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Die surreale Welt des Häftlings Nummer 65

Südkorea: Zum politischen Prozess gegen den deutsch-koreanischen Hochschullehrer Song Du-Yul in Seoul

In Seoul steht seit Wochen der koreanisch-deutsche Professor Song Du-yul vor Gericht. Ihm werden vom südkoreanischen Geheimdienst unerlaubte Kontakte zu Nordkorea vorgeworfen. Der Soziologe Jürgen Habermas hat sich in einem Brief an das Gericht für den koreanischen Wissenschaftler eingesetzt. Die Frankfurter Rundschau berichtet am 23. Dezember 2003, in dem Brief äußerte Habermas die Sorge, dass Song zum Spielball innenpolitischer Querelen werde. Song, der bei Habermas studiert hat, sei ein untadeliger Wissenschaftler und Demokrat.
Im Folgenden dokumentieren wir einen ausführlichen Bericht des Journalisten Rainer Werning, der den Prozess in Seoul verfolgt und dort selbst als Zeuge aussagen wird. Der Bericht erschien in zwei Folgen in der Tageszeitung "junge Welt" am 6. und 7. Januar 2004.


Notizen eines Prozeßbeobachters

Von Rainer Werning, Seoul

Eine Rückkehr nach Maß hätte es sein sollen. Statt dessen wurde die Heimkehr des 59jährigen Habermas-Schülers Song Du-Yul zum Spießrutenlaufen. Nach 37jährigem Exil in Deutschland war der an der Universität Münster lehrende Sozialphilosoph mit seiner Familie (allesamt deutsche Staatsbürger) am 22. September 2003 auf dem Seouler Flughafen Incheon gelandet – als eingeladene Gäste der staatlichen Korea Democracy Foundation. Mehrere hundert Freunde der Familie Song hatten sich dort versammelt, um den Heimkehrern einen gebührenden Empfang zu bereiten. Schließlich war Song Du-Yul über viele Jahre ein Stichwortgeber und Mentor der außerparlamentarischen Opposition und ein eloquenter Kritiker der Militärdiktatur in Südkorea. Das soll ihm nun zum Verhängnis werden.

Die Vorgeschichte

Statt landesweit Vorträge zu halten und in der Stadt Kwangju die Ehrendoktorwürde der Chonnam Universität entgegenzunehmen, wurde Song in Seoul unter Stadtarrest gestellt und tagelang von Mitarbeitern des National Intelligence Service (NIS), dem Nachfolger der berüchtigten KCIA, verhört. Song, so der NIS, sei unter anderem 1973 der nordkoreanischen Partei der Arbeit beigetreten, 1991 in deren Politbüro aufgenommen und in der Parteihierarchie unter dem Namen Kim Chol-Su auf Rang 23 geführt worden. Als Anhänger des 1994 verstorbenen Staats- und Parteichefs Kim Il-Sung habe Song Nordkorea mehrfach bereist und Gelder aus der Volksrepublik erhalten. Wissenschaftlich und publizistisch habe er Position für Nordkorea bezogen und dem Ansehen der Republik Korea (Südkorea) schwer geschadet – alles Verstöße gegen das aus dem Jahre 1948 datierende Nationale Sicherheitsgesetz.

Diese »Erkenntnisse« übermittelte der NIS dem Ausschuß für nachrichtendienstliche Tätigkeiten in der Nationalversammlung, wo vor allem Vertreter der größten Oppositionspartei, der Großen Nationalpartei (GNP), diese begierig aufschnappten, um die Regierung in Pjöngjang und den legitimen Widerstand gegen die frühen Militärdiktaturen in Südkorea zu diskreditieren. Willige Helfershelfer fanden diese Kräfte in nahezu sämtlichen südkoreanischen Medien. In putativem Gehorsam gegenüber den Kalten Kriegern sank das Arbeitsethos der Medienkamarilla so tief, daß der Angefeindete öffentlich und ungestraft als »Idiot«, »Bastard«, »Vaterlandsverräter«, »bezahlter Spion Nordkoreas«, »pronordkoreanischer Lügenprofessor« u. ä. denunziert wurde. Gerüchte und die »Erkenntnisse« des NIS präsentierten die Medien als Tatsachen. Das Prinzip der Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils wurde ersetzt durch üble Vorverurteilung und Ehrabschneidung, was der Familie Song Morddrohungen einbrachte.

Dabei hatte der Geächtete wie kaum ein Akademiker in Südkorea beharrlich für Toleranz innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft wie auch zwischen beiden koreanischen Gesellschaften gestritten. Seit 1995 organisierte er sechs interdisziplinäre Diskussionsforen, an denen jeweils Wissenschaftler aus beiden Staaten teilnahmen. Darüber berichtete auch »Grenzgänger«, ein Film über den Lebensweg Songs, den selbst die größte Sendeanstalt des Landes, das Korea Broadcasting System (KBS), zur besten Sendezeit ausstrahlte. Das wiederum rief die politische Rechte auf den Plan, die der KBS-Leitung vorwarf, »zu wohlwollend« über den Inkriminierten berichtet zu haben.

