie wurde nach der Auslieferung Pérez Becerras ihres Postens enthoben - vermutlich weil sie entgegen der Forderungen des venezolanischen Informationsministeriums über die Auslieferung berichtete. Am Samstag (21. Mai) kritisierte sie die Verlautbarungen des Außenministeriums als einen "bedauerlichen Fehler". Dieses hatte nach die Auslieferung Pérez Becerras als einen Beweis für die Kooperation Venezuelas "im Kampf gegen den Terrorismus, die Kriminalität und das organisierte Verbrechen" bezeichnet. Doch, so González, Joaquín Pérez Becerra habe lediglich "dasselbe getan wie wir alle". Er repräsentiere eine Nachrichtenagentur, welche auch den staatlichen Medien über Jahre hinweg als Quelle gedient habe. Allein der Webauftritt des multistaatlichen Fernsehsenders Telesur habe die Agentur ANNCOL über 300 Mal zitiert, erklärte González weiter.

* Aus: Internetportal Amerika21, 24. Mai 2011; http://amerika21.de


Was die FARC-Dateien wirklich enthüllen

Der Versuch einer konservativen Denkfabrik, weitgehend diskreditierte Behauptungen kolumbianischer Militärs wieder aufzuwärmen, erweist sich als schmutzige Propaganda

Von Greg Grandin, Miguel Tinker Salas **


Das am Dienstag (10. Mai) herausgegebene "Dossier" von FARC-Dateien, die angeblich im Jahr 2008 von der kolumbianischen Regierung beschlagnahmt wurden, erweist sich als wahrer Reinfall. Der Bericht des Internationalen Institutes für Strategische Studien (IISS) scheint ein Versuch von Falken in den USA und Großbritannien zu sein, unter Verwendung von "schmutziger Propaganda" die verfehlte Politik der Administration von George W. Bush wie auch einiger Vorgängerregierungen aus der Ära des Kalten Krieges fortzuführen. Alle in dem Dossier gezogenen Schlussfolgerungen beruhen auf der falschen Voraussetzung, dass die Dokumente, die es zu analysieren vorgibt, vollkommen vertrauenswürdig seien.

Unparteiische Beobachter der Ereignisse, welche um die angebliche Erbeutung von Computerdateien der FARC und deren nachfolgenden Enthüllung in den Medien stattfanden, haben schon vor langer Zeit den Schluss gezogen, dass die Dateien bestenfalls höchst zweifelhaft seien. Die kolumbianischen Militärs, die behaupten, die Dokumente auf Computern und Speichersticks im März 2008 im Gefolge eines illegalen Bombenangriffs auf ein FARC-Lager auf dem Gebiet von Ecuador erbeutet zu haben, sind die einzigen Beteiligten, die mit Sicherheit wissen können, ob die Dokumente echt sind.

Das IISS und andere, die der Welt die Echtheit der Dokumente glauben machen wollen, stützen sich in ihrer Argumentation entschieden auf die angebliche Verifizierung der Dateien durch Interpol. Was aber Interpol in seinem Bericht von 2008 tatsächlich ausgesagt hat war, dass die Behandlung der Daten durch das kolumbianische Militär "nicht den international anerkannten Prinzipien für die ordnungsgemäße Handhabe elektronischer Beweismittel im Gesetzesvollzug entsprach". Interpol stellte fest, dass ein Zeitraum von einer Woche zwischen der Beschlagnahme der Computerdokumente durch Kolumbien und der Übergabe an Interpol lag, in dem die kolumbianischen Behörden, dem ausführlichen forensischen Bericht von Interpol zufolge, konkret 9.440 Daten verändert und 2.905 gelöscht haben. Das "könnte die Bewertung dieses Beweismittels zu Zwecken der Einbringung in ein juristisches Verfahren verkomplizieren", wie Interpol seinerzeit anmerkte.

Bemerkenswerterweise machte das kolumbianische Militär nach seiner anfänglichen "Entdeckung" und "Erbeutung" (uns wurde berichtet, dass die Computer vollkommen unbeschadet einen Bombenangriff überstanden hätten) "Enthüllungen", die sich rasch als falsch herausstellten. Ein Foto, das einen hochrangigen ecuadorianischen Funktionär bei einem offiziellen Treffen mit der FARC zeigte, wurde als Fälschung entlarvt. Noch peinlicher war es, dass die Behauptungen des kolumbianischen Militärs, dass einige Dateien bewiesen, dass die FARC den Bau einer "schmutzigen Bombe" planten, von der US-Regierung und Terrorismusexperten öffentlich verworfen wurden.

Die Dokumentenbeweise für eine venezolanische Unterstützung für die FARC waren so schwach, dass der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, José Miguel Insulza dem Unterausschuss des US-Repräsentantenhauses für Angelegenheiten der Westlichen Hemisphäre nur einen Monat später berichtete, dass es "keinen Beweis" für solch eine Unterstützung oder auch nur für geheime Absprachen gebe.

Noch vernichtender für die Sache der kolumbianischen Militärs waren die Aussagen von General Douglas Fraser im letzten Jahr, dem Oberbefehlshaber des US-Südkommandos, in Beantwortung von Fragen des Senators John McCain die angebliche Venezuela-FARC-Verbindung und die "Laptop-Enthüllungen" betrafen: "Wir haben keinerlei besonderen Kontakte gesehen, aus denen ich verifizieren könnte, dass es eine direkte Verbindung der Regierung zu Terroristen gegeben hat", stellte Fraser fest, wobei er hinzufügte: "Da bleibe ich skeptisch". (Fraser widerrief seine Zeugenaussage am folgenden Tag nach einem Treffen mit dem obersten Beamten des US-Außenministeriums für Lateinamerika, Arturo Valenzuela. Fraser hat dabei jedoch, als leitender US-Militärführer für Aktivitäten in Südamerika, einen erheblichen Wissensvorsprung.)

