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Bewegungen in der Starrheit

Auf der koreanischen Halbinsel droht der Friedensprozeß unter militärstrategische Räder zu geraten

Von Rainer Werning*

Der Koreakrieg (1950 bis 1953), der erste »heiße« militärische Konflikt im Kalten Krieg, wirkt fort in der Teilung des Landes. Ein Jahrzehnt nach dem Ende der West-Ost-Blockkonfrontation durchzieht die Halbinsel noch immer eine etwa 240 Kilometer lange »demilitarisierte Zone«. Ein Euphemismus und Anachronismus ohnegleichen; es ist dies die weltweit bestbewachte, höchstmilitarisierte und konfliktträchtigste Region - ohne Besucheraustausch, ohne gegenseitige Post-, Telefon- und Verkehrsverbindungen. Dort stehen sich diesseits und jenseits des 38. Breitengrades waffenstarrend über eine Million Soldaten gegenüber, inklusive knapp 37 500 im Süden stationierter US-amerikanischer GIs. Korea ist der einzige Ort der Welt, wo noch heute ein US-amerikanischer Vier-Sterne-General - in Personalunion Kommandeur der dort stationierten US- und UN-Truppen sowie der südkoreanischen Streitkräfte (mit Ausnahme der präsidialen Leibgarde) - als Oberbefehlshaber in einem fremden Land residiert. Alle anderen Generäle, die ein regionales Oberkommando, beispielsweise das der pazifischen Region, ausüben, haben ihr Hauptquartier in Washington.

Während sich das innerkoreanische Verhältnis langsam verbessert, bleibt Nordkorea trotz intensivierter politischer Avancen - so existieren seit dem 1. März auch zwischen der Volksrepublik und der Bundesrepublik Deutschland offiziell diplomatische Beziehungen auf Botschafterebene - international geschnitten, wenn nicht geächtet. Vor allem der Rückfall in die alte Konfrontationspolitik und die Neukonzeption der US-amerikanischen Militärpolitik, am 25. Mai in der US-Marineakademie in Annapolis von Präsident Bush skizziert, drohen den Friedensprozeß in Korea unter die militärstrategischen Räder geraten zu lassen.

Im Erscheinungsbild, durch ideologische Massenkampagnen und die permanente mediale Überhöhung des »Geliebten Führers« Kim Jong Il erinnert die Demokratische Volksrepublik Korea, erst recht ihren Monumentalbauten in der Hauptstadt Pjöngjang, den Außenstehenden an die Große Proletarische Kulturrevolution in der VR China gegen Ende der sechziger Jahre. Eine bizarre Irritation, die dazu beiträgt, daß das Land für westliche Beobachter, Analysten und Politiker bleibt, was es für sie seit seiner Gründung am 9. September 1948 war: bestenfalls Terra incognita, in der Regel jedoch ein »Archipel Gulag im Fernen Osten«, ein »wirtschaftlich bankrottes Regime«, das sich nach außen als »unberechenbarer Schurkenstaat« gebärdet und im Innern den Hungertod von Zehntausenden seiner Untertanen billigend in Kauf nimmt.

So hat der Kalte Krieg nicht nur bestimmte Wahrnehmungen und Projektionen geprägt. Auch die postkommunistischen Paradigmen vom »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) und dem »Zusammenprall der Kulturen« (Samuel P. Huntington) implizieren die - aus westlicher Perspektive verwerfliche - Lernresistenz eines Landes, dem der Eintritt in den Zustand des Geschichtsendes noch bevorsteht und das gleichzeitig Teil der vermeintlich aggressiven »konfuzianisch-islamischen Connection« ist.

Feindbilder allerorten

Vor sieben Jahren, im Sommer 1994, hatte es zeitweilig den Anschein, als stünde die koreanische Halbinsel an der Schwelle eines neuerlichen militärischen Konflikts. In den Städten Südkoreas heulten in gewohnt regelmäßigen Abständen Alarmsirenen auf und wurden vermehrt Luftschutzübungen durchgeführt. In einigen Vierteln der Metropole Seoul kam es zu Hamsterkäufen - vor allem bei Instant-Nudelgerichten. Kommentatoren großer US- amerikanischer Tageszeitungen beschworen die Gefahr des »nuklearen Gangsters« Pjöngjang herauf, während die Endlosbilder von CNN das innenpolitische Klima aufheizten und allerorten Verunsicherung schürten. Nordkorea, so die Botschaft, sei nunmehr imstande, in seinem Kernkraftkomplex Yongbyon waffenfähiges Plutonium zu erzeugen, eigene Atomwaffen zu produzieren und gefährde somit akut die Sicherheit und den Frieden auf der Halbinsel und in ganz Ostasien.