Die Akten mit dem Abschlußbericht des NIS wurden an die Staatsanwaltschaft mit der Empfehlung weitergeleitet, gegen Song Du-Yul ein Verfahren einzuleiten und Anklage zu erheben. Die Staatsanwaltschaft übte massiv Druck aus und stellte Song die Freilassung für den Fall in Aussicht, daß er sich »reuig« zeigt und eine entsprechende »Bekehrungsschrift« unterzeichnet. Darauf ließ sich der Angeklagte freilich nicht ein.

Am 19. November hatte die Staatsanwaltschaft, gestützt auf die Vermutung, Song könnte fliehen oder Beweismittel vernichten, ihre Anklageschrift verfaßt, die bis zum Prozeßbeginn am 2. Dezember von der Verteidigung nicht eingesehen werden konnte. Ihr waren die Akten mit etwa 30 000 Seiten von der Staatsanwaltschaft erst verspätet übergeben worden. Derweil entschied der Oberste Gerichtshof, dem Beschuldigten sei Rechtsbeistand zu gewähren, was Song bis Mitte November verweigert worden war. Selbst nach der Verfügung des Obersten Gerichtshofes mußten sich seine Anwälte etwa drei Meter hinter dem Beschuldigten plazieren. Während des Verhörs durften sie nichts sagen und keine Notizen machen. Erst nach dem Verhör und nachdem der Beschuldigte den Untersuchungsbericht unterzeichnet hatte, durfte der Anwalt den Bericht einsehen und unterschreiben.

Bis zu fünfzehn Stunden täglich hatten die Verhöre bei der NIS gedauert. Dabei mußte Song Handschellen tragen und war mit Seilen an den Oberarmen gefesselt. Das südkoreanische Justizministerium hielt dies für geboten, »um zu vermeiden, daß der Angeklagte sich selbst Verletzungen zufügt«. All das geschah auf der Grundlage des Nationalen Sicherheitsgesetzes. Dieses stammt, wenngleich mehrfach modifiziert, aus der Hochzeit des Kalten Krieges (1948) und knüpfte damals nahtlos an ein Gesetz an, mit dem die frühere Kolonialmacht Japan zwischen 1910 und 1945 die »Aufrechterhaltung von öffentlicher Ordnung und Sicherheit« erzwungen hatte. Gemäß Nationalem Sicherheitsgesetz können staatlich »unautorisierte« Beziehungen zu Nordkorea drakonisch geahndet werden. Es handelt sich um ein Willkürinstrument, das einer demokratischen Gesellschaft, zumal einem Mitgliedsland der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wie Südkorea, Hohn spricht.

Schlaflos in Seoul

30. November, erster Adventssonntag. Zugfahrt zum Frankfurter Flughafen. Ein trister, regnerischer, teils föhniger Tag. Erst zwei Tage vorher erhielt ich das Flugticket nach Seoul. Auf Bitten der Familie Song und zahlreicher in- wie ausländischer Freunde des Inhaftierten sollte ich als Vorstandsvorsitzender des deutschen Korea Verbandes e.V. im Asienhaus (Essen) und Sonderbeauftragter des Maßnahmenkomitees in Europa für die Freilassung von Professor Song Du-Yul und zur Abschaffung des Nationalen Sicherheitsgesetzes zum Prozeßauftakt nach Südkorea reisen. Es galt, ein Zeichen zu setzen, daß nicht nur dort, sondern auch im Ausland der »Fall Song« aufmerksam verfolgt wird. Wenige Wochen zuvor hatte der emeritierte Münsteraner Soziologieprofessor Hans-Jürgen Krysmanski seinen Kollegen Song Du-Yul im Gefängnis besucht. Kurz vor dem Abflug der Asiana (Flugnummer 452) um 18 Uhr schauten die koreanischen Fluggäste gebannt auf die Mattscheibe. CNN meldete gerade den Tod zweier südkoreanischer Staatsbürger im Irak. Seouls Bündnistreue zu den USA forderte die ersten Opfer.

Etwa bis St. Petersburg ein turbulenter Flug, dann hat das Ruckeln und Schaukeln ein Ende. Unerwartet frisch und ausgeruht erlebe ich, wie der Riesenvogel am Montag, dem 1. Dezember, kurz vor 12.45 Uhr Ortszeit auf die Landebahn in Incheon rollt. In der Ankunftshalle dieses hypermodernen Airports erwarten mich Chung-Hee und Rinn, die Frau und der jüngere der beiden Söhne Song Du-Yuls. Sie sehen angegriffen und übermüdet aus. Kein Wunder bei all der Anspannung und den strapazenreichen Terminen, die sie tagaus tagein zu bewältigen haben. Als störend empfinde ich die Präsenz eines Kameramanns, der unsere Begrüßung filmt. Doch schnell stellt sich heraus, daß er »autorisiert« ist; Jeon Kwang-Sik dreht im Auftrag des Privatsenders I-TV einen Dokumentarfilm über Song Du-Yul. Seit dessen medial viel beachteter Heimkehr hat er ihn und seine Familie auf vielen Stationen begleitet.

