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Kontinuierliche Konfrontationen

Hintergrund. Nach einem Jahrzehnt der »Sonnenscheinpolitik« auf der koreanischen Halbinsel verhärten sich die Fronten immer mehr

Von Du-Yul Song *

Dieser Tage erscheint im Wiener Promedia Verlag ein Band über Korea, der die jüngere Geschichte des geteilten ostasiatischen Landes darstellt. In sechs Kapiteln zeichnen die Autoren Du-Yul Song und Rainer Werning – beide ausgewiesene Kenner der Materie – die politisch-historische Entwicklung Koreas im vergangenen Jahrhundert analytisch und anhand aufrüttelnder Aussagen von Zeitzeugen nach. Wir veröffentlichen aus dem Buch vorab Auszüge aus dem fünften Kapitel: »Andauernder Atomkonflikt oder Die schwierige Suche nach neuen Freundbildern (2008–2012)«.
Der Soziologe Prof. Du-Yul Song ist Verfasser mehrerer Monographien in deutscher und koreanischer Sprache und einer der Hauptinitiatoren des südkoreanisch-nordkoreanischen Wissenschaftleraustausches. Bis zu seiner Einbürgerung in Deutschland (1993) war er südkoreanischer Staatsbürger. Im September 2003 folgte er nach 37 Exiljahren einer offiziellen Einladung der Stiftung für Demokratie und des Koreanischen Philosophenverbandes nach Seoul, wo er aber aufgrund des Nationalen Sicherheitsgesetzes inhaftiert wurde. Infolge weltweiter Proteste wurde er nach einem Berufungsurteil im Juli 2004 freigelassen.
Dr. Rainer Werning ist Politikwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien. 1986 begründete er das »Korea Forum« und war von 2003 bis 2007 Vorstandsvorsitzender des Korea-Verbands e.V. (Berlin). Gegenwärtig arbeitet er u.a. als Lehrbeauftragter am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn. Er veröffentlicht regelmäßig in jW.


»Denuklearisierung, Öffnung und 3000«: Mit diesen Schlagworten skizzierte Südkoreas aktueller Präsident Lee Myung Bak seine Nordkorea-Politik während des Wahlkampfs Ende 2007. Wenn die Machthaber in Pjöngjang bereit seien, ihr Atomprogramm aufzugeben und die Gesellschaft der Volksrepublik nach außen hin zu öffnen, so Lee, sei Südkorea im Gegenzug bereit, innerhalb von zehn Jahren massive wirtschaftliche Hilfe bereitzustellen. Damit solle das jährliche Pro-Kopf-Einkommen im Norden die Grenze von umgerechnet 3000 US-Dollar überschreiten. Die politische Führung in Pjöngjang reagierte verärgert auf dieses Angebot – die Eiszeit zwischen den beiden Staaten brach neuerlich an. (…)

Mysteriöser Schiffsuntergang

Als die südkoreanische Korvette »Cheonan« am 26. März 2010 südwestlich der Baeknyeong-Insel im Gelben Meer unterging, beschuldigten Südkorea und die USA die nordkoreanische Marine, das Schiff mit einem Torpedo versenkt zu haben. Fast acht Wochen später gelangte ein von Südkorea einberufenes internationales Ermittlerteam zu dem Schluß, Nordkorea habe tatsächlich die 1200-Tonnen-Korvette nahe der innerkoreanischen Seegrenze mit einem Torpedo beschossen. Sofort erklärte Südkoreas Präsident Lee die offizielle Entschuldigung des Nordens für das Versinken der »Cheonan« als Vorbedingung sowohl für die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Süd- und Nordkorea als auch für einen neuen Anlauf der Sechsparteiengespräche zur Lösung der nordkoreanischen Atomfragen. Nordkorea bestritt kategorisch, für das Sinken der »Cheonan« verantwortlich gewesen zu sein und wertete den Vorfall als eine Eigeninszenierung des Südens. Nordkorea lehnte ebenso entschieden eine Entschuldigung ab und forderte gleichzeitig die Bildung einer gemeinsamen Untersuchungskommission.