Pjöngjang reagierte prompt und in der ihm eigenen Manier. Mit dem Verweis auf die andauernde US-Truppenpräsenz in Südkorea und regelmäßige gemeinsame südkoreanisch-US- amerikanische Truppenmanöver zu Lande und zur See feuerte es propagandistische Breitseiten gegen die »USA- Kriegstreiber« und ihre »Marionetten in Seoul«. Auffällig mäßigend reagierte damals die südkoreanische Regierung: Über die US-Vertretung in Seoul bat sie Washington um eine Entschärfung der Situation.

Ausgerechnet auf dem Höhepunkt dieser prekären Situation zeichnete sich - paradox wie vieles auf der koreanischen Halbinsel - eine Entspannung mit weitreichenden Folgen ab. Erstmalig seit dem verheerenden Koreakrieg waren die Protokollchefs in Seoul und Pjöngjang - teils eingefädelt vom US-amerikanischen Expräsidenten Jimmy Carter - damit befaßt, ein Treffen der damaligen Präsidenten Kim Young Sam und Kim Il Sung vorzubereiten. Der dreijährige Krieg hatte ein Ausmaß an Zerstörung angerichtet, daß US- Luftwaffengeneräle in Korea keine Angriffsziele mehr ausmachen konnten. Für Carter J. Eckert, Direktor des Harvard Center for Korean Studies, war die seitdem traumatisch nachwirkende »permanente Belagerungsmentalität« der Nordkoreaner verständlich: »Praktisch die gesamte Bevölkerung«, so Eckert in einem Anfang Februar 1996 in Seoul gehaltenen Vortrag über die Perspektiven des koreanischen Vereinigungsprozesses, »lebte und arbeitete drei Jahre lang in künstlich angelegten unterirdischen Bunkern, um den ständigen Angriffen der US- Bomber zu entgehen, von denen jeder - aus der Sicht der Nordkoreaner - ein Atombombe tragen konnte.«

Inmitten der Vorbereitungen des ersten Gipfeltreffens beider koreanischer Staatschefs starb Mitte Juli 1994 plötzlich der »Große Führer« Kim Il Sung. Washington reaktivierte wegen Yongbyon den Vorwurf des »Schurkenstaates«, während hochdotierte Analysten diverser Denkfabriken, von der Londoner Economist Intelligence Unit bis hin zu Experten im Washingtoner State Department, Nordkorea als Hort ebenso erbitterter wie unkalkulierbarer Diadochenkämpfe ausmachten und dem Land eine rasche Implosion wie in der Sowjetunion und Osteuropa prophezeiten. Im Dezember 1996 ging der damalige CIA-Direktor John Deutch vor dem Geheimdienstausschuß des US-Senats von folgendem Dreier- Szenario aus, das binnen der nächsten zwei oder drei Jahre entschieden werde: a) Nordkorea marschiert entweder in den Süden ein, und es kommt erneut zu einem Krieg oder b)das Land kollabiert bzw. implodiert wegen seiner immensen Wirtschaftsprobleme oder c) es kommt irgendwann zu einer friedlichen Regelung und Wiedervereinigung mit dem Süden. (Reuters, 11. Dezember 1996)

Pjöngjang demonstrierte aufs neue, daß Totgesagte länger leben. Am 13. Juni 2000 gar genoß seine Führung als Gastgeber des ersten innerkoreanischen Gipfels den geschichtsträchtigen Moment, daß die Staatschefs beider Teilstaaten, Kim Dae Jung und Kim Jong Il- offiziell zwar noch im Kriegszustand - Freundlichkeiten per Handschlag austauschten, über Familienzusammenführung und den Ausbau bilateraler Wirtschaftsbeziehungen redeten sowie regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister und schließlich die gemeinsame Teilnahme ihrer Sportteams an den bevorstehenden Olympischen Sommerspielen in Sydney vereinbarten. Ein veritabler Durchbruch, der mit ausschlaggebend war, Südkoreas einst prominentesten politischen Gefangenen und Staatsfeind Nummer eins für seine seit Frühjahr 1998 vis-à-vis dem Norden praktizierte »Sonnenscheinpolitik« im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen.