Die etwa 60 Kilometer lange Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt wird zur Geduldsprobe. Ersten Gesprächen folgt abends ein Termin im Korea Press Center nahe Seouls City Hall. Der Schriftsteller und einstige politische Gefangene Hwang Seok-Yong feiert dort seinen 60. Geburtstag. Zahlreiche seiner Freunde sind gleichzeitig Freunde oder enge Bekannte der Familie Song. Kurz vor Mitternacht erreiche ich schließlich das Gästehaus der Seoul National University in Naksongdae im Süden der City, wo ich die kommende Woche untergebracht bin. Ein angenehmer Aufenthaltsort, überdies ruhig, eine Oase inmitten all der Hektik. Schlaf finde ich aber nicht; zu viele Dinge schwirren durch meinen Kopf.

Aufmarsch Kalter Krieger

Dienstag, 2. Dezember, Prozeßtag. Der Moloch Seoul zeigt sich von seiner alltäglichen Seite – schnellebig, lärmend, rücksichtslos. Erst recht in seinen pulsierenden Adern, dem wabernden U-Bahn-Netz. Schieben, Drängeln, Zerren vor allem an solchen Knotenpunkten und Umsteigestationen wie Sadang. Einmal mehr verfluche ich den, der das Wort von »der asiatischen Gelassenheit« geprägt hat. Gelassenheit erwächst aus Ruhe und Besinnlichkeit. Beides sind Fremdwörter in einer City, die wie keine andere Metropole in Ostasien im Zeitraffer die Metamorphose vom Feudalismus zum Turbokapitalismus durchlebte – mit all den dabei zwangsläufig entstehenden sozialen Verwerfungen. Für einen solch grundlegenden Wandel benötigte das westliche Europa Jahrhunderte und selbst Japan noch ein Jahrhundert. Im Süden der koreanischen Halbinsel geschah das binnen dreier Jahrzehnte – eine von Militärmachthabern der Gesellschaft gnadenlos oktroyierte »Entwicklung«.

Treffpunkt mit der Familie Song in Indukwon. Von dieser U-Bahn-Station ist es dann noch ein kurzer Trip mit dem Taxi zum Seoul Guchiso, dem Untersuchungsgefängnis im Süden der Stadt. Am Eingangstor dieses mausgrauen, unwirtlichen Komplexes trillern Wachposten in schrillem Stakkato drauflos, als sollten die Besucher rasch und intensiv genervt werden. Paßkontrolle, Registrierung in der Gefängnislobby, warten, Kaffee trinken und nochmals warten. Dann ein Signal. Die Uhr zeigt Punkt zehn Uhr.

Genau zwanzig Minuten bleiben uns in einem winzigen Raum, der in seiner Mitte starr die Trennlinie zwischen Freiheit und Knast markiert. In verblichener hellblauer Gefängnisuniform sitzt mir mein langjähriger Kollege und Freund gegenüber. Auf der linken Seite der schäbigen Uniform, in Brusthöhe, ist ein grauer Stoffetzen aufgenäht, der den Häftling als Nummer 65 ausweist. Ich empfinde Trauer, Mitleid und Wut. Trauer, weil ich weiß, daß der Uniformträger Zeit seines Lebens ein Geistesmensch war, der nicht einmal einem Moskito Schmerzen zufügen könnte. Mitleid mit seinen engsten Angehörigen, die täglich eine Tortur durchmachen müssen, um den Häftling zuerst zehn, schließlich zwanzig Minuten besuchen zu dürfen. Besuchen? Nein, sprechen zu können. Zum Besuch gehörte Körperkontakt, eine Umarmung oder zumindest ein Händeschütteln. Wir aber können den Häftling nur sehen. Uns trennen zwei Panzerglasscheiben, zwischen die noch ein Gitter gezogen ist. In die Scheiben gebohrte Löcher erlauben es, sich zu unterhalten. Wenn immer wir uns in Deutsch unterhalten, wendet sich der Aufseher gelangweilt ab und beugt sich interessiert über sein Komikheft. Rückartig hebt er den Kopf und lauscht mit gespitzter Aufmerksamkeit, sobald Koreanisch gesprochen wird. Schließlich: Wut darüber, daß es nicht einmal möglich ist, dem Häftling Obst oder Süßigkeiten zu überreichen. Solche Geschenke können nur im gefängniseigenen Shop in der Lobby gekauft werden und erreichen den Häftling erst später.

Bitter erinnere ich mich an die Worte, die mir der Häftling Nummer 65 wenige Tage nach der Landung in Seoul schrieb: »Ich bin nicht nach 37 Exiljahren in meine Heimat zurückgekehrt, um sogleich wieder deportiert zu werden. Lieber nehme ich eine Inhaftierung in Kauf, als durch eine Abschiebung auf Dauer zu einer marginalen Persönlichkeit gestempelt zu werden, die auch daran gehindert werden soll, an südkoreanischen Hochschulen zu lehren.« Nun sitzen seine Familie und ich ihm gegenüber. In die Wiedersehensfreude mischt sich die Anspannung. Nur noch wenige Stunden bis zum Prozeßbeginn um 14 Uhr.

