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Trutzburg Nordkorea

Am 9.9.1948 rief Kim Il-Sung die Demokratische Volksrepublik Korea aus. US-Neocons würden den Staat am liebsten von der politischen Landkarte streichen

Von Rainer Werning *

Der Koreakrieg (1950 bis 1953), der erste »heiße« militärische Konflikt im Kalten Krieg, wirkt fort in der Teilung des Landes. Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende der West-Ost-Blockkonfrontation durchzieht die Halbinsel noch immer eine etwa 240 Kilometer lange »demilitarisierte Zone«. Ein Euphemismus ohnegleichen: Es ist dies die weltweit bestbewachte, höchstmilitarisierte und konfliktträchtigste Region. Dort stehen sich diesseits und jenseits des 38. Breitengrades waffenstarrend über eine Million Soldaten gegenüber - darunter bis vor kurzem noch über 37 000 in Südkorea stationierte US-amerikanische GIs.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Süden der koreanischen Halbinsel, die am 15. August 1948 entstandene Republik Korea, als »antikommunistischer Frontstaat« par excellence vom Westen aufgepäppelt und reichlich mit Wirtschafts- und Finanzhilfen bedacht. Die knapp einen Monat später gegründete Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) hingegen versuchte, einen eigenen, von Moskau und Peking gleichermaßen unabhängigen Weg einzuschlagen. Dschutsche (Schaffen aus eigener Kraft) hieß seine Variante autozentrierter Entwicklung, ein Konzept, das der Volksrepublik bis in die 1970er Jahre hinein - vor allem in zwischenzeitlich unabhängig gewordenen Ländern des Trikonts (Afrikas, Asiens, Lateinamerikas) - Bewunderung eintrug. Lange bevor das wegen seiner makroökonomischen Erfolge gepriesene »Modell Südkorea« international Anerkennung fand, stand das »Modell Nordkorea« im Trikont hoch im Kurs. Dort herrschte eine von Kim Il-Sung (1912-1994) geführte Regierung, die ihre Legitimation im langwierigen Partisanenkampf gegen die Kolonialmacht Japan (1910-1945) gewonnen hatte. Einstige projapanische Kollaborateure wurden entmachtet, und eine umfassende Agrarreform bescherte den Kleinbauern und Pächtern erstmalig die Möglichkeit, ein Leben jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung zu führen. Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung war ebenso gesichert wie eine solide (Aus-)Bildung, die eine gezielte Alphabetisierung und Erwachsenenbildung einschloß. All das kontrastierte stark mit den Entwicklungen in Südkorea. Dort hatte die »Schutzmacht« USA mit Rhee Syngman (1875-1965) einen Protegé installiert, der in der Bevölkerung höchst unbeliebt war und dessen Machterhalt sich einzig auf die Bajonette vormals projapanischer Elemente stützte. Widerstand und Dissens ließen Rhee und die US-Truppen martialisch niederknüppeln. Fortschrittliche Intellektuelle, Nationalisten und Sozialisten wurden verfolgt, so daß sich viele von ihnen zwischen 1946 und 1948 in den Norden abgesetzt hatten und dort ihre Zukunft sahen.

Ideeller Gesamtterrorist

Im Westen hingegen erregte der um den Staatsgründer Kim Il-Sung zunehmend entfachte Personenkult Abscheu. Und für westliche Beobachter, Politologen und Politiker blieb die Volksrepublik, was sie seit ihrer Gründung am 9. September 1948 war: bestenfalls terra incognita, in der Regel jedoch ein »Zombie-Staat«, »letzter poststalinistischer Gulag«, ein »Archipel Gulag im Fernen Osten« und »wirtschaftlich bankrottes Regime«, das sich nach außen als »unberechenbarer Schurkenstaat« gebärde und im Innern den Hungertod von Zehntausenden seiner Untertanen billigend in Kauf nehme. Kim Jông-Il, Sohn des 1994 verstorbenen Präsidenten auf Lebenszeit, figuriert in bundesdeutschen und internationalen Medien - milde ausgedrückt - als »Psychopath« und »Irrer mit der Bombe«, der sich nicht nur als resistent gegen die Einbettung Nordkoreas in die neoliberale Welt(un)ordnung erweist, sondern sich sogar erdreistete, mit Raketentests und dem Zünden einer eigenen Atombombe am 9. Oktober 2006 der Hegemonialmacht USA die Stirn zu bieten.

