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Koreas "Traumfabrik"

Know-how Süd und Arbeitskräfte Nord: Beim zweiten Gipfeltreffen steht auch der Besuch des Gaeseong Industriekomplexes auf dem Programm

Von Rainer Werning *

Unweit des 38. Breitengrads und der sogenannten Entmilitarisierten Zone (DMZ) liegt die nordkoreanische Stadt Gaeseong. Diese war vor gut fünf Jahrzehnten –während des Koreakrieges (1950–53) –gleich mehrfach ins Fadenkreuz heftigster Artillerieattacken geraten und größtenteils zerstört worden. Ausgerechnet dort befindet sich heute mit dem Gaeseong Industrial Complex (GIC) ein Kronjuwel der innerkoreanischen Kooperation, wovon noch vor einem Jahrzehnt kaum jemand zu träumen gewagt hätte. Im GIC ist Südkorea mit Kapital und technologischem Know-how präsent, während der Norden Grund und Boden sowie vergleichsweise billige Arbeitskräfte bereitstellt. Treffen auch nur annähernd die Prognosen von Experten diesseits und jenseits des 38. Breitengrads zu, dürfte der Industriekomplex zum gigantischen Laboratorium eines auch innerhalb der Volksrepublik langfristig weitreichenden ökonomischen Transformationsprozesses werden. Im Verlauf ihres zweiten Gipfeltreffens vom 2. bis 4. Oktober werden die Staats- und Regierungschefs beider Länder auch das GIC besuchen.

An dessen Anfang stand das erste Gipfeltreffen zwischen dem damaligen Staatspräsidenten Südkoreas, Kim Dae-Jung, und seinem KDVR-Kollegen Kim Jong-Il Mitte Juni 2000 in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang. Dort wurde am 15. Juni 2000 die »Gemeinsame Nord-Süd-Erklärung« unterzeichnet, die eine enge Zusammenarbeit auf nahezu sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens vorsah. Im wirtschaftlichen Bereich wurde nach intensiven Beratungen vereinbart, eben diesen GIC aufzubauen. Im April 2004 trafen schließlich das südkoreanische Unternehmen Hyundai Asan und das Asia-Pacific Peace Committee Nordkoreas ein entsprechendes Abkommen. Demnach verpachtete die nordkoreanische Seite ein insgesamt 66,1 Quadratkilometer großes Areal für 50 Jahre. Dies soll in drei Phasen entwickelt werden. Das Pilotprojekt, das noch in diesem Jahr abgeschlossen sein wird, umfaßt eine Fläche von 3,3 Quadratkilometern.

Waren 2004 zwei Firmen im GIC tätig, so betrug deren Zahl im Frühjahr 2006 bereits 15. Meist handelt es sich um mittelständische südkoreanische Unternehmen. Die erste Firma, die dort ihre Pforten öffnete, war mit Living Art ein Unternehmen, das Küchenartikel für den südkoreanischen Markt produzieren läßt. Ende 2004 wurden im Industriekomplex Waren im Wert von umgerechnet 14 Millionen US-Dollar produziert, drei Jahre später soll sich das Volumen bereits auf zirka zwei Milliarden Dollar belaufen. Die Zahl der dort beschäftigten nordkoreanischen Arbeiterinnen und Arbeiter soll sich von derzeit etwa 20000 auf insgesamt 730000 im Jahr 2012 erhöhen. Die im GIC gezahlten Monatslöhne liegen zwischen umgerechnet 57,50 bis 75 US-Dollar und sind damit denen in China (abgesehen von den Sonderwirtschaftszonen an der Südküste) und in Vietnam gezahlten vergleichbar. Bei Überstunden erhalten die Beschäftigten einen Bonus von 50 bis 100 Prozent. Während das südkoreanische Vereinigungsministerium die Arbeiter gern direkt ausbezahlt sähe, vermochte die nordkoreanische Seite eine temporäre Lösung durchzusetzen. Diese sieht vor, daß die Arbeiter ihre Lohnabrechnungen lediglich überprüfen, sie unterschreiben und danach nordkoreanische Won ausbezahlt bekommen. Geplant ist, im GIC zumindest Geldwechselstuben einzurichten, womit die südkoreanische Seite die Erwartung verbindet, daß es zur direkten Lohnauszahlung an die Beschäftigten kommt.

Am 15. März 2006 wurden im Osten und Westen der DMZ zwei Bahn- und Straßenverbindungen mit entsprechenden Checkpoints auf südkoreanischer Seite eröffnet, um zu ermöglichen, daß bald bis zu 4,3 Millionen Menschen jährlich die Volksrepublik besuchen können. Im Jahre 2003 passierten gerade einmal 3600 Personen und 1200 Fahrzeuge die Grenze im Westen, während es zwei Jahre später bereits 66000 beziehungsweise 38000 waren. Kräftig ist im Zuge dieser Entwicklung auch der innerkoreanische Handel gestiegen. 1998 betrug er umgerechnet 222 Millionen US-Dollar, im Jahre 2005 waren es bereits 1,055 Milliarden Dollar – Tendenz steigend. Mittlerweile ist Südkorea nach der Volksrepublik China der zweitgrößte Handelspartner Nordkoreas.

Am 27. Februar 2006 lud der Korean Overseas Information Service 120 in Seoul akkreditierte ausländische Journalisten zu einem Tagestrip in den GIC ein. Die Presseresonanz war überwiegend positiv, teilweise euphorisch, so daß man gern den Ausspruch südkoreanischer Politiker aufgriff, der GIC sei »eine Traumfabrik des Friedens und gemeinsamen Wohlstands«. Zweifellos ist mit dem Industriekomplex der Grundstein für eine Nord-Süd-Annäherung gelegt, die florieren dürfte, wenn der Streit um Nordkoreas Nuklearprogramm und seine Raketentests endgültig beigelegt wäre. Dann vermag ein, wenn schon nicht vereintes, so doch zumindest einiges Korea mit einem von Busan im Süden bis nach Sinûiju im Nordwesten (an der chinesischen Grenze) wiederhergestellten Eisenbahnnetz wichtige Impulse für ein langfristiges Projekt zu geben – einen nordostasiatischen Gemeinsamen Markt inklusive der Einbindung Ostchinas und Rußlands.

* Aus: junge Welt, 2. Oktober 2007


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