Jetzt da Juan Manuel Santos von Alvaro Uribe die Präsidentschaft in Kolumbien übernommen hat, sind jedoch die gegenwärtig engen Beziehungen zwischen den Regierungen von Venezuela und Kolumbien vielleicht am aufschlussreichsten. Wenn Kolumbien tatsächlich Beweise für die venezolanische Unterstützung für die FARC hätte, hätte sich Santos dann gegenüber der Regierung von Chávez so bereitwillig geöffnet, indem er den Handel und die politische Unterstützung ankurbelte? Santos ist interessanterweise der Mann, der als Kolumbiens Verteidigungsminister den Angriff auf das FARC-Camp geleitet hatte.

Die US-Politik schien während einer langen Zeit der Uribe-Regierung (2002-2010) darauf ausgerichtet zu sein, Spannungen zwischen Kolumbien und Venezuela zu provozieren. Nun, da Santos im Amt ist, Kolumbien "vorwärts schaut" und sogar ein Abkommen aus der Ära Uribe, das eine gesteigerte US-Militärpräsenz in Kolumbien vertraglich geregelt hatte, fallen gelassen wird, hoffen die Förderer dieser Politik erneut, durch das IISS neue Unruhe zu schaffen.

Die Welt wird aufgefordert, dem Wort der Geheimdienstbeamten und der nationalen Sicherheitsberater der ehemaligen Bush-Administration – die bei der Überwachung der Aktivitäten des IISS mitgewirkt haben – und ihrer Kollegen im Vereinigten Königreich zu trauen, zu denen frühere Berater von Blair und Thatcher gehören. Der IISS-Experte, der dazu auserwählt war, die Erkenntnisse aus den Dossiers in dieser Woche in Washington vorzustellen, ist zum Beispiel ein ehemaliger britischer Geheimdienstbeamter, der Geheimdienstoperationen in Lateinamerika geleitet hat. Unter weiteren namhaften IISS-Beiratsmitgliedern befinden sich Robert D. Blackwill (ehemaliger stellvertretender nationaler Sicherheitsberater von George W Bush), Eliot Cohen (ehemaliger leitender Berater von Außenministerin Condoleezza Rice für strategische Angelegenheiten), Sir David Manning (ehemaliger außenpolitischer Berater von Tony Blair) und Prince Faisal bin Salman bin Abdulaziz von Saudi Arabien.

Mit anderen Worten wollen uns genau dieselben Leute, welche die Bevölkerung der Vereinigten Staaten und Großbritanniens bezüglich der Invasion des Irak hinters Licht geführt haben, nun dazu bewegen, ihren "Enthüllungen" über Venezuela, Ecuador und die FARC zu glauben.

Das IISS ist voll mit Leuten, die das eine oder andere über "schmutzige Propaganda" wissen sollten – gefälschte oder veränderte Informationen, deren Quellen zur Erreichung politischer Zielsetzungen getarnt werden. Die Anwendung solcher "schmutziger Propaganda" ist so alt wie die Spionage selbst und wird von CIA und MI6 routinemäßig benutzt. Der ehemalige CIA-Agent Philip Agee, hat mehrere solcher Operationen in seinen aufschlussreichen Memoiren unter dem Titel "Inside the Company: CIA Diary"[1] geschildert, die in den 1970er Jahren veröffentlicht wurden.

Wenn alte Kumpane von Bush heutzutage "schmutzige Propaganda" dazu benutzen, um die Chávez-Regierung zu verunglimpfen, ist das nicht das erste Mal. Die Bush-Administration unterstützte den kurzzeitigen Sturz von Chávez im April 2002. Die Verwendung verfälschter Informationen – manipuliertes Filmmaterial, das den Anschein erweckte als ob Chávez-Anhänger auf unbewaffnete Demonstranten geschossen hätten – spielte eine Schlüsselrolle bei diesem Staatsstreich. Warum also sollte irgendjemand Behauptungen ehemaliger hochrangiger Beamter der Bush-Administration bezüglich venezolanischer oder ecuadorianischer Verbindungen zur FARC für bare Münze nehmen?

Unglücklicherweise gibt es viele laute Stimmen, die Lateinamerika weiterhin durch ein Prisma des Kalten Krieges wahrnehmen, wie die gegenwärtig führenden Köpfe der Ausschüsse des US-Repräsentantenhauses für auswärtige Angelegenheiten und die Westliche Hemisphäre, genau wie verschiedene Leitartikler großer US- Medienunternehmen, die alle überglücklich wären, wenn sie die IISS-Schlapphüte und Neokonservativen beim Wort nehmen könnten – genau wie sie dies in der Aufwärmphase der Irakinvasion getan haben.

[1] Deutsche Übersetzung: CIA Intern. Tagebuch 1956-1974, Attica Verlag, Hamburg 1979, und Europäische Verlagsanstalt, 1981, ISBN 978-3-434-25116-3.

* Originalartikel: What the Farc files really reveal. In: The Guardian, 10 May 2011; guardian.co.uk; Übersetzung: Klaus E. Lehmann

Aus: Internetportal Amerika21, 13. Mai 2011; http://amerika21.de



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