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Auf dem Schachbrett

Ein lesenwertes Buch über die Geschichte Koreas seit 1910

Von Arnold Schölzel *

Ihr Band »Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land« solle ein »anderes« Buch sein als herkömmliche, schreiben die Autoren Du-Yul Song und Rainer Werning in der Einleitung. Sie begründen ihren Anspruch zunächst mit ihrem eigenen wissenschaftlichen und politischen Engagement: Der Soziologe Song (geb. 1944) promovierte 1972 bei Jürgen Habermas in Frankfurt am Main über die Bedeutung der asiatischen Welt bei Hegel, Marx und Max Weber, wurde Professor in Münster und setzte sich über Jahrzehnte für die Verständigung zwischen Nord- und Südkorea ein. Obwohl er die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, wurde er bei seiner ersten Einreise in Südkorea seit 37 Jahren 2003 verhaftet. Er war zu Vorträgen eingeladen und sollte die Ehrendoktorwürde der Chonnam-Universität in Gwangju entgegennehmen. Nach folterähnlicher Haft und vom Geheimdienst gestreuten Behauptungen, er sei Mitglied des Politbüros der in Nordkorea regierenden Partei der Arbeit, verurteilte ihn ein Gericht auf der Grundlage des grotesk-brutalen Nationalen Sicherheitsgesetzes aus dem Jahr 1948 zu sieben Jahren Haft. Beweise waren nicht nötig. Aufgrund internationaler Proteste wurde er im Juli 2004 »auf Bewährung« aus der Haft entlassen. Werning – jW-Lesern als Autor bekannt – verfolgt seit 1980 die Entwicklung auf der Halbinsel häufig aus nächster Nähe.

Kulminationspunkte

Um es gleich zu sagen: Es ist ein »anderes« Buch geworden. Die »Erfolgsgeschichten über Südkorea, das mit Hyundai-Autos und Samsung-Handys« die Welt beliefere, und »Gruselgeschichten über Nordkorea, die nur Hungersnöte und das Hantieren eines Diktators mit Atombomben zum Thema haben«, sind nicht sein Gegenstand. Der ergibt sich aus dem Verlauf der jüngsten Geschichte: Von 1910 bis 1945 japanische Kolonie, danach im Süden unter US-Herrschaft, seit 1948 geteilt und seit dem Korea-Krieg 1950 bis 1953 ein durch eine »Mauer« getrenntes Land. Das Kalte-Kriegs-Sicherheitsgesetz gilt trotz wirtschaftlichen Erfolges und liberalen Anstrichs im Süden bis heute. Der Norden befindet sich seit 1990 wirtschaftlich in einer schweren Dauerkrise. Er bekenne sich – so die Autoren – offiziell zu einem »Sozialismus eigener Prägung«, praktiziere aber tatsächlich eine Politik, in der sich »neokonfuzianische Verhaltenskodices, rigider Etatismus, Personenkult und Glorifizierung des Militärischen auf eigentümliche Weise verschränken.«

In sechs Kapiteln werden die historischen Kulminationspunkte des vergangenen Jahrhunderts knapp und gut lesbar vorgestellt – bis hin zur »Sonnenscheinpolitik« der Jahre 1998 bis 2008 und einem Abschnitt, in dem die Chancen für eine dauerhafte Friedensregelung auf dem Schachbrett der Interessen von China, Japan, Rußland und USA beleuchtet werden. Im Nachwort schlägt Song seinen »immanent-kritischen« Forschungsansatz für Nordkorea jenseits von Totalitarismus- oder Konvergenztheorie vor, gegen »Selbstgefälligkeit und Besserwisserei«. Jeder Textteil enthält Listen weiterführender Literatur, der Anhang Chronologien sowie Landesübersichten für Nord und Süd.

Die journalistisch-wissenschaftliche Darstellung (häufig ergänzen Dokumente von Augenzeugen die Autorentexte) bewirkt bei der Lektüre zweierlei: Intellektuelle Spannung wegen der Konzentration auf Wesentliches einerseits, Erschütterung andererseits. Denn: Das 20. Jahrhundert kennt viele geschundene Völker, das koreanische gehört zu den am schlimmsten unterdrückten.

Massaker

Die Autoren referieren nüchtern die Verbrechen Japans und der USA in ihrer Kolonie. Weder aus Tokio noch aus Washington kam dazu jemals ein Wort der Entschuldigung. Hier einige Beispiele: Koreanische Sprache und Eigennamen waren den Bewohnern der japanischen Kolonie verboten. Bis zu 120000 koreanische Frauen wurden zwischen 1932 und 1945 fürs Militär des Tenno zur Prostitution gezwungen. Ende der 30er Jahre wurden insgesamt über 4,5 Millionen Koreaner dienstverpflichtet und zwangsrekrutiert. Von den etwa 400000 Todesopfern der Atombombenabwürfe auf Japan waren etwa ein Viertel koreanischer Herkunft. Ein Mahnmal für sie in Hiroshima befand sich bis vor wenigen Jahren außerhalb des dortigen Friedensparks.

Und nach 1945: Anfang April 1948 wurde ein Aufstand auf der südkoreanischen Insel Jeju gegen die aus Washington eingeflogene Regierung mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Das kostete bis zu 60000 Menschen das Leben. US-Soldaten, denen laut damaligen Korrespondentenberichten Koreaner als »schlitzäugige Untermenschen«, galten, verübten zu Beginn des Korea-Krieges 1950 Massaker, die in der offiziellen Geschichtsschreibung zumeist unterschlagen werden. Die US-Luftwaffe warf damals über Korea mehr Napalm ab als wenige Jahre später in Vietnam. Noch 1980 veranstalteten die südkoreanischen Machthaber mit Billigung der USA ganz in dieser Tradition in Gwangju eine Orgie der Vernichtung, der Hunderte Menschen zum Opfer fielen. Wer wissen will, auf was heutige Demokratieexporteure und Menschenrechtskrieger ihre Macht stützen, sollte dieses Buch lesen.

Du-Yul Song/Rainer Werning: Korea - Von der Kolonie zum geteilten Land. ProMedia Verlag, Wien 2012, 208 Seiten, 15,90 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 31. Dezember 2012

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