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Ungewisse Zukunft am anderen Ufer

Die Spannungen zwischen der Demokratischen Republik Kongo und dem Nachbarn Ruanda wachsen wieder. Noch immer belastet der Völkermord an den Tutsi von 1994 das Verhältnis.

Von Alex Veit *

In der Demokratischen Republik Kongo deutet vieles auf einen neuen Krieg hin. Allein in der östlichen Region Nord-Kivu sind mittlerweile mindestens 120 000 Menschen auf der Flucht. Selbst eine offene militärische Intervention Ruandas wird nicht mehr ausgeschlossen.

Am anderen Ufer, dort liegt die Zukunft. Jean und John sitzen nebeneinander am Ufer des Kivu-Sees und unterhalten sich darüber, was kommen mag. Hinter ihnen die Demokratische Republik Kongo, wo sie die letzten Jahre verbracht haben. Vor ihnen ihr Heimatland, Ruanda, in das sie in wenigen Stunden gebracht werden. Hinter ihnen ein Krieg, in dem sie gekämpft haben, von dem sie nun aber glauben, dass er mit ihnen nichts mehr zu tun hat. Vor ihnen eine Heimat, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben.

John und Jean gehörten bis vor wenigen Tagen zu verfeindeten Rebellengruppen und hätten aufeinander geschossen, wenn sie sich in einem Gefecht begegnet wären. Nun warten die beiden ehemaligen Milizionäre einträchtig auf ihren Transporter, der in einer Stunde die wenige hundert Meter entfernte Grenze überqueren und sie in ihr Land zurückbringen wird. »Wir wollen doch beide zurück nach Ruanda, das ist ein gemeinsames Ziel«, sagt Jean, »Wieso sollten wir uns streiten?« Wahlen sollten Frieden bringen

Von der kongolesischen Seite der Grenze aus erscheint Ruanda durchaus vielversprechend: An den Ufern des Kivu-Sees entlang schlängelt sich die Hauptstraße, an der Luxushotels und Villen die Begüterten beherbergen. Kein Vergleich zur Unterkunft von Jean, John und dem Dutzend ehemaliger Kämpfer mitsamt ihren Familien im Demobilisierungslager. Drei weiße Zelte, ohne Betten, immerhin ausgelegt mit Holzpaletten, auf denen die zeitweiligen Bewohner Decken und Schlafsäcke ausgebreitet haben. Es gibt Toiletten und fließendes Wasser, durchaus ein Luxus für die aus »dem Busch« hervorgekommenen Rebellen. Nun sitzen sie in Goma, der an Ruanda grenzenden Provinzhauptstadt Nord-Kivus, und staunen über die weißen Geländewagen, die Satellitenschüsseln und die sauberen Uniformen ihrer Bewacher von den Vereinten Nationen, deren Bürocontainer die andere Hälfte des Ufergrundstücks einnehmen.

Zwei Jahre sind seit den Wahlen vergangen, die den Krieg in der DR Kongo beenden sollten. Seit fast zehn Jahren sind Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen in dem riesigen zentralafrikanischen Land stationiert, um den unsicheren Frieden zu überwachen. Aber der Osten des Landes, wo die Gewalt ihren Ausgang nahm, wird weiter von Krieg heimgesucht.

Die Kivu-Provinzen gleichen einem Tigerfell von Einflussgebieten. Goma und die Siedlungen entlang der Hauptverbindungsstraßen werden von der Regierung beherrscht, unterstützt von den Blauhelmen. Im näheren Umland entlang der ruandischen Grenze dominieren Rebellen, die der Regierung vorwerfen, die ethnische Gruppe der Tutsi zu diskriminieren. Etwas weiter entfernt, im unwegsamen Landesinneren, regieren Aufständische aus Ruanda, die eigentlich gegen die dortige Regierung angetreten waren, sich aber inzwischen in Kongo eingerichtet haben. Dazwischen existiert noch ein Dutzend so genannter May-May-Gruppen, örtliche Milizen, die behaupten, die Einheit des Landes zu bewahren.

Nachdem ein international angeschobener Friedensprozess zum Stillstand gekommen ist, droht nun ein neuer Waffengang, in den auch Ruanda, das Heimatland Jeans und Johns, eingreifen könnte. Seit Ende August kam es zu mehreren schweren Gefechten.

Flüchtling, Rebell und Kleinhändler

John und Jean haben rechtzeitig vor dem neuen Gewaltausbruch ihren Abschied genommen. Doch in ihren Biografien spiegeln sich die verzweigten Linien des Krieges, sie zeigen, wie die große Politik das Leben lenkt, so dass niemand zu urteilen vermag, ob die beiden Rebellen Täter oder Opfer sind.