Auch Rußland und China zweifelten das Ergebnis des von Südkorea eingesetzten internationalen Untersuchungsteams an. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Berichts bemerkten zahlreiche internationale Experten, daß die Korvette ausgerechnet in einem Teil des Gelben Meeres unterwegs gewesen sei, in dem der Wasserstand besonders niedrig ist. Normalerweise würden nur kleine Schnellboote in dieser Gegend patrouillieren. Aus diesem Grund gingen die Experten beim Untergang der »Cheonan« von einem selbstverschuldeten Unfall aus, der während einer Geheimmission der Korvette passiert sei. Demnach lag die Ursache des Unglücks nicht in der Explosion aufgrund eines nordkoreanisches Beschusses, sondern in einer Havarie. Fast sechzig Prozent der Südkoreaner äußerten sich im Zuge von Umfragen skeptisch über die regierungsoffizielle Version.

Der mysteriöse Untergang des Kriegsschiffes vergiftete das innerkoreanische Klima dermaßen, daß eine Normalisierung der Beziehungen während der restlichen Amtszeit Lee Myung Baks nahezu unmöglich scheint. Bereits vor diesem Vorfall hatte eine totale Abkehr von der »Sonnenscheinpolitik« und der »Politik für Frieden und Prosperität« begonnen: Denn Lee Myung-Bak versuchte, unmittelbar nach der offiziellen Amtsübernahme am 25. Februar 2008, das Ministerium für Vereinigung mit dem Argument abzuschaffen, dessen Aufgaben könne ebensogut das Außen- und Außenhandelsministerium übernehmen. Diesen Plan mußte er aber aufgrund massiver öffentlicher Kritik zurückziehen. Am 11. Juli 2008 wurde eine südkoreanische Touristin während einer Tour durch das Keumgang-Gebirge entlang der militärischen Sperrzone erschossen. Diesen Zwischenfall nahm die südkoreanische Regierung sofort zum Anlaß, das gemeinsam mit dem Norden betriebene Tourismusprojekt zu beenden. Die negativen Konsequenzen blieben in der Folgezeit nicht allein auf die Tourismusbranche beschränkt. Auf Eis gelegt wurden ebenfalls die geplanten Maßnahmen für zehn gemeinsame Bergbauprojekte zwischen dem ressourcenarmen Süden und dem an Bodenschätzen reichen Norden. Nutznießer der südkoreanischen Embargopolitik gegenüber dem Norden ist die Volksrepublik China, die Rohstofflieferungen auch aus Nordkorea dringend benötigt. Das Exportvolumen nordkoreanischer Bergbauprodukte nach China verdreifachte sich von umgerechnet 300 Millionen US-Dollar im Jahre 2005 auf 900 Millionen im Jahre 2009. Die südkoreanischen Investoren im Gaeseong Industrial Complex (GIC) beklagen nun offen, das Ministerium für Vereinigung in Seoul sei verantwortlich für die gescheiterte Aussöhnung zwischen Nord und Süd.

Eine Kehrtwende seit dem Machtwechsel (in Seoul, jW) läßt sich auch im militärischen Bereich feststellen. Seit 2008 wird das jährlich (zumeist im März und April) stattfindende Militärmanöver »Key Resolve« mit großer Beteiligung amerikanischer Truppenverbände durchgeführt, das die vorherigen gemeinsamen Manöver »Team Spirit« (1978–93) und »Reception, Staging, Onward Movement, Integration« (RSOI, 1994–2007) ablöste. Obwohl die USA und Südkorea stets den rein defensiven Charakter solcher Militärübungen betonen, kritisiert die nordkoreanische Führung, daß es sich bei »Key Resolve« um nichts anderes als um »militärische Eroberungsspiele des nordkoreanischen Territoriums« handelt. Diesem Zweck dient nach Ansicht Pjöngjangs auch das seit 2008 jeweils im August und September durchgeführte Manöver »Ulchi Freedom Guardian«.