Temporäre Freundbilder

Wenngleich die Clinton-Administration in unregelmäßigen Abständen an dem Vorwurf des »Schurkenstaats« festhielt, versuchte sie dennoch seit Ende 1994 hinter den Kulissen einen Modus vivendi mit Pjöngjang zu finden und mittels diskreter politisch-diplomatischer Avancen das US- amerikanisch-nordkoreanische Verhältnis zu normalisieren. Ein Prozeß, der in dem Maße an Konturen gewann, wie Seoul seit dem Amtsantritt Kim Dae Jungs im Februar 1998 auf eine - innenpolitisch keineswegs unumstrittene - »Sonnenscheinpolitik« gegenüber Pjöngjang setzte. So unterschiedlich die damit verbundenen Überlegungen und Erwartungen in Washington und Seoul waren, so sehr einte sie in der Endphase der Clinton-Regierung um die Jahreswende 2000/2001 das politische Kalkül, ein halbwegs stabiles nordkoreanisches Regime, dem in Notzeiten materiell und finanziell unter die Arme gegriffen werde, böte am ehesten die Gewähr dafür, das regionale Sicherheits- und Ordnungsgefüge dauerhaft zu festigen.

Seoul war - zumindest in den letzten Jahren - mitnichten ein Befürworter der »Schurkenstaat«-Theorie. Aus pragmatischen und finanziellen Erwägungen: Seitdem nämlich klar war, welch exorbitante Kosten dem Land aufgebürdet würden, verfolgte es eine (Wieder-)Vereinigungspolitik analog dem deutschen Beispiel, zerstob die frühere Euphorie der politischen Eliten in Seoul, man werde sich aufgrund der haushohen wirtschaftlichen Überlegenheit früher oder später den Norden einverleiben können. (Tatsächlich übertraf Mitte der neunziger Jahre das Bruttosozialprodukt Südkoreas dasjenige des Nordens um etwa das 20fache, während dieses Verhältnis in Deutschland zum Zeitpunkt der Vereinigung nur etwa acht im Westen zu eins im Osten betrug.) Da Südkorea spätestens seit der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise 1997 selbst in Schwierigkeiten geriet und die ökonomischen Erfolge der vergangenen Jahrzehnte nicht gefährdet werden sollten, erwies sich der seinerseits gebeutelte Norden als Kröte, die jetzt niemand schlucken mochte. Wenn die Vereinigung als große Herausforderung der Schaffung einer neuen Nation begriffen wird, in der sich die Menschen zweier langjährig feindlicher Lager versöhnen, dann ist die alleinige Logik des Kapitals nicht ausreichend. In Korea wird deshalb sehr aufmerksam verfolgt, wie schwierig sich im Prozeß der deutschen Vereinigung ein echtes Verständnis zwischen Menschen mit höchst unterschiedlichen Biographien herstellt.

Rajin-Sonbong

Südkorea befürwortet gegenseitige Besucherprogramme von Wirtschaftsmanagern und Politikern und will auf keinen Fall abseits stehen, wenn das von Pjöngjang bereits vor Jahren verabschiedete Joint-venture-Gesetz und das mit Unterstützung der VR China und der UN- Entwicklungsbehörde (UNDP) aufgebaute Projekt der Rajin- Sonbong, der Freien Wirtschafts- und Handelszone, Gestalt annimmt. Im äußersten Nordosten der Volksrepublik - im Grenzgebiet zu Rußland und der VR China - gelegen, soll hier einmal ein regionales Wirtschaftsdreieck entstehen, von dem sich alle Beteiligten, einschließlich südkoreanischen Kapitals mit entsprechendem technologischen Know-how, eine Belebung des Handels und des Dienstleistungssektors versprechen. Ähnliche Wirtschaftssonderzonen sollen auch in Nampo (Westküste), Wonsan (Ostküste), im nordkoreanisch- chinesischen Grenzort Sinuiju sowie im Diamantgebirge ausländisches Kapital anlocken und das Land in staatlich reglementierten Schritten der Außenwelt öffnen. Flankiert wird dies mit einer Lockerung von Außenhandelskontrollen und größerer Autonomie für das Management in Außenhandelsbetrieben. Darüber hinaus toleriert Pjöngjang jetzt auch »soziale kooperative Organisationen«, gesteht seinen Bürgern das Recht zu, in kleinem Umfang privat Landwirtschaft zu betreiben und sich zusätzliche Einkommen durch legale Privatgeschäfte zu verschaffen. Voraussetzung ist bei alledem freilich eine relativ stabile politische Lage und Regierung.