Die für 13 Uhr angesetzte Pressekonferenz vor dem Gerichtsgebäude wird unmittelbar vor Beginn abgeblasen. Aus Sicherheitsgründen. Zwischen 60 und 80 Personen haben sich vor dem Haupttor des Gebäudes postiert, stramm geschützt oder abgeschirmt von Riot Police. Wir verlassen am Tor den Wagen und eilen zum Haupteingang des Gerichts. Vor Wut verzerrte Gesichter starren uns an. »Kommunistenschweine« grölen und brüllen meist ältere Männer und halten uns ihre Pappschilder entgegen. Auf den meisten dieser selbstgebastelten Poster ist eine nordkoreanische Flagge abgebildet, daneben ein Bild Song Du-Yuls mit aufgemalten roten Hörnern – der Teufel in Person.

Die solche Schilder schwingen und die unerbittliche Bestrafung des Angeklagten fordern, sind Veteranen des Koreakrieges. Auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende dieses ersten »heißen« Krieges im Kalten Krieg sind dessen Narben nicht verheilt. Posttraumatische Nachwirkungen gibt es gleichermaßen diesseits und jenseits des 38. Breitengrades, der den kapitalistischen Süden vom kommunistischen Norden abriegelt. Was dem Außenstehenden als skurrile Aufführung einer wildgewordenen geriatrischen Abteilung anmutet, spiegelt ein Stück unerbittliche Realität eines geteilten Landes. Korea hatte das Pech, gleich zweimal hintereinander bestraft und in die Opferrolle gedrängt zu werden. Nach der japanischen Kolonialära (1910-45) folgte die schrittweise Teilung der Halbinsel in zwei sich feindselig gegenüberstehende Staaten – orchestriert von den Siegermächten USA und Sowjetunion. Der Aggressor Japan hingegen blieb ungeteilt und kam weitgehend ungeschoren davon.

Freunden des koreanischen Maßnahmenkomitees zur Freilassung Professor Songs gelingt eine Impromptu-Pressekonferenz. So beharrlich Medienleute den Aufmarsch der Kalten Krieger vor dem Haupttor des Gerichtsgebäudes ausleuchteten, so rasch und neugierig setzen sie sich jetzt in Trab, um uns vor dem Haupteingang zu lauschen. Ausgewogenheit? Für News sorgen die aus Deutschland mitgebrachten 920 Unterschriften für die sofortige Freilassung des Häftlings und die Abschaffung des Nationalen Sicherheitsgesetzes, die dem Vorsitzenden Richter Lee Dae-Gyeong übergeben werden sollen. Für News sorgt auch unser Statement, daß ein Gericht beziehungsweise die Staatsanwaltschaft weder legitimiert noch in der Lage ist, über das wissenschaftliche Werk des Angeklagten zu befinden. Das wäre ein Rückfall in bleierne Zeiten der Inquisition.

Halluzinierte Verbrechen

Kurz vor 14 Uhr. Freunde wie Gegner des Angeklagten hetzen in das Gerichtsgebäude. Jede Seite will die besten und meisten Plätze ergattern. Den Freunden gelingt es, sich in die vorderen Reihen zu setzen. Der Saal ist rappelvoll, über 200 Personen sitzen und stehen in einem Raum, der schnell zu einer stickigen Schwitzbude wird. Punkt 14 Uhr. Häftling Nummer 65 wird in den Gerichtssaal geführt – ohne Handschellen. Er spricht in seinem kurzen Eingangsstatement von einem epochalen Ereignis und kündigt an, sämtliche Anklagepunkte zurückzuweisen.

Bis kurz nach 17 Uhr dauert der erste Verhandlungstag. Es ist der Tag der Staatsanwaltschaft, die die wesentlichen Punkte aus ihrer 82 Seiten umfassenden Anklageschrift verliest. Durchgängig verwendet sie die Formulierung, der Angeklagte hätte auf »Weisung Nordkoreas« gehandelt. Was dieser und seine Verteidiger kategorisch zurückweisen; Song habe lediglich »Botschaften aus Nordkorea« erhalten. Beweise sind an diesem Tage nicht gefragt.

Die Anklage? Alle Punkte werfen Song Verstöße gegen das Nationale Sicherheitsgesetz vor, beispielsweise: Beitritt in eine »staatsfeindliche Organisation«; »Übernahme einer führenden Funktion in einem Territorium, das unter der Herrschaft einer ›staatsfeindlichen Organisation‹ steht« und Kontakt zu beziehungsweise Kommunikation mit einer »staatsfeindlichen Organisation«. Wörtlich heißt es auf Seite 1 der Anklageschrift: »Obwohl der Angeklagte weiß, daß es sich bei Nordkorea um eine ›staatsfeindliche Organisation‹ handelt, die, sich als ›Regierung‹ ausgebend, zum Zwecke des Sturzes des Staates (Südkorea) illegal organisiert wurde, (...) machte er sich in den folgenden Punkten strafbar«. Zu diesen Punkten zählen: Gründung pronordkoreanischer Organisationen; »Verherrlichung und Verbreitung der nordkoreanischen Ideologie (Feindbegünstigung)« durch Veröffentlichungen sowie die Organisation wissenschaftlicher Konferenzen. Das entsprechende »Vereinigungsforum« sei auf Initiative Nordkoreas entstanden. Welch haltlose Anklagepunkte?