Erstmalig seit dem Koreakrieg waren die Protokollchefs in Seoul und Pjöngjang im Sommer 1994 damit befaßt, ein gemeinsames Gipfeltreffen der damaligen Präsidenten Kim Young-Sam und Kim Il-Sung vorzubereiten, als am 8. Juli plötzlich der »Große Führer« Kim Il-Sung verstarb. Flugs meldete sich eine Heerschar hochdotierter Analytiker diverser Denkfabriken, von der Londoner Economist Intelligence Unit bis hin zu Experten im Washingtoner State Department, zu Wort und machte Nordkorea als Hort ebenso erbitterter wie unkalkulierbarer Nachfolgekämpfe aus. Die Volksrepublik, so ihr Fazit, werde alsbald ebenso rasch implodieren wie zuvor die Sowjetunion und die Regime in Osteuropa.

Ein Trugschluß: Die politische Kontinuität der fortan um den Sohn des früheren Staats- und Parteichefs gruppierten Führungsschicht, in der die militärische und zivile Machtbalance zwischen alten Partisanen, im Ausland geschulten Kadern und autochthonen - das heißt im Lande selbst und dort vorrangig an der Kim-Il-Sung-Universität ausgebildeten - Führungskräften austariert bleibt, bewahrte das nordkoreanische Regime nicht nur vor einer Implosion, sondern stärkte es sogar. Erstmals seit dem Tode Kim Il-Sungs trat nach einer angemessenen staatlichen Trauerphase Anfang September 1998 das wenige Wochen zuvor neugewählte Parlament - die aus 687 Abgeordneten gebildete Oberste Volksversammlung (OVV) - zusammen. Damit beendete man Spekulationen über ein lähmendes Machtgerangel und stellte mit der Verabschiedung wegweisender Beschlüsse die Weichen für die Festigung des »Sozialismus in den eigenen Farben« und des »starken und gedeihenden Staates« (kangsòng taeguk) mit dem Militär als zentralem Machtpfeiler.

Kim Jông-Il vermochte seine politische Legitimität unter Berufung auf die Fortführung der Lehren seines Vaters zu stärken und schloß damit einen langjährigen, zielstrebigen Ausbau der eigenen Machtbasis ab, der mit Parteiaufgaben als Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der Partei der Arbeit Koreas (PdAK) in den Bereichen Kunst, Kultur und Propaganda in den 1970er und 1980er Jahren begonnen hatte. Im Dezember 1991 war Kim Jông-Il bereits zum Oberkommandierenden der Volksarmee ernannt worden und im April 1993 zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungskomitees avanciert - die Schlüsselstellung in der DVRK, weshalb Kim Jông-Il vorrangig in dieser Funktion genannt wird. Auf der Basis der 1992 geänderten Verfassung kontrolliert und kommandiert er mithin die gesamten Streitkräfte der Volksrepublik. Generalsekretär der PdAK wurde Kim formell dagegen erst im Oktober 1997. Der Posten des Präsidenten, des Staatsoberhauptes also, blieb nach dem Tode Kim Il-Sungs unbesetzt und wird gemäß der von der OVV 1998 erneut revidierten Verfassung auch künftig vakant bleiben. Statt dessen spricht die neu in die Verfassung aufgenommene Präambel von Kim Il-Sung als »ewigem Präsidenten« Nordkoreas, womit faktisch dieses vormals höchste Staatsamt abgeschafft wurde.

Prekäre Wirtschaftslage

Insgesamt spricht all das für eine bemerkenswerte Konsolidierung und Kontinuität des Regimes, das weniger eine politische Destabilisierung als vielmehr die Folgen einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise zu fürchten hat. Nordkorea erlebte in den vergangenen Jahren gleich mehrfach verheerende Naturkatastrophen mit Zehntausenden von Hungersnot geplagten Menschen. Eine prekäre Situation, die erschwert wird durch notorisch unausgelastete, überdies veraltete Produktionsanlagen, technologische Defizite in zahlreichen industriellen Sektoren sowie die seit Beginn der 1990er Jahre erfolgte Umstellung des Handels auf Devisenbasis mit den beiden wichtigsten Partnern Rußland und der VR China. Letztlich ist und bleibt Peking Nordkoreas engster Verbündeter. Eine Grundlage dafür ist die Waffenbrüderschaft, die es während des Koreakrieges gegeben hatte, in dem auch ein Sohn Mao Tse-tungs sein Leben verlor. Ein anderer Grund ist der Freundschafts- und Beistandspakt zwischen beiden Staaten vom 11. Juli 1961. Außerdem erhält Nordkorea vom großen Nachbarn Energieträger, Lebensmittel und andere notwendige Güter des täglichen Bedarfs.