Nordkorea erhofft sich im Gegenzug fortgesetzte Hilfe für die seit Jahren infolge verheerender Naturkatastrophen von Hungersnot geplagte Bevölkerung - eine wirtschaftlich prekäre Situation, die erschwert wird durch notorisch unausgelastete, überdies veraltete Produktionsanlagen, technologische Defizite in zahlreichen industriellen Sektoren sowie die Umstellung des Handels auf Devisenbasis mit den beiden wichtigsten Partnern und Energielieferanten, Rußland und der VR China. Die Krise der Volksrepublik ist im wesentlichen ökonomischer, keineswegs politischer und partiell ideologischer Natur, da seine Juche-Variante eines Autarkiekonzepts angesichts der angespannten Wirtschaftslage und anhaltender Engpässe bei der Versorgung der Bevölkerung an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.

Macht konsolidiert

Die politische Kontinuität der jetzt um den Sohn des früheren Staats- und Parteichefs gruppierten Führungsschicht, in der die militärische und zivile Machtbalance zwischen alten Partisanen, im Ausland geschulten Kadern und autochthonen - im Lande selbst und dort vorrangig an der Kim-Il-Sung- Universität ausgebildeten - Führungskräften austariert bleibt, bewahrte das nordkoreanische Regime nicht nur vor einer Implosion, sondern stärkte es gar. Erstmals seit dem Tod Kim Il Sungs (Juli 1994) trat Anfang September 1998 das wenige Wochen zuvor neugewählte Parlament - die aus 687 Abgeordneten gebildete Oberste Volksversammlung (OVV) - zusammen, beendete damit Spekulationen über ein lähmendes Machtgerangel und einen innenpolitischen Stillstand und stellte schließlich mit der Verabschiedung wegweisender Beschlüsse die Weichen für den Aufbau des für die Kim-Jong-Il-Ära propagierten »starken und gedeihenden Staates« (kangsòng taeguk).

Offensichtlich hat Kim Jong Il seine politische Legitimität unter Berufung auf die Fortführung der Lehren seines Vaters zu stärken vermocht und damit einen langjährigen, zielstrebigen Ausbau der eigenen Machtbasis abgeschlossen, der mit Parteiaufgaben als Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der Partei der Arbeit Koreas (PdAK) in den Bereichen Kunst, Kultur und Propaganda in den siebziger und achtziger Jahren begonnen hatte. Im Dezember 1991 war Kim Jong Il bereits zum Oberkommandierenden der Volksarmee ernannt worden und im April 1993 zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungskomitees avanciert. Auf der Basis der 1992 geänderten Verfassung kontrolliert und kommandiert er mithin die gesamten Streitkräfte der Volksrepublik. Generalsekretär der PdAK wurde Kim formell dagegen erst im Oktober 1997.

US-Flip-flop-Diplomatie

Der Posten des Präsidenten, des Staatsoberhauptes also, blieb nach dem Tode Kim Il Sungs unbesetzt und wird gemäß der von der OVV 1998 erneut revidierten Verfassung auch künftig vakant bleiben. Statt dessen spricht die neu in die Verfassung aufgenommene Präambel von Kim Il Sung als »ewigem Präsidenten« Nordkoreas, womit faktisch dieses vormals höchste Staatsamt abgeschafft wurde. Eine Gemeinschaftsanalyse der Russischen Diplomatischen Akademie in Moskau und des Monterey Institute of International Studies in den USA über die Lage in Nordkorea nannte dafür zwei - durchaus plausible - Gründe: Kim Jong Il nutzte damit einerseits die Treue der Nordkoreaner zu seinem Vater für die Festigung seiner eigenen Führung und ist zum anderen der von ihm wenig geschätzten repräsentativen Verpflichtungen und öffentlichen Empfänge enthoben. Dafür soll der Vorsitzende des Präsidiums der OVV, Kim Yong Nam, verantwortlich sein, der nach langjähriger Mitarbeit in der Internationalen Abteilung des ZK der PdAK und als Außenminister nunmehr »den Staat repräsentiert«.