Nach dem nordkoreanischen Artilleriefeuer auf die Insel Yonpyong am 23. November 2010 und den daraus resultierenden Spannungen wurde dennoch das Manöver »Key Resolve 2011« im Zeitraum vom 28. Februar bis 10. März 2011 durchgeführt. Es stellte auch eine Übung zur Beseitigung der nordkoreanischen Massenvernichtungswaffen dar, an der ebenfalls eine US-Einheit, das im Irak-Krieg eingesetzte 20. Unterstützungskommando, teilnahm. Die Militärübungen sorgten nicht nur seitens Nordkoreas für scharfe Proteste, sondern ließen auch in Peking die Alarmglocken schrillen. China reagierte besonders scharf auf die Entsendung des US-Flugzeugträgers »George Washington« zur Unterstützung von »Key Resolve 2011«, weil von diesem aus die gesamten militärischen Operationen der chinesischen Armee in den Küstengebieten der Volksrepublik beobachtet werden können. (…)

Falsche Hinrichtungen

Seit der Amtsübernahme Lee Myung Baks im Februar 2008 mischt sich die südkoreanische Regierung auch aktiv in die Menschenrechtsfragen in Nordkorea ein. Im Gegensatz dazu hatten sich die Regierungen von Kim Dae Jung und Roh Moo Hyun bei ihrer Stellungnahme zu den UN-Jahresberichten über die Menschenrechtssituation in der Volksrepublik stets ihrer Stimme mit der Begründung enthalten, daß sie das nordkoreanische Regime nicht öffentlich an den Pranger stellen wollten. Dies sei der beste Weg, um im Norden tatsächliche Verbesserungen zu erzielen.

Die südkoreanische Regierung versucht auch, die bisherige Rolle der »Staatlichen Kommission für die Menschenrechte« umzufunktionieren, damit sich diese in erster Linie mit Menschenrechtsfragen im Norden befaßt. Aus Protest gegen diese Absichten der Regierung legte der Kommissionsvorsitzende vorzeitig sein Amt nieder. Die Verabschiedung des »Gesetzes für die Menschenrechte in Nordkorea« ist bis dato durch Widerstände der parlamentarischen Opposition mit dem Argument blockiert, das Gesetz vergifte das innerkoreanische Versöhnungsklima – mit womöglich unwiderruflichen Konsequenzen. Ein gleichnamiges Gesetz wurde in den Vereinigten Staaten im Jahre 2004 mit der Mehrheit der Republikaner sowohl vom US-Kongreß als auch vom US-Senat verabschiedet. In Japan wurde ebenfalls ein ähnliches Gesetz am 23. Juni 2006 vom Parlament beschlossen.

Die Daten und Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea stammen meistens von Flüchtlingen aus dem Norden. Der Wahrheitsgehalt oder die Richtigkeit der Informationen sind daher schwer nachzuprüfen. Viele der Auskünfte basieren auf Hörensagen. Eine Meldung aus der jüngsten Vergangenheit, die von zahlreichen ausländischen Nachrichtenagenturen kolportiert wurde, war jene über die Hinrichtung von Park Nam Ki, Chef des Wirtschafts- und Finanzkomitees der herrschenden Partei der Arbeit Koreas. Er sei für das Scheitern der Währungsreform vom 1. Dezember 2009 verantwortlich gemacht und im März 2010 vor Zuschauern exekutiert worden, wie es beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Bericht in ihrer Ausgabe vom 18. März 2010 meldete. (…)