Blicke in die Glaskugel

Was Songs vermeintlichen nordkoreanischen Politbürokandidatenstatus betrifft, stützt sich die Staatsanwaltschaft einzig auf die Behauptung des vor Jahren aus Nordkorea übergelaufenen Politikers und einstigen Mentors von Kim Jong-Il, Hwang Jang-Yop. Mit dessen Glaubwürdigkeit steht es nicht zum Besten. In Südkorea scheint er als "Mohr" seine Schuldigkeit getan zu haben, der nunmehr von der Bühne abtreten mag. Auch die kürzlich erfolgte erste Reise Hwangs in die USA, um dort als "Kronzeuge" gegen Nordkorea aufzutreten, wurde zum Flop und hinterließ selbst bei den Falken innerhalb des Pentagon einen faden Nachgeschmack. Überdies hat bereits vor Jahren das Seouler Distriktgericht der Klage Professor Songs stattgegeben und Hwang mangels Beweisen untersagt, Song als "Kim Chol-Su", die Nummer 23 in der nordkoreanischen Nomenklatur, zu bezeichnen.

Was die fünfmal in Peking und einmal in Pjöngjang stattgefundenen Konferenzen koreanischer Wissenschaftler aus Süd und Nord zum Thema Wiedervereinigung betrifft, so wurden all diese Treffen von südkoreanischen Firmen und Zeitungen finanziell unterstützt. Song, der dafür viel Zeit und Mühe investierte, agierte als Scharnier zwischen den Akademikern aus beiden Staaten. Ganz im Sinne seines Credos, im geteilten Korea den innerkoreanischen Dialog zu fördern und die starre Abgrenzungspolitik in Nord wie Süd aufzulockern. Um solche Treffen vorzubereiten, waren mehrfache Reisen in die Volksrepublik notwendig, wo er auch mit führenden Persönlichkeiten zusammentraf. Zweifellos hätte er solche Reisen ebenfalls gern in den Süden unternommen. Das allerdings wußten technokratische Betonköpfe in Feinabstimmung mit den Hardcore-Kalten-Kriegern des Geheimdienstes zu vereiteln. Im übrigen ist Professor Song seit zehn Jahren deutscher Staatsbürger und kann als solcher reisen, wohin er will. Reisen nach Nordkorea sind nicht justiziabel.

Nachgerade grotesk ist der Anklagepunkt, Song habe in solchen Schriften wie in seiner Monographie "Wie sollte Nordkorea betrachtet werden - Zur Methodologie eines angemessenen Verständnisses von Nordkorea" und in dem im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul im Rowohlt Verlag veröffentlichten Buch "Südkorea: Kein Land für friedliche Spiele" Propaganda für den Norden betrieben und "gegen die Veranstaltung der Olympischen Spiele in Südkorea" opponiert. Der Angeklagte hat in der Nordkoreaforschung stets einen Ansatz immanenter Kritik verfolgt und Reisen in die Volksrepublik für seine wissenschaftliche Arbeit und das Sammeln direkter Erfahrungen genutzt. Peinlich für die Staatsanwaltschaft, daß der Rowohlt-Aktuell-Band "Südkorea: Kein Land für friedliche Spiele" eine Gemeinschaftsproduktion von vier Verfassern ist - von Song Du-Yul, Rainer Werning, Michael Denis und Esther Dischereit. Song steuerte zu dem Band zwei Artikel bei, die sich den Themen Landwirtschaft und Wirtschaft widmeten, in denen er die Umwälzungen in Südkoreas Dörfern beschrieb und der Frage nachging, aufgrund welcher konstitutiven Bedingungen das Land dem "Modell Japan" nacheifert.

Jene die Herrschenden offensichtlich noch heute nervenden politischen Passagen in diesem Buch, welche die Entwicklung nach der Verhängung des Kriegsrechts Anfang der siebziger Jahre beleuchteten, stammen alle aus meiner Feder. Der Frühling und Sommer 1987 markierten die äußerst bewegte und bewegende Phase der aufkeimenden Demokratiebewegung im Lande, als der damalige Präsident Chun Doo-Hwan kurzzeitig erwogen hatte, erneut das Kriegsrecht zu verhängen. Eine Großdemonstration folgte der nächsten, Bürger sämtlicher gesellschaftlicher Schichten setzten sich für einen demokratischen Wandel ein. Omnipräsent waren die Schnüffler, die Riot Police und andere "Sicherheitskräfte" des Staates, die mit CS- und Tränengas, mit Schlagstöcken, Rollkommandos und martialischen Greiftrupps für die Aufrechterhaltung der maroden Ordnung aufmarschierten. Südkorea war damals partout kein Land für friedliche Olympische Spiele. Ergo: Der Titel des jetzt (nach 16 Jahren!) inkriminierten Buches war nicht nur treffend. Er wurde überdies in Absprache mit mir, der ich damals die Verhandlungen mit dem Verlag führte, und dem verantwortlichen Lektor des Rowohlt Verlages mit Bedacht gewählt. Kurz vor und während dieses Großereignisses boten die Sportveranstaltungen den Militärs einen willkommenen Anlaß, unter dem Deckmantel "der Vereitelung von Sabotage- und Terrorakten" mobilzumachen, Slumbewohner zu schikanieren, Studenten zu verprügeln und den Rest der Bevölkerung botmäßig zu halten. Es war das historische Verdienst der südkoreanischen Demokratiebewegung und kritischer Medienleute aus dem Ausland, diese Zustände und Praktiken der Militärs schonungslos offengelegt zu haben. In diesem Sinne war das heute inkriminierte Buch Bestandteil einer aufklärerischen Intervention. Die Verteidigung von Song Du-Yul ist über all dies bestens informiert.