Am 13. Juni 2000 genoß Nordkoreas Führung als Gastgeber des ersten innerkoreanischen Gipfels den geschichtsträchtigen Moment, daß die Staatschefs beider Teilstaaten, Kim Dae-Jung und Kim Jông-Il, - zwar offiziell noch im Kriegszustand! - Freundlichkeiten per Handschlag austauschten, über Familienzusammenführung und den Ausbau bilateraler Wirtschaftsbeziehungen redeten sowie regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister vereinbarten. Ein veritabler Durchbruch, der mit ausschlaggebend war, daß Kim Dae-Jung für seine seit Frühjahr 1998 dem Norden gegenüber praktizierte Entspannungspolitik, die er »Sonnenscheinpolitik« taufte, im Dezember 2000 den Friedensnobelpreis erhielt. Ein für allemal war in Seoul die Euphorie zerstoben, man werde sich aufgrund der eigenen haushohen wirtschaftlichen Überlegenheit früher oder später den Norden einverleiben. (Tatsächlich übertraf Mitte der 1990er Jahre das Bruttoso­zialprodukt Südkoreas dasjenige des Nordens um etwa das 20fache, während dieses Verhältnis in Deutschland zum Zeitpunkt der Vereinigung nur etwa acht im Westen zu eins im Osten betrug.) Da Südkorea seit der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise 1997 selbst in Schwierigkeiten geraten war, erwies sich der seinerseits gebeutelte Norden als Kröte, die jetzt keiner schlucken wollte.

Atompoker

Zweifelloser Höhepunkt Pjöngjanger Außenpolitik und Diplomatie war der Besuch von US-Außenministerin Madeleine Albright am 23./24. Oktober 2000, womit erstmalig in der Geschichte beider Länder ein derart hochrangiger Repräsentant der US-Regierung in der Volksrepublik weilte. Was zu Beginn des Jahres 2001 auf einen behutsamen Entspannungsprozeß auf der koreanischen Halbinsel hindeutete, wurde allerdings mit dem Amtsantritt George W. Bushs polternd beiseite geschoben. Als dieser den innerkoreanischen Dialog als naiv desavouierte und im Januar 2002 die »Achse des Bösen« - bestehend aus Nordkorea, Irak und Iran -erfand, entfesselte Pjöngjang ein propagandistisches Trommelfeuer. Im Staatsrundfunk und in der Rodong Shinmun, dem Zentralorgan der PdAK, brandmarkte man die USA als eine »Nation von Kannibalen« und warnte Washington vor provokativen Aktionen: »Sollten die US-Imperialisten die Konfrontation wagen, wird ihnen tausendfach Rache zuteil.«

Als im März 2003 US-Truppen in den Irak einmarschierten, um dort einen »Regimewechsel« zu erzwingen, läuteten in Pjöngjang die Alarmglocken. »Der trotz des Widerstandes der internationalen Gemeinschaft geführte Krieg in Irak hat gelehrt«, ließ die staatliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA verlauten, »daß eine Nation über eine angemessene militärische Stärke verfügen sollte, um ihre Souveränität zu verteidigen.« Seitdem beharrt Nordkoreas politische Führung - so wörtlich - »auf dem Recht, ein größtmögliches Abschreckungspotential zum Selbstschutz zu unterhalten«.

Der Initiative Pekings war es letztlich zu verdanken, daß im Rahmen der sogenannten Sechser-Gesprächsrunde [1] der schwelende Atomstreit mit Nordkorea deeskaliert werden konnte. Am 13. Februar 2007 gelang ein Durchbruch bei den Verhandlungen, als man sich im Kern auf folgende Punkte einigte: Nordkorea erhält Energielieferungen im Gegenzug zur Schließung des Atomreaktors in Yôngbyôn und gestattet erneut Inspektionen seitens der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA). In fünf Arbeitsgruppen (mit den Themen: Denuklearisierung, US-amerikanisch-nordkoreanische Beziehungen, nordkoreanisch-japanische Beziehungen, Wirtschaftskooperation, Friedens- beziehungsweise Sicherheitsmechanismus in Nordostasien) soll ein Friedensvertrag für die koreanische Halbinsel ausgehandelt werden, der das seit dem Ende des Koreakriegs noch immer bestehende Waffenstillstandsabkommen ersetzt.