Insgesamt sprechen all diese Entwicklungen eher für eine Konsolidierung der politischen Herrschaft Kim Jong Ils nach dreijähriger Trauerphase über den Tod seines Vaters denn für eine Destabilisierung des Regimes. Kim Dae Jungs »Sonnenscheinpolitik« wäre unter instabilen Bedingungen im Norden undenkbar gewesen bzw. rasch im Sande verlaufen. Gefährdet wird hingegen Kims Politik und eine dauerhafte Entspannung in Korea, von der Aushandlung eines Friedensvertrages ganz zu schweigen, ausgerechnet durch die »Flip-flop«-Diplomatie seitens Südkoreas langjährig engstem Verbündeten - den USA.

Die zur Entschärfung der sogenannten Atomkrise am 21. Oktober 1994 in Genf von den USA und Nordkorea getroffenen Rahmenvereinbarungen (Agreed Framework) über den Umbau des nordkoreanischen Nuklearprogramms in Yongbyon sehen im Gegenzug die Lieferung von zwei 1 000- Megawatt-Leichtwasserreaktoren bis zum Jahr 2003 vor. Bis zu deren Inbetriebnahme haben sich die USA verpflichtet, an Pjöngjang jährlich 500 000 Tonnen Schweröl und Kohle im Gesamtwert von umgerechnet knapp 4,6 Milliarden US-Dollar zu liefern. Vereinbart wurde überdies die Einrichtung von Liaison-Büros in den jeweiligen Hauptstädten und die gemeinsame Suche nach den Überresten der im Koreakrieg gefallenen amerikanischen Soldaten. Mit der Umsetzung der technischen und finanziellen Hilfslieferung wurde ein Jahr später (1995) das eigens zu diesem Zweck gegründete Nuklearkonsortium Korean Peninsula Energy Development Organisation (KEDO) betraut, dem ursprünglich die drei Gründungsmitglieder und Hauptfinanziers USA, Japan und Südkorea, das den Löwenanteil trägt, angehörten. Zwischenzeitlich ist u.a. auch EURATOM durch ein Assoziierungsabkommen beigetreten, die die KEDO mit 75 Millionen Euro unterstützt.

Clintons Kehrtwende

Eingebettet war dieser Deal in die Aufnahme von Vierergesprächen zwischen den USA, der VR China sowie Nord- und Südkorea - ein mühsamer diplomatisch-politischer Prozeß, der mehrfach aufgrund spektakulärer Aktionen Pjöngjangs unterbrochen wurde und Rückschläge erfuhr - beispielsweise durch das Stranden eines nordkoreanischen U- Bootes Mitte September 1996 an der südkoreanischen Küste und die darauffolgende Suche nach den 26 Besatzungsmitgliedern sowie der erfolgreiche Abschuß einer nordkoreanischen Rakete vom Typ Taepo Dong 1 über japanischem Territorium Ende August 1998.

Zwar entschuldigte sich Pjöngjang Ende 1996 für den U- Boot-Vorfall und sicherte in einer diplomatischen Note zu, daß sich derartiges nicht wiederholen wird. Doch zwischenzeitlich verdächtigten die USA Nordkorea, nördlich von Pjöngjang in Kumchangri Bauarbeiten für eine unterirdische Anlage durchzuführen, die der Produktion von Plutonium zu militärischen Zwecken diene. Ein Vorwurf, den Nordkorea bestritt und der die zeitgemäße Realisierung der im Agreed Framework bilateral ausgehandelten Vertragspunkte gefährdete und auch die Beziehungen Nordkoreas zum Süden belastete.