Schließlich wird der Angeklagte beschuldigt, bei der Gründung zahlreicher Auslandsorganisationen von Koreanern seit Mitte der siebziger Jahre Pate gestanden zu haben, die allesamt nordkoreafreundlich gewesen bzw. von der Volksrepublik gesteuert worden seien. Fakt ist, daß sich solche Organisationen für Demokratie und Menschenrechte in Südkorea einsetzten, wo lange Zeit ein Militärregime qua Kriegsrecht herrschte und die Regierenden mit Wissen und Duldung der USA im Mai 1980 einen Volksaufstand in der südwestlichen Stadt Kwangju brutal mit Panzern niederwalzen ließen. Wenn jemand dem Ansehen Südkoreas in der Welt Schaden zugefügt hat, dann waren es Kommißköpfe wie die Exgeneräle Park Chung-Hee, Chun Doo-Hwan und Roh Tae- Woo, die allzulange das Sagen gehabt und ihre Bevölkerung gewaltsam zum Schweigen verdammt hatten.

Bilder und Worte

Mittwoch, 3. Dezember. Das I-TV-Team begleitet mich den halben Tag. Es will wissen, welches Verhältnis ich zu dem Angeklagten habe, was uns über zig Jahre hinweg verband, und welche Aktivitäten wir gemeinsam verfolgten. Der Regisseur dieses Dokumentarfilms möchte dem Publikum die Person und Persönlichkeit Song Du-Yul nahebringen - jenseits der Schmähungen und Dämonisierungen, die er und seine Familie erdulden mußten.

Nachmittags, von 16 bis 17.15 Uhr, Gespräch mit dem deutschen Botschafter, Michael Geier, und der Ersten Sekretärin und Konsulin, Christina Beinhoff, in der deutschen Botschaft. Das Treffen kam kurzfristig zustande und verlief in freundlicher Atmosphäre. Offensichtlich wird der "Fall Song" genau verfolgt und enger Kontakt zum Auswärtigen Amt in Berlin gehalten. Ende November traf dort Bundesaußenminister Joseph Fischer mit seinem südkoreanischen Kollegen Yoon zusammen, was in den südkoreanischen Medien für einigen Wirbel sorgte. Fischer hatte im Falle Songs nämlich von "concern" der Bundesregierung gesprochen, während Yoon den Medien gegenüber in Seoul behauptete, man habe in Berlin lediglich "interest" signalisiert. Nun bedeutet im diplomatischen Sprachgebrauch "concern" - Besorgnis - weitaus mehr als nur Interesse; es insinuiert, daß Handlungsbedarf besteht und die Dinge möglichst zügig zu einem guten Abschluß gebracht werden sollten. Die Botschaft wird sich bei den südkoreanischen Behörden dafür einsetzen, daß der Inhaftierte angemessen ärztlich versorgt wird. Einigkeit herrscht in dem Punkt, für Song Du-Yul, was seine Reisen nach und Kontakte mit Nordkorea betrifft, ein Wissenschaftsprivileg zu reklamieren, was ein Gutachtergremium aus Hochschullehrern Südkoreas und Deutschlands untermauert.

Donnerstag, 4. Dezember. Zweiter Besuch beim Häftling Nummer 65. Wiederum nur zwanzig Minuten, von 12.45 Uhr bis 13.05 Uhr. Diesmal herrscht im Gefängnis reger Besucherandrang. Unwillkürlich muß ich an Kafka denken, an Entfremdungen und Verfremdungen, wie rasch und tief jemand ahnungs- und grundlos in Mißlichkeiten gerät. Der Angeklagte wirkt angespannt. Sein Gesicht ist ein wenig aufgedunsen, möglicherweise wegen der Einnahme von Medikamenten. Asthmaanfälle haben ihn in den letzten Tagen geplagt. Nur verspätet und sporadisch läßt sich der Gefängnisarzt blicken. Es bleibt kaum Zeit für ein persönliches Gespräch. Für den zweiten Prozeßtermin, der am 16. Dezember stattfindet, benötigt er bestimmte Papiere und Unterlagen, um sich vorzubereiten. Dann ertönt ein Klingelzeichen, Häftling Nummer 65 verschwindet ebenso schnell in seine Drei- Quadratmeter-Zelle wie sich durch die Tür des Besuchszimmers ein neuer Pulk Besucher drängt.