Diese weltweit verbreitete Nachricht erwies sich als Falschmeldung. Park zeigte sich nicht nur quicklebendig, sondern besitzt weiterhin einen wichtigen Posten im Finanzressort der Partei. In dieser Funktion bereiste er auch häufig westeuropäische Länder. Ein weiteres Beispiel aus Japan offenbart, wie sogenannte Fakten über Nordkorea fabriziert werden: Am 10. Juni 2010 zeigte der Sender »Asahi-TV« ein angeblich aktuelles Foto des designierten Nachfolgers von Kim Jong Il. Doch anstelle des nächsten Machthabers in der Volksrepublik war darauf ein in Wahrheit unbeteiligter Südkoreaner abgebildet. Umgehend meldete sich dieser beim Fernsehsender, und tatsächlich folgte am nächsten Tag eine Entschuldigung der Redaktion. Offizielle Eingeständnisse sind in solchen Fällen aber eher die Ausnahme als die Regel. Meistens ignorieren die Medien ihre eigenen Falschmeldungen oder schieben Nordkorea den Schwarzen Peter zu. Die Geheimnistuerei des nordkoreanischen Regimes sei verantwortlich, daß derartige Falschmeldungen überhaupt entstünden.

Doch die Fehler (quellen) sind wesentlich im politischen Weltbild Südkoreas und des Westens zu suchen. Zudem stehen zahlreiche südkoreanische Aktivisten, die sich für Menschenrechtsfragen im Norden engagieren, in hartem Konkurrenzkampf untereinander, um an Finanz- und Fördermittel der südkoreanischen Regierung beziehungsweise der »Nationalen Stiftung für Demokratie« (»National Endowment for Democracy«, NED) in Washington zu kommen. Aus diesem Grund setzen sie häufig sensationslüsterne Meldungen über Nordkorea in Umlauf, wenn die »Aktualität« dies gerade gebietet. Südkoreanische Journalisten, die mit Nordkorea vertraut sind, behaupten daher, nur ein Viertel der Informationen solcher Aktivisten und nordkoreanischer Flüchtlinge besäße Wahrheitsgehalt. Um mit Edward Said zu sprechen: Nordkorea ist »zu dem zu machen, was und wie es sein sollte«.

Mißtrauen regiert

Als der ehemalige US-Präsident James Carter in Begleitung weiterer früherer Staats- und Regierungschefs (dem ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari, der einstigen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland und der vormaligen irischen Präsidentin Mary Robinson) am 26. April 2011 Pjöngjang besuchte, meinte der südkoreanische Außenminister dazu, er erwarte von der Reise nicht besonders viel – und vermittelnde Dritte würden nicht benötigt. Dennoch überbrachte Carter im Anschluß an den dreitägigen Besuch die Botschaft des nordkoreanischen Führers, dieser sei jederzeit zu einem Treffen mit dem südkoreanischen Präsidenten Lee Myung Bak bereit.

Nordkorea wird die von der südkoreanischen Regierung gestellte Bedingung für die Wiederaufnahme von Gesprächen – eine Entschuldigung für das angebliche Versenken der südkoreanischen Korvette »Cheonan« im März 2010 sowie für den Artilleriebeschuß der Insel Yonpyong im November desselben Jahres – nicht akzeptieren. Dementsprechend ist es kaum vorstellbar, daß die nordkoreanische Führung dem von Lee Myung Bak vorgeschlagenen Prozeß – zuerst Denuklearisierungsgespräche zwischen Süd- und Nordkorea, darauffolgend Gespräche zwischen Pjöngjang und Washington und schließlich eine neue Runde der Sechsparteiengespräche – in dieser Abfolge zustimmt. Seoul ist stets von der Furcht besessen, es könne quasi hinter seinem Rücken zu Direktverhandlungen zwischen den USA und Nordkorea kommen. Nordkorea wiederum betrachtet Südkorea als einen Störenfried auf dem Weg zur Normalisierung zwischen Pjöngjang und Washington. Die südkoreanischen Regierungen unter Kim Dae Jung und Roh Moo Hyun, die die jetzige Regierung für das »verlorene Jahrzehnt« verantwortlich gemacht hat, versuchten zumindest, die Isolation des Nachbarlandes durch das Bush-Regime zu dämpfen.

Die innerkoreanischen Beziehungen werden sich während der Amtszeit Lee Myung Baks, die am 24. Februar 2013 endet, kaum normalisieren. Seine Nordkorea-Politik ging und geht von der Prämisse aus, das System im Norden werde ohnehin in naher Zukunft zusammenbrechen, so daß eine rationale Politik gegenüber dem Nachbarn nicht notwendig sei. Mit dem Argument, die »Sonnenscheinpolitik« hätte nur das Fehlverhalten des Nordens belohnt, hat sich die südkoreanische Regierung letztlich die Hände gebunden.