Schließlich willigte die nordkoreanische Regierung im März 1999 ein, US-Inspektoren den Zutritt in Kumchangri zu gestatten, nicht jedoch ohne zuvor eine weitere US- Hilfslieferung von 100 000 Tonnen Nahrungsmitteln und zusätzlich 200 000 Tonnen seitens des im Lande selbst engagierten Welternährungsprogramms (WFP) erstritten zu haben. Überhaupt schien gerade dieses von Nordkorea mehrfach praktizierte Junktim - Nahrungsmittel im Tausch für Inspektionen- aus seiner Sicht recht erfolgreich zu sein, während dies im amerikanischen Kongreß zunehmend Mißfallen erregte und sich zeitweilig die Stimmen mehrten, eine härtere Gangart gegenüber der Volksrepublik einzuschlagen.

William Perry, ehemaliger (republikanischer) US- Verteidigungsminister und einer der Architekten des Agreed Framework - im Rahmen einer intensiven Ostasien-Shuttle- Diplomatie damit betraut, Präsident William Clinton Richtlinien künftiger US-amerikanischer Nordkorea-Politik zu präsentieren -, kam in seinem am 12. Oktober 1999 veröffentlichten Report zu dem Ergebnis, daß das Agreed Framework unbedingt Bestand haben müsse, wenngleich kooperative und konfrontative Elemente fortan stärker aufeinander abgestimmt werden sollten. Der an der Universität Chicago lehrende Historiker und Korea-Kenner Bruce Cumings merkte dazu in einem Aufsatz mit dem Titel »Kehrtwende in den USA - Washingtons Spannungspolitik in Ostasien« an: »Die sechsmonatige Arbeit (Perrys und seiner Kollegen - R.W.) schloß mit der Empfehlung, die Verhandlungen mit Pjöngjang zu intensivieren. Der Neuansatz mündete in ein vorläufiges Abkommen über die nordkoreanischen Raketen, das den Vereinigten Staaten wie der gesamten asiatisch-pazifischen Region große Vorteile brachte. Damals schien Nordkorea bereit, die Produktion, Stationierung und Ausfuhr aller Raketen mit einer Reichweite von über 500 Kilometern einzustellen. In beiden strategischen Fragen - in der Atompolitik und bei den ballistischen Raketen - schien man einer Vereinbarung näher zu kommen.« (Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe, Mai 2001)

Die Bedeutung des Perry-Reports lag darin, daß er auf der Grundlage intensiver, für sämtliche Protagonisten in der Region das Gesicht wahrender Gespräche verfaßt wurde, die ursprünglich angenommene Prämisse eines kurz- bis mittelfristigen Zusammenbruchs Nordkoreas revidierte, Kim Dae Jungs »Sonnenschein-« bzw. Nordpolitik ausdrücklich befürwortete und das seit dem Koreakrieg wichtigste US- amerikanische Entspannungssignal aussandte. Konkretes Ergebnis dieses Berichts war ein für beide Seiten zeitweilig immerhin vorteilhaftes Arrangement; erklärte sich Nordkorea zum Verzicht auf weitere Raketentests bereit, lockerte Washington im Gegenzug einige seiner Wirtschaftssanktionen und setzte sich für die Fortführung und Aufstockung von Hilfslieferungen an die Volksrepublik ein.

Albright-Besuch

Dergestalt in seiner Politik bestärkt, suchte Pjöngjang gleichzeitig die außenpolitische Offensive und bat in diplomatischen Noten mehrere westeuropäische Regierungen um die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen mit Nordkorea. Italien und Kanada reagierten bereits Anfang 2000 positiv, während Berlin, London, Madrid und Brüssel noch im selben Jahr solche Beziehungen als flankierende Maßnahme des seit Sommer in Schwung geratenen innerkoreanischen Entspannungsprozesses binnen weniger Monate in Aussicht stellten und dies ausdrücklich auf dem dritten, vom Thema Nordkorea beherrschten Europa-Asien-Gipfel (ASEM) der Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Länder und zehn Staaten Ost- und Südostasiens in Seoul Mitte Oktober 2000 bekräftigten.

In Peking und Seoul wurde dieser Schritt ausdrücklich begrüßt. Während sich Rußland mit Präsident Putins Besuchen in Nord- und Südkorea - im Sommer 2000 bzw. Anfang dieses Jahres - als vormaliger Verbündeter Pjöngjangs und seit Beginn der neunziger Jahre enger Handelspartner Seouls auf der koreanischen Bühne zurückmeldete, geriet einzig Japan ins Hintertreffen. Noch immer unterhält Tokio keine offiziellen Beziehungen zu Pjöngjang und stocken entsprechende Verhandlungen als Folge der spürbaren Hinterlassenschaft Japans als einstige Kolonialmacht (1910 bis 45). Erst jüngst haben japanische Gerichte erneut die Klagen koreanischer »comfort women«- von der japanischen Soldateska während des Krieges zur Prostitution gezwungener Frauen - abgewiesen. Und selbst die neuesten Schulbuchausgaben in Japan sorgen wegen Geschichtsklitterung und Verharmlosungen des Militarismus in den dreißiger und vierziger Jahren für Mißstimmung und Protest.