Pressegespräche

Freitag, 5. Dezember. Zur Mittagszeit hat das südkoreanische Maßnahmenkomitee für die Freilassung von Professor Song zur Pressekonferenz geladen. Im Gegensatz zu der Impromptu- Konferenz vor dem windigen Eingang des Gerichtsgebäudes drei Tage zuvor findet dieses Gespräch in einem Café statt. Gut zwanzig Journalisten sind zugegen, von Printmedien wie von Fernsehanstalten. Auch ein Vertreter von Yonhap News, der südkoreanischen Nachrichtenagentur, ist anwesend. Ich berichte, wie die deutschen Medien den "Fall Song" beurteilen und welche Solidaritätsaktionen für ihn unternommen werden - einschließlich der Interventionen von Hochschullehrern und Vertretern der beiden großen Kirchen. Es entsteht die Chance, die südkoreanische Berichterstattung im "Fall Song" kritisch Revue passieren zu lassen. Immerhin ist nach Wochen ein bescheidener Fortschritt zu konstatieren. So benutzt man nun häufiger die Vokabel "vermeintlich" oder "mutmaßlich", wenn von Songs "Verbrechen" die Rede ist. Ab und zu taucht die Frage nach dem Charakter des Korea Verbandes e.V. auf - mit der schnippischen Spitze, ob dieser auch Beziehungen zu Nordkorea pflege. Nachrichtenwert hat die Tatsache, daß dem Vorsitzenden Richter Lee Dae-Gyeong eine Unterschriftenliste des europäischen Maßnahmenkomitees mit 920 Unterzeichnern übergeben wurde. In Südkorea ist man darauf bedacht, sein Ansehen im Ausland zu wahren und nicht mit Negativschlagzeilen ins Gerede zu kommen.

"1.300 Kriegsdienstverweigerer"

Samstag, 6. Dezember. Erster Tiefschlaf nach einer Woche. (W)irre Gedanken schießen mir durch den Kopf. Mittags, bei der Zeitungslektüre, versuche ich, Gesehenes und Erlebtes zu ordnen. Die Tagespresse füllen Spalten über Spalten mit Skandalen und Korruptionsfällen. Riesensummen sind im Gespräch. Präsident Roh Moo-Hyun, gerademal zehn Monate im Amt, ist mit überbordenden Problemen konfrontiert. Der frühere Menschenrechtsanwalt und Champion des "Kleinen Mannes" ist, nachdem er Ende September seiner Millennium Democratic Party (MDP) den Rücken kehrte, ein parteiloser "General", der um "Truppen" buhlt, die ihm die Treue halten. Rohs Popularität hat stark gelitten. Mehrere seiner Mitstreiter müssen sich wegen illegaler Finanzpraktiken während des Wahlkampfes vor einem Jahr vor Gericht verantworten. Inkompetenz und Ineffizienz werden vor allem jenen Getreuen des Präsidenten vorgeworfen, die in dessen Amtssitz, dem Blauen Haus, die "386er Garde" bilden. Das sind Leute in den Dreißigern, welche die Universität in den achtziger Jahren besuchten. "Nationale Sicherheitsbelange" sind ein weiteres beherrschendes Thema in den Medien. So müssen die annähernd 1 300 Kriegsdienstverweigerer mit einer zwei- bis dreijährigen Haftstrafe rechnen. Berufen sie sich auf Gewissensgründe, sind diese nach geltender Rechtsauffassung nachrangig, da dem Kalkül nationaler Sicherheit untergeordnet.

Song Du-Yul, so scheint mir, ist in dieser vertrackten Situation in eine Falle getappt, wenn nicht gar gelockt worden. Es gibt Medienberichte, in denen es als naiv dargestellt wird, zu diesem Zeitpunkt nach Seoul gereist zu sein. Doch es waren direkte Interventionen aus Seoul, die ihn und seine Familie zu dieser Entscheidung drängten. Dabei unterschätzten selbst Wohlmeinende die noch immer sämtliche Poren der Gesellschaft durchdringenden Tentakel des allmächtigen Staatssicherheitsapparates (NIS). Dessen innersten Kern beherrschen strategisch positionierte Hardliner - Demokratie hin, Demokratisierungsprozesse her -, die auf offenen Dissens mit der Volksrepublik und ein ungebrochen enges Bündnis mit der "Schutzmacht" USA setzen. Selbst der Expräsident und einstige Staatsfeind Nr. 1, Kim Dae-Jung (1998-2003), vermochte diese Zitadellen der Macht nicht zu schleifen. Diese stützen ihrerseits die konservativen und reaktionären Kräfte der Opposition, welche die Mehrheit im Parlament stellt und die Niederlage ihres Präsidentschaftskandidaten Lee Hoi-Chang am 19. Dezember 2002 nicht verwunden hat. Sie treibt einen Präsidenten vor sich her, der innere Reformen und ein Überdenken des Bündnisses mit den USA versprochen hatte, jedoch nichts dergleichen zu realisieren vermochte.