Schicksalsjahr 2012

Das Jahr 2012 wird für beide Teile der Halbinsel politisch gleichermaßen bedeutsam sein. Im Süden wird Ende des Jahres ein neuer Präsident gewählt, während sich in Nordkorea die neue Führungsfigur Kim Jong Un noch bewähren muß. Zudem stehen im April dieses Jahres große Feierlichkeiten anläßlich des 100. Geburtstags des 1994 verstorbenen Staatsgründers Kim Il Sung an.

Westliche Beobachter prophezeien eine Instabilität der Macht unter Kim Jong Un aufgrund seiner mangelnden Legitimität. Eine solche Analyse übersieht aber das tatsächliche Machtgefüge in Nordkorea. Zwar besitzt Kim Jong Un nicht das Charisma seines Vaters und Großvaters. Doch die neue Führung in Pjöngjang steht ganz im Zeichen eines Generationenwechsels. Zur Kerngruppe der Macht gehören die Kinder der Partisanen um Kim Jong Uns Großvater Kim Il Sung. Diese halten in Treue zu seinem Vater Kim Jong Il, was zumindest zur mittelfristigen Konsolidierung der neuen Macht beiträgt. (…)

Der Süden steht 2012 ganz im Zeichen der Präsidentschaftswahlen. Passiert bis zum Wahltag am 19. Dezember 2012 nichts Außergewöhnliches, wird die nächste Präsidentin Südkoreas aller Voraussicht nach Park Geun Hae heißen, die älteste Tochter des im Oktober 1979 vom eigenen Geheimdienstchef ermordeten Präsidenten Park Chung Hee. Obwohl sie innerhalb der Regierungspartei Hannara nicht unumstritten ist, gibt es zur Zeit keinen nennenswerten innerparteilichen Konkurrenten. In den Meinungsumfragen weist sie einen Stimmenvorsprung von mehr als 20 Prozent gegenüber möglichen Gegenkandidaten sowohl in der eigenen Partei als auch gegenüber den Herausforderern der Opposition auf. Zwar wünscht sich die Mehrheit der Wähler einen Machtwechsel, aber im oppositionellen Spektrum findet sich augenscheinlich kein geeigneter Kandidat.

Die Tochter des Diktators genießt also noch hohes Ansehen, wenngleich sie im Jahre 2007 bei den parteiinternen Vorwahlen unerwartet gegen den jetzigen Präsidenten Lee verlor. Einer der Gründe für ihre ungebrochen große Popularität unter den Wählern liegt darin, daß ihr Vater als Begründer des südkoreanischen Wirtschaftswunders gilt. Außerdem spielt die Heimatprovinz ihrer Familie, die Südostprovinz Kyongsang, eine dominante Rolle bei der Auswahl politischer Entscheidungsträger. Neben der regionalen Herkunft sind schulische und verwandtschaftliche Faktoren ausschlaggebend dafür, in die Phalanx der herrschenden Elite aufzurücken. Pikanterweise könnte es geschehen, daß im Jahre 2012 die Koreaner im Süden die Tochter eines Expräsidenten zu ihrem Staatsoberhaupt wählen, während den Koreanern im Norden der Sohn des vormaligen Staatschefs vorsteht. Insofern nähern sich – unabhängig von Differenzen in der jeweils herrschenden Ideologie – beide Systeme einander an. (…)

Neuer Dialog in Aussicht?