Zweifelloser Höhepunkt der Pjöngjanger Außenpolitik und Diplomatie im vergangenen Jahr war der Besuch von US- Außenministerin Madeleine Albright am 23./24. Oktober, womit erstmalig in der Geschichte beider Länder ein derart hochrangiger Repräsentant der US-Regierung in der Volksrepublik weilte. Wäre Präsident Clinton in den letzten Tagen seiner Amtszeit nicht durch die Bemühungen um Deeskalation des palästinensisch-israelischen Konflikts und das sich daheim grotesk hinziehende Wahldebakel auf dem falschen Fuß erwischt worden, hätte ihn möglicherweise seine letzte Stippvisite ins Ausland nach Pjöngjang verschlagen, wo bereits entsprechende Vorbereitungen im Anschluß an den Albright-Besuch angelaufen waren.

Bushs böses Spiel

Was zu Beginn des Jahres 2001 vielversprechend auf einen behutsamen, doch kontinuierlichen Entspannungsprozeß auf der koreanischen Halbinsel hindeutete, wurde mit dem Amtsantritt George W. Bushs polternd beiseite geschoben. Selten ist ein Staatsgast, dazu noch ein gerade erst mit dem Friedensnobelpreis geehrtes Staatsoberhaupt, dermaßen vorgeführt und brüskiert worden, wie das Anfang März Kim Dae Jung widerfuhr. Anläßlich dieses ersten Staatsbesuchs eines asiatischen Regierungschefs beim neuen Chef im Weißen Haus nannte Präsident Bush Nordkorea am 7. März ohne Umschweife einen Bedrohungsfaktor in Ostasien, mit dem weitere Gespräche ausgesetzt und möglicherweise erst nach einer kompletten Neubestimmung der US- amerikanischen Asienpolitik wieder aufgenommen würden. Als er dann auch noch den innerkoreanischen Dialog ernsthaft in Zweifel zog und signalisierte, die USA würden dessen Unterstützung vorerst einstellen, ließ das den südkoreanischen Staatsgast als naiven Eiferer und seine Entourage wie begossene Pudel dastehen. Noch einen Tag zuvor (am 6. März) hatte der neue Außenminister Colin Powell den noch zuversichtlichen Gästen aus Seoul versichert, sein Land werde die »vielversprechenden Elemente« der Nordkorea-Politik seiner Vorgängerin weiterführen und da anknüpfen, wo die Clinton-Administration aufgehört habe.

Peinlich für die südkoreanische Delegation war überdies, daß sie nolens volens in die Debatte um das von Präsident Bush propagierte Raketenabwehrsystem (NMD) als Kern einer neuen US-amerikanischen Verteidigungsstrategie hineingezogen wurde und Bushs nationale Sicherheitsberaterin, Condoleezza Rice, die Wiederaufnahme von US- amerikanisch-nordkoreanischen Raketentests trotz des 1999 von Pjöngjang zugesagten Moratoriums schlichtweg für »kontraproduktiv« hielt. Kim Dae Jung bewahrte gute Miene zum bösen Spiel, äußerte sein Verständnis für die Position Washingtons, während die NMD-Debatte seine »Sonnenscheinpolitik« zusätzlich trübt und Seoul um die Ablehnung des NMD seitens seiner engen Handelspartner Rußland und der VR China weiß. Pjöngjang brandmarkte im Staatsrundfunk und in der Rodong Shinmun, dem Zentralorgan der PdAK, die USA als eine »Nation von Kannibalen« und warnte Washington vor provokativen Aktionen: »Sollten die US-Imperialisten die Konfrontation wagen, wird ihnen tausendfach Rache zuteil«.