Statt dessen geriet die "Sonnenscheinpolitik" gegenüber dem Norden ins Zwielicht. Und nebst einigen hundert Zivilisten (in erster Linie Bauingenieure) will Seoul jetzt auch 3 000 Soldaten in den Irak entsenden und damit das Land neuerlich in Kriegsgeschehen verwickeln. In dieser komplizierten innenpolitischen Lage profitieren zuvörderst die Rechten von der "Affäre des Dissidenten Song", die sie mit Blick auf die im Frühjahr 2004 anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung für ihre Zwecke nutzen. Die Opposition verlangt eine drastische Kürzung des NIS-Etats, sollte der Staatsschutz im "Fall Song" versagen. "Ich bin", befindet heute der Angeklagte, "zum Spielball der innerkoreanischen Machtkämpfe geworden, auch der innerhalb des NIS". Vor diesem Hintergrund spiegelt die "Affäre des Dissidenten Song" ein tragisches Kapitel kalter Nachkriegsgeschichte wider.

Abends Abschiedsfeier mit Freunden und Kollegen, die früher in Deutschland studierten und zum Freundeskreis von Song Du- Yul und seiner Familie zählen. Blicke in die Glaskugel. Was wird, was ist zu erwarten? Vielleicht kommt schon bald der Zeitpunkt, da es der Staatsanwaltschaft lieb sein dürfte, sich des grotesken Verfahrens zu entledigen. Mit einem Freispruch ist aufgrund massiven Drucks der Rechten und Konservativen im Lande kaum zu rechnen. Es sei denn, unerwartet starker externer politisch-diplomatischer Druck führte dazu, daß in diesem Falle "der Westwind den Ostwind" überflügelt. Eher ist, nicht zuletzt im Sinne des Gesichtwahrens, eine Verurteilung denkbar, bei der die Strafe auf Bewährung ausgesetzt und der Angeklagte zügig und unzeremoniell des Landes verwiesen wird. Professor Song wäre dann mindestens fünf Jahre lang als Persona non grata gebrandmarkt, ausreichend Zeit für einige (vormalige) Freunde, sich von ihm zu distanzieren. Songs Chancen, künftig auch in Südkorea leben und lehren zu können, würden damit schwinden - eine bittere Enttäuschung für den erklärten Grenzgänger. Bitter ist jedenfalls schon der Rückzieher der Universitä;t in Kwangju, die sich dem Druck beugte und dem Hochschullehrer die bereits zuerkannte Ehrendoktorwürde wieder aberkannte. Ein Armutszeugnis für einen Wissenschaftsbetrieb.

Filmrisse

Sonntag, 7. Dezember. Ein alter Freund aus Münsteraner Tagen begleitet mich zum Flughafen. Er sieht in der aktuell chaotisch anmutenden innenpolitischen Lage dennoch die Chance, den Demokratisierungsprozeß voranzubringen und die nächsten Wahlen für die Stärkung der Zivilgesellschaft zu nutzen. Sich selbst beruhigendes Wunschdenken? Noch am selben Tag landet die Asiana (Flugnummer 451) um 15.45 Uhr Ortszeit in Frankfurt/Main. Zweiter Adventssonntag. Strahlend blauer Himmel, ruhiger Flug.

Befand ich mich in den vergangenen Tagen im falschen Kino, oder sah ich nur den falschen Film? Da erhielt fast auf den Tag genau vor drei Jahren, am 10. Dezember 2000, Südkoreas Präsident Kim Dae-Jung in Oslo den Friedensnobelpreis für seine Sonnenscheinpolitik gegenüber dem Norden. (Eine dubiose Entscheidung; zu Aussöhnung und Frieden gehören nun mal zwei Parteien. Offensichtlich wollte man einem hartnäckigen, globalisierungsresistenten Restposten des realen Sozialismus mit Kim Jong-Il als Steuermann Reverenz verwehren.) Mitte Juni 2000 war es nämlich in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang (sic!) zum ersten innerkoreanischen Gipfel gekommen, auf dem gegenseitiger Besucheraustausch, Aussöhnung und Annäherung sowie eine bilaterale wirtschaftliche Zusammenarbeit vereinbart worden waren. Selbst die seit dem Koreakrieg unterbrochenen Bahnlinien sollten gemäß beidseitiger Absprachen schnellstmöglich repariert und im April 2004 wieder in Betrieb genommen werden.

Aufbruchsstimmung herrschte noch im Juni 2003 - anläßlich des dritten Jahrestages dieser historischen Nord-Süd- Vereinbarung. Seitdem gibt es tatsächlich einen regen, wiewohl staatlich reglementierten Besucheraustausch. Und das südkoreanische Big Business stiert auf den Norden, um dort in größerem Stil Geschäfte machen zu können, ob in der grenznahen Stadt Kaesong oder anderswo. Lange bevor aber das Wort "Sonnenscheinpolitik" geprägt war, hatte sich ein Mann wie Song Du-Yul just in solchem Geiste jahrzehntelang für das friedfertige Miteinander von Koreanern in Nord wie Süd und eine Dialogkultur auf der geteilten Halbinsel eingesetzt. Um dafür heute zu büßen und hinter Gittern gesperrt zu sein?

* Die letzte Veröffentlichung Song Du-Yuls: Schattierungen der Moderne - Ost-West-Dialoge in Philosophie, Soziologie und Politik, PapyRossa Verlag, Köln 2002

Der Prozeß wurde am 6. Januar fortgesetzt, u. a. mit der Aussage von Rainer Werning als Entlastungszeuge.

Aus: junge Welt, 6. und 7. Januar 2004


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