»Als ich zwölf Jahre alt war, flüchteten wir aus Ruanda«, berichtet Jean. »Mein Vater starb an Cholera, der Rest der Familie überlebte in einem Flüchtlingslager.« Jeans Familie gehört zur Ethnie der Hutu, die in Ruanda die Bevölkerungsmehrheit bilden. 1994 wurde Ruanda von einer extremistischen Hutu-Clique regiert, die einen Massenmord an der Minderheit der Tutsi anstiftete. Fast eine Million Menschen kamen um. Doch schließlich eroberten Tutsi-Rebellen das Land. Aus Angst vor deren Rache flohen Millionen Hutu über die Grenze nach Kongo. Jean war einer von ihnen. In den Flüchtlingslagern um Goma organisierten sich die extremistischen Hutu-Gruppen erneut und begannen einen Guerillakrieg gegen die neuen Machthaber in Ruanda. »Als zwei Jahre später die neuen ruandischen Machthaber die Flüchtlingslager überfielen und auflösten, wurde ich von meiner Mutter getrennt«, rekapituliert Jean sein Schicksal. »Die Rebellen zwangen mich dazu, mit ihnen in den Busch zu gehen. Meine Familie kehrte nach Ruanda zurück.«

Jean erhielt eine Waffe und wurde ruandischer Rebell auf kongolesischem Boden. Als sich die Gruppe, die sich nun Front zur Befreiung Ruandas (FDLR) nannte, in Kongo festgesetzt hatte, konnte er sich sogar ein Haus bauen und einen kleinen Krämerladen einrichten. »Wenn es Kämpfe gab, war ich Rebell. In ruhigeren Zeiten betrieb ich Kleinhandel.«

Eines Tages aber kam seine Schwester aus Ruanda zu Besuch, um ihn heimzuholen. »Ich hatte bereits im Radio gehört, dass die Vereinten Nationen die Möglichkeit anbieten, uns nach Ruanda zurückzubringen. Aber ich hatte Angst: Wie würden sie in Ruanda mit mir umgehen, immerhin habe ich gegen sie gekämpft?« Jeans Schwester aber erzählte, dass die Regierung diejenigen Rückkehrer in Ruhe lasse, die nichts mit dem Völkermord zu tun hatten. Jetzt erwartet ihn seine Familie, er plant, wieder einen kleinen Laden zu eröffnen und Kühe zu halten.

Einige Tausend FDLR-Rebellen haben diesen Weg schon gewählt. Doch immer noch sollen sich rund 15 000 Kämpfer mit ihren Angehörigen in Kongo aufhalten. Eigentlich hat die FDLR einen Vertrag unterschrieben, der zu ihrer Auflösung führen sollte. Die UN-Mission vermutet jedoch, dass die Anführer nicht aufgeben wollen, da sie am Genozid in Ruanda beteiligt waren und bei einer Rückkehr Strafverfolgung befürchten müssen.

Jean floh daher bei Nacht und Nebel von seiner Truppe, gemeinsam mit seiner schwangeren Frau. Abzuhauen ist in Rebellengruppen genauso verboten wie in richtigen Armeen, im schlimmsten Fall droht die Todesstrafe. »Viele andere würden auch fliehen«, sagt Jean. »Aber manche haben Kinder. Dann ist es schwieriger.« Jean und seine Frau versteckten sich zwei Tage im Wald, bis sie auf eine Blauhelmpatrouille stießen.

»Habe ich etwas zu befürchten?«

Auch John musste heimlich fliehen, er versteckte sich gemeinsam mit einem Freund aus Burundi, auch ein Tutsi. Beide gehörten dem kongolesischen Nationalen Kongress zur Verteidigung des Volks (CNDP) an. Staatsgrenzen, sofern sie überhaupt je eine andere Bedeutung hatten, als koloniale Einflussgebiete voneinander zu trennen, sind durch den Krieg längst aufgeweicht worden.

Der 31-jährige John wurde vor drei Jahren von der CNDP rekrutiert, in seinem weit entfernt liegenden Dorf in Ruanda. Der CNDP beherrscht das kongolesische Grenzgebiet zu Ruanda und wird von der ruandischen Regierung halb verdeckt unterstützt. Praktisch wirkt der CNDP als eine Art Puffer, der die FDLR an direkten Angriffen auf Ruanda hindert. John behauptet ebenfalls, »zwangsrekrutiert« worden zu sein. Doch seine Aussage klingt wenig glaubwürdig: Einen erwachsenen Mann mitten in Ruanda zu kidnappen, das würde auch dem CDNP kaum gelingen. Vermutlich lockte ihn die Aussicht auf ein höheres Einkommen in die bewaffnete Gruppe. Zu Hause in Ruanda fristete er sein Dasein als Motorradtaxifahrer, ein Beruf, in den er nun zurückkehren will.

John ist deutlich schüchterner als Jean, er wägt seine Worte ab, spricht leise und zögernd. Denn er hat Angst: In seinem Dorf wartet keine Familie auf ihn, die fiel schon dem Genozid zum Opfer. John wird sich vor dem Dorfchef für seine unerlaubte Abwesenheit verantworten müssen. Die größte Gefahr aber droht wohl von den Leuten, die ihn als Verräter ansehen: Wie Johns Beispiel zeigt, kann der CNDP in Ruanda ungehindert Kämpfer anwerben. Kann und will die Rebellenführung auch einen Deserteur bis nach Ruanda verfolgen und bestrafen, um Nachahmer abzuschrecken? Bevor er auf die Pritsche des Lkw steigt, der ihn über die Grenze bringen wird, fragt er leise, so dass es die Umstehenden nicht hören können: »Habe ich etwas zu befürchten?«

Angst hat man in diesem Krieg nicht nur vor den Feinden, sondern, vielleicht sogar mehr, auch vor dem vermeintlich eigenen Lager, vor den Mächtigen, die vorgeben, ihre »Anhänger« zu beschützen.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Oktober 2008


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