Seitens der USA ist absehbar von keiner neuen Bewegung in der Nordkorea-Politik auszugehen. Statt dessen soll im Rahmen der neu formulierten US-Militärdoktrin eine Konfrontationspolitik reaktiviert werden, die im Kern eine Fokussierung auf Asien vorsieht. Die bisherige Doktrin, wonach die US-Streitkräfte gleichzeitig einen neuen Golfkrieg führen und eine Invasion Nordkoreas im Süden abwehren können, soll dahingehend revidiert werden, Europa in der Golfregion und die südkoreanischen Streitkräfte auf der Halbinsel zu »ermutigen«, ihrerseits eigene Krisentruppen bereitzustellen bzw. sich auf einheimische Soldaten zu verlassen. Eine Abkehr vom »Zwei-Kriege-Prinzip« könnte eine drastische Verkleinerung, Umrüstung und strategische Neuorientierung der Streitkräfte einleiten. Da nunmehr die VR China - und das nicht erst seit der Notlandung eines US- Spionageflugzeugs auf der chinesischen Insel Hainan Anfang April- als »aufstrebende Macht« (C. Rice) oder »strategischer Gegner« (G.W. Bush) eingestuft wird, könnte das im Pentagon eine Umwandlung der Armee von einer Land- in eine Luft- und Seestreitmacht bewirken, die mit Tarnkappenbombern und Raketen über Tausende von Meilen hinweg Krieg zu führen vermöchte, ohne unbedingt auf Stützpunkte in der Nähe des Kriegsschauplatzes angewiesen zu sein. Bleibt abzuwarten, wie die Bush-Administration die beiden damit verbundenen größten Probleme - immense Kosten bei der Finanzierung neuer und der Verschrottung alter Waffensysteme sowie die dann strategische Bedeutungslosigkeit des Heeres- in den Griff bekommen will.

EU als Hoffnungsträger?

Eine aktive Nordkorea-Politik ist folglich von Washington nicht beabsichtigt. Japans neuer Ministerpräsident Junichiro Koizumi ist zu kurz im Amt, um schon jetzt erkennen zu lassen, ob sich seine Regierung über wirtschaftspolitische Problemlösungen hinaus ernsthaft für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Nordkorea engagiert. Peking ist und bleibt Nordkoreas engster Verbündeter, während Rußland geneigt ist, im Falle der Umsetzung der neuen Pentagon-Strategie den Schulterschluß mit China und Nordkorea zu suchen. Die größten Schwierigkeiten hat augenblicklich Kim Dae Jung. War ohnehin der stockkonservative bis reaktionäre Teil der südkoreanischen Opposition von Anfang an gegen seine »Sonnenscheinpolitik« eingestellt oder stand ihr zumindest sehr skeptisch gegenüber, so sehen sich diese Kräfte durch Bushs Nordkorea-Politik vollauf bestätigt. Von europäischer Seite waren auf dem ASEM-Gipfel in Seoul nebst uneingeschränkter Anerkennung der Politik Kim Dae Jungs auch interne Differenzen bezüglich der Geschwindigkeiten einzelner EU-Länder gegenüber Pjöngjang deutlich geworden.

Doch der Anfang Mai erfolgte Besuch einer hochrangigen Delegation der Europäischen Union unter Leitung des schwedischen Ministerpräsidenten und EU-Ratsvorsitzenden Göran Persson in Nord- und Südkorea ist dort zumindest als Goodwill-Geste willkommen geheißen und von Pjöngjang genutzt worden, nochmalig seine weitere Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Ob künftig die EU, nachdem Mitte Mai nun auch die Europäische Kommission grünes Licht gab, diplomatische Beziehungen zu Pjöngjang aufzunehmen, als Gegengewicht zu den USA politisch- diplomatisch die Initiative auf der Halbinsel ergreift, ist im Moment nicht erkennbar. Vielleicht auch gar nicht realistisch, implizierte dies doch ein Wagnis, das kein EU-Land in den vergangenen Jahren eingegangen ist - die kritische Distanz zu Washington.

* Dr. Rainer Werning, von 1986 bis 1995 Herausgeber und Chefredakteur vom Korea Forum (Asienhaus/D-Essen), hat Süd- und Nordkorea seit 1970 mehrfach bereist und ist u. a. Tutor für Nordkorea-Landeskunde bei der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE)

Aus: junge welt, 29. und 30. Mai 2001

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