Seit dem Sommer 2011 hat sich in der südkoreanischen Innenpolitik einiges getan. Zwischen dem Oberbürgermeister von Seoul, Oh Se Hoon von der regierenden Hannara-Partei, und der mehrheitlich von den Oppositionsparteien beherrschten Bürgerschaft der Hauptstadt kam es zu Auseinandersetzungen um die Einführung allgemeiner kostenloser Schulspeisen. Bürgermeister Oh lehnte diese mit dem Argument ab, daß sie einen Engpaß des Haushalts verursachten und kritisierte sie als »Wohlfahrtspopulismus«. Die Entscheidung darüber verband er mit der Oberbürgermeisterwahl am 24. August 2011. Bis dahin war Oh einer der möglichen Kandidaten der Regierungspartei bei der nächsten Präsidentenschaftswahl im Dezember 2012 gewesen. Falls ein Drittel der Wählerschaft der Hauptstadt nicht gegen die Einführung der umstrittenen Schulspeisung votieren würde, wolle er von seinem Amt zurücktreten. Die politisch hochbrisante Wette verlor er jedoch.

In der Nachwahl für das Oberbürgermeisteramt am 26. Oktober 2011 stand der parteilose Bürgerrechtler Park Won Soon der wohlhabenden Rechtsanwältin Nah Kyung Won aus der konservativen Regierungspartei gegenüber. Park wurde nicht nur von zivilgesellschaftlichen Kräften favorisiert, sondern auch von einigen Oppositionsparteien. Vor allem wurde er von einem derzeitigen Idol für die junge Generation in Südkorea, dem 49jährigen erfolgreichen Geschäftsmann aus der IT-Branche Ahn Chul Soo, tatkräftig unterstützt. Die Wahl ging an Park – eine empfindliche Niederlage für die konservativen Kräfte.

Die 20- bis 40jährigen, die neuerdings in Südkorea mit dem Kürzel »2040« bezeichnet werden, verabschieden sich zunehmend von dem bisherigen unfähigen, korrupten Parteiensystem und suchen eine Alternative jenseits des herrschenden politischen Gefüges. Neben dem Versagen in der Kommunikation mit den Bürgern und in der Beschäftigungspolitik war auch der dauerhafte Boykott der Entspannungspolitik durch die jetzige konservative Regierung für das Wahldesaster verantwortlich.

Das Idol der jungen Generation Ahn Chul Soo ist nach vielen Umfragen gegenwärtig der einzige Kandidat, der in der nächsten Präsidentenwahl im Dezember 2012 die bislang für unschlagbar gehaltene Kandidatin Park besiegen könnte. Zwar hat er bis jetzt seine Ambition für das höchste Amt des Landes nicht öffentlich verlautbart, aber der ganze konservative Herrschaftsblock scheint in Panik versetzt. Inzwischen haben sich die Anzeichen für die Spaltung der regierenden konservativen Partei – die sich vor kurzem in Saeuri (Neue Welt)-Partei umgetauft hat – zwischen den Anhängern des derzeitigen Präsidenten und jenen der wahrscheinlichen Kandidatin Park für das Präsidentenamt vermehrt, während zwei wichtige Zusammenschlüssse innerhalb des Oppositionslagers – die »Vereinte Demokratische Partei« und die »Vereinte Progressive Partei« – zustande gekommen sind. Die neu gewählte Vorsitzende der größeren »Vereinten Demokratischen Partei«, Han Myung Sook, amtierte als erste Ministerpräsidentin in Südkorea während der Amtszeit des Präsidenten Roh Moo Hyun, so daß Beobachter bei der nächsten Präsidentenwahl ein politisches Duell zwischen zwei Frauen oder zwischen Park und Moon Jae In aus Busan – einem der engsten politischen Freunde des verstorbenen Präsidenten Roh Moo Hyun – vorhersagen und die Kandidatur Ahns daher eher für unwahrscheinlich halten.

Angesichts einer solchen unerwarteten, neuartigen Entwicklung im Süden scheint es, als müsse Nordkorea nur den Tag der Präsidentenwahl am 19. Dezember 2012 im Süden abwarten, um einen neuen Dialog beginnen zu können.

Vorabdruck aus:
Du-Yul Song/Rainer Werning: Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land, Promedia Verlag, Wien 2012, 208 Seiten, brosch., 15,90 Euro
(erscheint zur Leipziger Buchmesse)

* Aus: junge Welt, 9. März 2012


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