Washington stimmte der Vereinbarung durch seinen Emissär Christopher R. Hill zu. Hill erklärte, mit Pjöngjang würden bilaterale Verhandlungen mit dem Ziel aufgenommen, alsbald volle diplomatische Beziehungen herzustellen. Beide Länder wollten auch darauf hinarbeiten, daß Nordkorea von der US-Liste der Staaten genommen werde, die den Terrorismus unterstützen. Trotz noch anhaltender Querelen um Nordkoreas Nuklearprogramm, hat sich die politische Führung in Pjöngjang 60 Jahre nach Bestehen der Volksrepublik ein herziges Selbstgeschenk gemacht. Immerhin gelang es der nordkoreanischen Diplomatie, wenn schon nicht international als Freund geachtet, so doch wenigstens als Feind auf Augenhöhe anerkannt zu werden und mit Washington direkt zu verhandeln.

Anmerkung
  1. Neben Gastgeber China gehören ihr Rußland, Japan, die beiden Korea sowie die USA an

Zur Dschutsche-Ideologie

Die Erfahrungen langjähriger kolonialer Herrschaft lehrte die Partisanengruppe um Kim Il-Sung, den langjährigen »Großen Führer« Nordkoreas, sich auch innerhalb der von Moskau und Peking dominierten internationalen Arbeiter- und kommunistischen Weltbewegung keinem der beiden Lager zuzuordnen. Äquidistanz war oberstes Gebot, wenngleich Pjöngjang stets bemüht war, von beiden Seiten gleichermaßen zu profitieren - im Sinne des größtmöglichen Wohls der Volksrepublik und des eigenen Machterhalts. Nordkorea war auch nie Mitglied im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). In Politik, Wirtschaft und Kultur setzte die politische Führung auf Souveränität und einen eigenen Kurs.

Kim Il-Sung erwähnte den Begriff Dschutsche als von ihm begriffene Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus erstmals in einer Rede auf einer Versammlung der PdAK am 28. Dezember 1955. Am 4. November 1974 formulierte er die philosophische Basis der Dschutsche-Ideologie: »Die Dschutsche-Ideologie bedeutet, daß die Volksmassen der Herr in der Revolution und beim Aufbau sind, daß sie als die treibende Kraft dabei auftreten. Mit anderen Worten, diese Ideologie bedeutet, daß jeder selbst Herr seines Schicksals ist, daß jeder auch die Kraft besitzt, sein Schicksal zu entscheiden. Die Dschutsche-Ideologie beruht auf dem philosophischen Grundsatz, daß der Mensch der Herr aller Dinge ist und er über alles entscheidet.«

Nach Kim Il-Sungs Tod im Juli 1994 hat sein Sohn und Nachfolger Kim Jong-Il (Foto) die Dschutsche-Ideologie weiterentwickelt und vor allem die Rolle des »Führers« (Suryong) präzisiert. Bereits in seinem 1982 veröffentlichten Buch »Über die Dschutsche-Ideologie« sprach Kim Jong-Il von »den drei Attributen des Menschen« - Souveränität, Bewußtsein und Schöpfertum -, was seitdem gemäß den Dschutsche-Ideologen als die neue philosophische Erhellung des Wesens des Menschen in der philosophischen Geschichte der Welt gilt.

In marxistisch-leninistischer Sicht gilt die Dschutsche-Ideologie als eine Ausprägung des Idealismus. In der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Bewußtsein und der Materie betont sie übermäßig das Bewußtsein, während der Marxismus-Leninismus vom Primat der Materie vor dem Bewußtsein ausgeht. Auch was die Rolle des »Führers« betrifft, geht letzterer von einer »Partei neuen Typs« als Avantgarde im revolutionären Kampf aus, während Kim Jong-Il ihn als notwendiges »Zentrum«, als »Kopf und Hirn der Volksmassen« sieht.



* Aus: junge Welt, 9. September 2008


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